Mittwoch, 31. August 2011

Unser Prominenter Junge (Teil 1)

Tonight I cried
She said wait
I’ll go with you
through the forests through the snow
kept waiting and waiting and waiting so badly so long
Now she’s gone
through the forests through the snow
with everyone
but me

Crying in the void tears
don’t drop down can’t get rid of them
I’m swimming
swimming in my own womb’s amniotic fluid
it’s okay don’t wait don’t stay but

tonight I cried
He said stay
I’ll be with you
understanding and defending
kept staying and staying and staying so stupidly long
Now he’s apart
understanding and defending
everyone
but me

forsaken
forsaken
forsaken
left alone

***

Schon seit dem Morgen ist das ganze Haus auf den Beinen. Es wird geputzt und gewaschen, gekocht und gebacken. Der Hausherr selbst richtet das Gästezimmer her, Marmara putzt die Kerzenleuchter, Irene staubt die Wände ab und hängt neue Bilder auf. Auf dem Ehrenplatz rechts über dem Esstisch blickt jetzt das hübsche, etwas leere Gesicht, in dem die Augen vielleicht ein wenig zu sehr glitzern, eines etwa vierzehnjährigen Jungen auf die noch imaginären Gäste herab. Er lächelt, und Irene lächelt zurück. Unser Junge! Vor acht Jahren hat er das Haus verlassen, um die Welt zu erobern. Und heute kommt Er zurück. Jetzt heißt Er nur noch: Unser Prominenter Junge.

Gegen Mittag reißt Irene sich aus der allgemeinen Aufbruchsstimmung los. Es ist ein Getuschel und Geplapper, ein Gewusel aus erhitzten Gesichter und strahlenden Augen. Jeder einzelne der Bewohner hüpft vor aufgeregter Vorfreude auf den seltenen und mittlerweile erlesenen Gast wie ein Ball durchs Haus. Ja, jetzt ist Er erlesen, Er hat die Welt erobert, und sogar die Nachbarn neiden ihnen das unverdiente Glück, einen so berühmten jungen Mann als einen der ihren empfangen zu dürfen, so als habe jeder von ihnen seinen Beitrag zu dessen Erfolg geleistet und sei nicht zufällig nur ein Hausmitglied.
Irene aber lächelt. Wenn überhaupt jemand, dann hat wohl sie in der Tat einen Anteil an Seinem Erfolg. Wer hat Ihm über die Jahre hinweg in ungezählten Briefen und Emails, in manchmal stundenlangen Telefongesprächen beigestanden durch all die Tiefen, die Seinem jetzigen Höhenflug vorausgegangen sind, und, oh, es waren mehr Tiefen als Höhen, es waren fast nur Tiefen, wer wüsste das besser als sie. Eigentlich weiß es in diesem Haus nur sie. Er weiß, was Er mir schuldet, denkt sie. Ich war immer da, wenn Er mich brauchte, und selbst dann, wenn Er mich nicht brauchte, selbst dann war ich da. Er wusste das. Er konnte sich bedingungslos auf mich verlassen. Ich war Ihm Mutter, Freundin und Ratgeberin. Und nun kommt Er heim, und wieder ist Irene die einzige im Haus, die ahnt - nein, die weiß, warum Er wirklich kommt. Zeit, den alten Rollen eine neue hinzuzufügen. Er kommt, um ihr zu sagen...
Mit gespielter Ungehaltenheit reißt Irene sich aus ihrem Tagtraum und zupft ihr blassgrünes Musselinkleid zurecht. Das kennt Er natürlich nicht; sie ist gespannt, was Er dazu sagen wird. Es steht ihr besonders gut; mit ihrem sandfarbenen Haar sieht sie darin reizend aus, auch das weiß sie. Doch sie hat jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken, sie hat noch eine wichtige Besorgung vor sich. Etwas ganz Besonderes.

Vom Bus aus muss sie noch ein ganzes Stück bis zu ihrem Verlag laufen. "Ihr" Verlag – auch davon weiß Unser Prominenter Junge noch nichts. Sie ist nicht untätig gewesen, sie war nicht nur die Unbekannte hinter dem Großen Mann, sie hat selbst Karriere gemacht, wenn auch natürlich nicht so eine atemberaubende wie Er.
Im Foyer gibt es zwei Schalter. Am linken berät ein Mann, dort drängt sich schon eine kleine Schlange. Der rechte Schalter ist leer, aber dunkel. Irene ist enttäuscht, weil sie sich anstellen muss. Da sieht sie auf einmal, dass rechts doch eine Frau hinter dem Fensterchen sitzt, und als sie sich dem Schalter nähert, geht auch das Licht drin an. Offenbar sparen sie nur Strom. Es dauert eine Weile, bevor sie ihr Anliegen vorbringen kann, denn immer wieder wird die Angestellte von drinnen gerufen, oder jemand drängt sich draußen neben Irene mit einer kurzen, doch wichtigen Frage. Als sie endlich ihr Stichwort los wird, steht die Angestellte auf, kommt heraus und führt sie durch mehrere lange Flure zu einer Bank vor einer Sporthalle. Dies sei der beste Ort, um ihr Anliegen zu bearbeiten, sagt sie. Auf weiteren Bänken hinter ihnen sitzt Publikum. Die Angestellte nimmt mit ihren Unterlagen ihr gegenüber Platz und erzählt zunächst des Längeren von Büchern anderer Verlage, die bei ihrem Verlag erscheinen.
Als sie endet, sagt Irene: "Ihr Verlag hat schon ein Buch von mir herausgegeben..."
"Nein, hat er nicht", unterbricht die Frau sie.
"Gut", wirft Irene rasch ein, "Ihr Verlag gibt selbst nichts heraus, das weiß ich doch. Aber er hat mein Buch..."
"Hat er nicht!"
"Ja, in Ordnung!" Irene wird ungeduldig. "Dann bin ich wohl die Herausgeberin oder was auch immer. Jedenfalls hat Ihr Verlag mein Buch veröffentlicht."
"Ja", lächelt die Frau und sieht sie fragend an.
"Und jetzt möchte ich gern die Dienste des Verlages in Anspruch nehmen", lächelt Irene zurück und beruhigt sich wieder.
"Ja, bitte! Welche?"
"Ich möchte eine Wellnessgymnastik kaufen und..."
"Ja, gern. Welche?"
"Also, die normale, wissen Sie? Bloß nichts Kompliziertes, Anspruchsvolles, haben Sie Erbarmen mit mir! Etwas ganz Simples für Hausfrauen!" Sie lacht, weil sie die musternden Blicke der anderen spürt. Es ist ihr etwas peinlich, das gesagt zu haben. "Und ich möchte das Ganze als Gutschein für zwei Personen."

Diesen Gutschein hat Irene mit größter Sorgfalt ausgesucht, er ist etwas ganz Besonderes. Aber Unser – nein, ihr! – Prominenter Junge ist ja auch etwas ganz Besonderes. Nun sitzt Er im Salon, umringt vom Hausstaat, und hält Hof.
"Ist Er nicht reizend?" flüstert Marmara, als sie an Irene vorbeihuscht, die gerade zur Tür hereinkommt.
Reizend! Irene verdreht die Augen und äfft Marmara im Stillen nach: "Ister nicht raiiizend?" Was für ein verstaubtes Wort!
Marmara ist immer ihre Rivalin gewesen. Wenn sie zusammen in einem Raum sind, scharen sich die Männer nur um Marmara, so, als gäbe es gar keine Irene. Irene, die Unsichtbare. Irene, der gute Kumpel. Irene, die Vernünftige. Sie sehen sie an – wenn sie sie überhaupt ansehen! – wie einen Schrank, in den man seine überflüssigen Sachen hineinstopft, ehe man auf Reisen geht: "Er ist geräumig, nicht? Und er war so billig!" Und dann verschwinden sie mit Marmara. Marmara, die Schöne. Marmara, die Verführerische. Zugegeben, Marmara ist schön. Sie hat eine starke, sinnliche Ausstrahlung. Doch das ist doch alles nur körperlich – wo bleibt die Seele, wo der Geist? Irene ist vielleicht nicht ganz so schön, aber immerhin leidlich hübsch, und sie ist warmherzig, einfühlsam und klug.
Die alte Missie sagt immer: "Jeder Topf findet irgendwann seinen Deckel." Der zwölfjährigen Irene leuchtete das ein: Es gibt also genauso viel Deckel wie Töpfe, sie müssen sich nur finden. Logik war immer Irenes Stärke. Vier Jahre später begann sie, sich zu fragen, wieso es dann beim Topf Marmara stets einen Deckelauflauf gab, während für sie keiner übrig blieb. Das war unlogisch. Irene verstand die Welt nicht mehr.
Doch nicht genug, dass Marmara schön ist, sie weiß auch noch, dass sie es ist. Und sie bildet sich etwas darauf ein. Das sind die Schlimmsten. Als Irene einmal mit ihr die Straße entlang ging, drehte sich ein junger Mann nach ihnen um und pfiff leise.
"Was wollen die denn alle nur von mir?" stöhnte Marmara mit schlecht gespieltem Überdruss.
‚Mein Gott‘, schrie es in Irene, ‚wie kann man nur so von sich eingenommen sein!‘ Woher wollte Marmara wissen, dass der Pfiff nur ihr galt? Vielleicht hatte ja einmal ein Mann Irenes innere Schönheit erkannt? Diesen Gedanken verwarf sie schnell wieder, aber vielleicht hatte er beide gemeint? Im Grunde aber wusste Irene, dass Marmara genau wusste, wer gemeint war. Und das war der größte Schmerz.

Dienstag, 30. August 2011

Kapitel 2: Radeberg - Częstochowa (7)


Eine dreiviertel Stunde wohl warte ich dann auf einer kalten Bahnsteigbank auf den Zug nach Wrocław. Das erste Mal macht es sich etwas unangenehm bemerkbar, dass ich barfuß bin. Mit fortschreitender Nacht wird das immer schlimmer. Das nächste Mal nehm ich doch Schuhe mit, wenigstens ein Paar Sandalen!
Bis Görlitz muss ich stehen - vor dem Klo. Zwei Polen stecken laufend den Kopf durch die Tür, um mich anzustarren. Endlich bekomme ich einen Platz. Mir gegenüber sitzt ein polnischer Herr, auf der Bank nebenan wohl eine Bekannte von ihm oder was weiß ich, auch Polin, und eine ältere Riesendame von uns. Ein bisschen Herzklopfen vor der Grenzkontrolle hab ich doch. Mein Urlaub ist morgen zu Ende. Aber alles ist ganz schnell und harmlos vorbei. Ein Blick in den Ausweis, das übliche Hinhalten zum polnischen Grenzbullen - "Bitte sehr!" - und den Ausweis zurück.

Ich bin sehr erleichtert: Jetzt fängt der Urlaub endlich an, der eigentliche Urlaub. Es wird herrlicher werden als je zuvor - Częstochowa, Jasna Góra, die Freunde, bekannte und unbekannte, alte und neue, das Fest der Hippiegeneration - ein Urlaub voller wechselnder Farben, voller Licht, das die Schatten leuchten macht. Ein Urlaub voll von Düften, seltsamen und wunderbaren Tönen und Klängen, von Wiesen und platzend vollen Straßen, staubigen Wegen und schillernden Wassern, voll von Lachen und guten Worten, gefüllt insgesamt von einem übermächtigen Gefühl der Zusammengehörigkeit und schließlich auch voller Verzweiflung über die Unvollkommenheit, die immer noch besteht, voll noch unerfüllter Wünsche und guter Vorsätze - Polen... ich träume...

Die Riesendame nebenan benimmt sich unheimlich blöd. Mit süßlich grinsenden, angeschmierten Lippen flötet sie in breitem Sächsisch dem Grenzbullen ihre persönlichen Beziehungen zu irgendwelchen hohen Tieren vor und die Vorgeschichte dieser Polenreise, was den überhaupt nicht interessiert. Sie ist unglaublich verunsichert, vielleicht denkt sie, der Bulle könnte sie einsperren, wenn er über sie nicht genau Bescheid weiß.

Zgorzelec. Erste Station. Ich ziehe mir die Strümpfe an und strecke mich auf der Bank aus. Als ich aufwache, fahren wir in Wrocław ein, und ich habe wahnsinnige Nackenschmerzen. Alles verrenkt - kein Wunder! Als ich meine Sachen zusammenpacke, richte ich meine ersten polnischen Worte an meinen Gegenüber. Ich will wissen, ob der Zug nicht vielleicht doch über Częstochowa fährt; ich habe vorher irgendwas aufgeschnappt:
"Ten pociąg nie jedzie przez Częstochowę, prawda?"
Er verneint, angenehm überrascht, und bückt sich sogar noch nach meiner runtergefallenen Flöte. Wieder barfuß, frierend, verschlafen und dennoch reichlich müde, dränge ich mich mit der Masse anderer Reisender hinaus auf den Bahnsteig.
Unten in der Bahnhofshalle spült mich die erste Freude um: Man ist in Polen, man sitzt auf dem Erdboden, vorrangig als Jugendlicher! Ein lang entbehrtes Bild. Als ich nach genauem Studium des Fahrplanes und gefasstem Entschluss, mit dem nächsten Zug halb vier nach Opole zu fahren und von dort aus, da es dann endlich hell ist, weiterzutrampen, vor dem Fahrkartenschalter stehe, fällt mir erschrocken ein, dass ich ja überhaupt noch kein polnisches Geld bei mir habe.

An der gegenüberliegenden Wand sehe ich eine Gruppe Tramper zwischen Rucksäcken auf dem Boden sitzen, einer hat eine Gitarre. Ich hocke mich zu ihnen und frage, zunächst mal auf Deutsch, ob sie mir Geld tauschen können. Es sind Polen, und der eine steigt auch interessiert auf ein Gespräch mit mir ein. Er sieht ganz niedlich aus und kokettiert ein bisschen rum. Ich krieg es fertig, 20 Mark zu tauschen, eins zu sechs, also 120 Złoty. Die Fahrkarte nach Opole kostet nur etwas über 20. Dann unterhalte ich mich die ganze Zeit mit dem niedlichen Polen, Leszek, wobei ich etwas geschockt mitkriege, dass er ein Krüppel ist: Lähmung (teilweise) der Beine. Die Krücken hatte ich anfangs nur für einen Gag gehalten.
Leszek erzählt mir, dass sie nach Silberberg wollen. Als ich ihm sage, was mein Ziel ist, wird er stutzig. Częstochowa? Er grinst: "Was ist denn in Częstochowa? Jasna Góra, das Kloster, ja?" Als ich bejahe, grinst er noch mehr: Er weiß Bescheid.
"Ich fahre zum Hippietreffen."
"Ich weiß, ich weiß..."
1972 sei er dort gewesen. Das Ganze sei es nicht wert hinzufahren, meint er. 1972 waren noch Tausende von Leuten da. Von Jahr zu Jahr sind es immer weniger geworden. Ich erzähle ihm vom vorigen Jahr und wie viele Leute wieder dort waren. Er wird nachdenklich. Plötzlich sagt er:
"Gdybym miał forsę, pojechałbym z tobą."
Wenn er genug Geld hätte, würde er mitkommen. Mensch, sag ich, wo fehlt's denn an Geld, ich hab noch fast 100 Złoty. Das erste Mal geht er nicht drauf ein. Aber nach einer Weile kommen wir auf das Thema zurück. Er schwankt noch ein bisschen, dann steht sein Entschluss fest: "Jadę z tobą. – Ich komme mit."
Fajnie! Ich freue mich. Bin ich wenigstens nicht mehr allein auf Tramp. Seine Freunde lachen und schütteln verständnislos die Köpfe: "Was willst du denn dort? Du kleiner Hippie!"
Aber sie nehmen es als selbstverständlich hin, dass jeder seiner eigenen Wege geht.

Doch es ist ja schon längst wieder ein neuer Tag angebrochen...

Montag, 29. August 2011

HD: Die Zentren - Das Solarplexuszentrum

Das SOLARPLEXUSZENTRUM wird auch Emotionszentrum genannt, denn hier ist der Sitz der Gefühle. Es nimmt unter den Zentren eine Sonderstellung ein. Zum einen, weil es eine Doppelfunktion hat: Es ist sowohl ein Motor, wie das Wurzel-, das Sakral- und das Herzzentrum, als auch ein Wahrnehmungszentrum, wie Milz und Verstand. Eine Sonderstellung nehmen auch Kehl- und G-Zentrum ein: Die Kehle ist der Knotenpunkt, die Schaltzentrale, an der alle Energien von innen nach außen drängen, um sich zu manifestieren. Und das G-Zentrum ist unsere innere Führung und gehört damit keiner Gruppe von Zentren an (Druck, Wahrnehmung, Motor), sondern ist einfach nur für unser SEIN zuständig.

Das Emotionszentrum wiederum hat durch seine Doppelfunktion mit den meisten Zentren etwas gemeinsam. Seine Sonderstellung basiert darauf, dass es das Energiezentrum ist, in dem die Mutation der Menschheit vom sieben- zum neunzentrigen Wesen stattfindet, die bald abgeschlossen sein wird.
Noch vor wenigen Jahrhunderten war das Emotionszentrum ein reiner Motor; der Mensch wurde sozusagen blind von seinen Emotionen getrieben, wie ein kleines Kind. Es genügt, ein paar gute historische oder historisch unterlegte Romane aus der Zeit vor dem 17. Jahrhundert zu lesen, um das vollauf bestätigt zu finden. Ein Buch, das ich besonders empfehlen möchte, ist Der Rote Löwe von Mária Szepes. Wenn man leidlich sensibel ist und versucht, sich in die Dramen jener vergangenen Zeiten hineinzuversetzen, hält man die emotionale Intensität und Zwanghaftigkeit als Mensch der Neuzeit nur schwer aus. Der Grund dafür ist nicht etwa unsere scheinbar höhere intellektuelle Intelligenz! Jedenfalls nicht an erster Stelle. Es ist die Tatsache, dass unser Solarplexus seitdem eine emotionale Wahrnehmung entwickelt hat und damit mehr und mehr fähig wurde, sich emotional in seine Umwelt hineinzuversetzen, Mitgefühl und Sensibilität zu entwickeln. Das ist die Intelligenz des Emotionszentrums: die emotionale Intelligenz.

Gefühle haben grundsätzlich einen Wellencharakter, und die emotionale Welle bewegt sich in einem steten Auf und Ab, zwischen Hoch und Tief, Ekstase und Verzweiflung, Freude und Schmerz. Es gibt drei verschiedene Wellenformen, die den einzelnen Toren des Emotionszentrums zugeordnet werden. Da diese emotionale Welle aber ein Naturgesetz repräsentiert, also nie aufhören kann, sich zwischen zwei Polen zu bewegen, kennt sie keine Wahrheit im Augenblick. Ein Gefühl steht in jedem Augenblick immer an einem bestimmten Punkt innerhalb seiner Welle, der im nächsten Moment schon nicht mehr wahr ist, weil die Welle sich weiterbewegt hat. Jeder Mensch mit einem definierten Emotionszentrum weiß das nur zu gut: Was ihn heute begeistert, interessiert ihn in einer Woche vielleicht gar nicht mehr; Beziehungen oszillieren zwischen Liebe und Hass – wo liegt die Wahrheit? Es gibt keine.
Im Emotionszentrum gibt es keine Wahrheit, sondern Klarheit. Und die findet sich erst im Nachhinein, manchmal Tage, Wochen oder sogar Monate später, je nach Frequenz der jeweiligen Welle, wenn das Gefühl die ganze Welle durchlaufen hat. Dann kristallisiert sich heraus, was man gegenüber einer Sache, einem Vorhaben oder einem Menschen wirklich fühlt.

Wer ein definiertes Emotionszentrum hat, hat immer eine emotionale Autorität, ganz egal, welche Zentren sonst noch definiert sind. Auch dies ist ein Ausdruck der Sonderstellung dieses Zentrums und seiner Bedeutung für unsere Entwicklung, die zu emotionaler Weisheit hin strebt. Definierte Emotionszentren sind ihrer emotionalen Welle ausgeliefert, sie ist ein fester Bestandteil ihres Seins, den sie nie los werden. Dazu gehören auch die emotionalen Ängste, die sich immer durch Nervosität bemerkbar machen. Für diese Menschen beruht die Weisheit, die sie erreichen können, auf ihrer emotionalen Tiefe und Klarheit. Dazu jedoch müssen sie erst den Durchlauf ihrer Welle abwarten, bevor sie eine Entscheidung oder ein Urteil treffen. Spontaneität kann hier fatale Folgen haben, es sei denn, die Person hat zusätzlich noch ein definiertes Milzzentrum UND es handelt sich um eine unwesentliche Entscheidung.
Ein emotionaler Generator muss der geduldigste Mensch auf Erden sein, denn er muss nicht nur abwarten, um reagieren zu können, sondern noch zusätzlich zu emotionaler Klarheit gelangen, bevor er sich auf etwas Wichtigeres einlässt. Er hat schon lange genug auf eine Gelegenheit gewartet, endlich ist sie da, und sein Sakralzentrum kann endlich grünes Licht geben: "Hmmm! Darauf habe ich jetzt richtig Lust!" Es schickt ihm einen ordentlichen Energieschub – und er darf noch immer nicht loslegen! "Stopp!" sagt seine emotionale Intelligenz gnadenlos. "Jetzt bist du begeistert – aber was ist morgen? Erst mal drüber schlafen, mein Lieber!" Und wenn er nur einmal drüber schlafen muss, hat er richtig Glück gehabt.

Wenn es darum geht, etwas in Angriff zu nehmen, mag es schon schwer sein, so viel Geduld aufzubringen. Manchmal geht es aber auch um die Einschätzung eines Ereignisses. Angenommen, ein anderer Mensch hat dich verletzt. Nun sind emotionale Autoritäten in ihrer Wahrnehmung nicht die Schnellsten. Nur die Milzwahrnehmung funktioniert im Augenblick. Die intellektuelle Wahrnehmung ist von der Zeit unabhängig, aber die emotionale Wahrnehmung funktioniert nur im Nachhinein: Wahrgenommen werden kann hier immer nur die Vergangenheit. So passiert es oft, dass ein solcher Mensch verletzt wird und gar nichts davon merkt. Er lacht vielleicht darüber wie über einen guten Witz. Erst am nächsten Tag überfällt ihn plötzlich die volle Breitseite: "Was hat der da gesagt?! Das ist ja eine Unverschämtheit!" Einen Tag lang bohrt jetzt die Verzweiflung oder die Wut in ihm, einen Tag lang würde er das A... am liebsten erwürgen.
Wenn er sich jetzt hinsetzt und dem A... eine gepfefferte Mail schreibt, wird er das aber mit großer Wahrscheinlichkeit bald bitter bereuen!
Denn schon am zweiten Tag schlägt seine emotionale Welle zum Gegenpol um, und der andere tut ihm auf einmal schrecklich leid, er hatte ja Recht, er wollte ihm doch nur helfen, er selber ist das A... und möchte nun am liebsten sich dafür erwürgen, dass er gestern den anderen erwürgen wollte!
Wenn er sich jetzt hinsetzt und dem A... eine reuige Mail schreibt, wie Recht er doch mit seiner Kritik hatte und wie dumm es doch von ihm selbst war, darüber zu lachen, wird er das ebenfalls bald bereuen!
Erst am dritten Tag – ganz unversehens – sind sowohl Wut als auch Reue verschwunden, und unser Emotionssurfer steht geläutert am Strand, blickt auf die Wellen hinaus und weiß auf einmal klar und deutlich, was da wirklich gelaufen ist. Er fühlt die verborgenen Motivationen des anderen und parallel dazu seine eigenen und weiß jetzt, was er bereit ist, an Kritik einzustecken und was nicht und welche Art der Kommunikation für ihn die richtige ist.
"Drei Tage" ist hier nur ein Beispiel; wie lange ein Wellendurchlauf dauert, kann niemand sagen, das ist von der Welle selbst, von der Situation, auf die sie sich bezieht, und von der Person abhängig.

Allen emotionalen Autoritäten sei daher ans Herz gelegt: Reagiere nie aus einem Impuls heraus! Als emotionaler Generator weiß ich, wovon ich spreche.

Aus dem Nicht-Selbst leben Menschen mit definiertem Solarplexus, wenn sie
- Entscheidungen mit dem Verstand treffen (das betrifft natürlich alle Menschen, nicht nur emotionale),
- ihre Gefühle ignorieren oder rationalisieren,
- versuchen, spontan oder impulsiv zu leben und zu reagieren,
- ihre eigenen Gefühle unterdrücken und sich von den Gefühlen anderer "anstecken" lassen. (Um gar nicht konditionierbar zu sein, müsste ein Zentrum alle seine Tore aktiviert haben.)

Ein undefiniertes Solarplexuszentrum ist normalerweise, solange es für sich allein und bei sich ist, ruhig und gelassen. Interessanterweise halten diese Menschen sich selbst oft für die emotionalsten Wesen überhaupt, und sie wirken auch auf andere so! Es erfordert eine lange und aufmerksame Selbstbeobachtung, um herauszufinden, dass es immer die Gegenwart oder der Einfluss anderer ist, der sie zur Drama-Queen mutieren lässt. Mit ihrem offenen Zentrum nehmen sie ständig fremde Gefühle auf und verstärken sie, bis sie davon explodieren. Und der Irrtum liegt dann nur darin, dass sie sie für ihre eigenen Gefühle halten. Ihr Emotionszentrum ist allerdings nicht für solche steten und intensiven Gefühlswellen ausgelegt. Alle stärkeren Emotionen – Konflikte, Wut, Trauer, Begeisterung, Aggressionen – greifen diese Menschen viel stärker an als solche mit definiertem Solarplexus. Sie reagieren darauf, indem sie alles versuchen, um starken Gefühlen aus dem Weg zu gehen und Konflikte zu vermeiden.
Ihre große Stärke ist ihre Empathie. Wie ein undefiniertes Ajna die Gedanken anderer "lesen" kann und eine undefinierte Milz instinktiv spürt, wie es dem anderen geht, so kann ein undefiniertes Emotionszentrum die Gefühle und Bedürfnisse anderer Menschen wahrnehmen und sich ganz leicht in sie einfühlen. Darin liegt ihre potenzielle Weisheit, die sie erreichen können, wenn sie erkennen, dass es fremde Gefühle sind, und sich selbst davon distanzieren.

Ich schätze, Buddha hatte ein undefiniertes Solarplexuszentrum, denn es ist der Buddhismus, der alle Gefühle als krank machend bewertet - ja, auch Freude! - und Erlösung durch Loslösung und Leerwerden sucht. In der Tat ist das ein erstrebenswertes Ziel – aber nur für undefinierte Emotionszentren. Einem definierten Solarplexus dürfte es schwer fallen, das überhaupt zu verstehen, doch selbst wenn – er braucht es gar nicht erst zu versuchen, denn er kann aus seiner emotionalen Welle nicht raus. Für ihn liegt die Erlösung in der Akzeptanz seiner Emotionen, in der Erkenntnis seiner emotionalen Tiefe und im Bewusstsein, dass kein einzelnes seiner Gefühle jemals die Wahrheit ist, alle zusammen aber eine wunderbare Klarheit ergeben können.

Auf der körperlichen Ebene sind dem Solarplexuszentrum übrigens eine ganze Reihe von Organen und Drüsen zugeordnet: zunächst einmal verständlicherweise das gesamte Nervensystem, von dem der Solarplexus, das "Sonnengeflecht", ja ein Teil ist, des Weiteren die Nieren ("Das geht mir an die Nieren!"), die Bauchspeicheldrüse, ein zentrales Verdauungsorgan ("Das muss ich jetzt erst einmal verdauen!"), die Prostata und die Lunge.
Nieren und Lunge dienen beide der Reinigung unseres Körpers von unverwertbaren Stoffwechselprodukten. Ebenso muss es eine emotionale Hygiene geben: Emotionen werden verdaut, und was dann an nicht Verwertbarem übrig bleibt, muss ausgeschieden werden (loslassen!). Wenn wir diese Hygiene vernachlässigen, so dass sich zu viel unverdaute Gefühle in der Psyche anzustauen beginnen, erinnert unser Unbewusstes uns an diese Notwendigkeit mit den berüchtigten "Toiletten-Träumen"! Und eine der besten Methoden, negative Emotionen zu bereinigen, ist eine Atemkorrektur: Bauchatmung üben! Aus eigener Erfahrung kann ich die segensreichen Wirkungen der Atemübungen des Kriya Yoga empfehlen, das Pranayama. Für Anfänger eignen sich die Wechselatmung und die Vollatmung am besten.

© Angela Nowicki, 29. August 2011

Sonntag, 28. August 2011

Reise ins Herzchakra



Ich stehe in einer langen schmalen Bibliothek. Dabei sehe ich gar nicht, was sich an der rechten Wand befindet, ich sehe nur die linke, und die wird von altertümlichen, dunkelbraunen Bücherregalen mit Hunderten von Büchern und einem Schreibtisch eingenommen.


Am Ende des Raumes steht eine Terrassentür offen, die in einen grünen und sonnigen Garten hinausführt. Ich laufe hinaus. Zuerst durchquere ich einen kleinen, aber dicht und üppig wuchernden Obst- und Blumengarten. Vorbei an einer niedrigen Ziegelmauer zur Linken werde ich dann in eine parkähnliche Landschaft geleitet, die in weites grünes Land übergeht. Mein Weg führt mich bergauf durch Wiesen mit niedrigem Gebüsch, hinter denen Wälder aufragen. Rechts fällt der Berg in einem steigenden Steilhang ab, und tief drunten im Tal schlängelt sich ein Fluss dahin, der mich an den Rhein erinnert.


© Angela Nowicki, Herbst 2009

Vergangene Fremde

Ich bin unterwegs. Ständig bin ich jetzt nachts unterwegs, immer finde ich mich auf irgendwelchen Bahnhöfen wieder. Züge und mehr Züge, abfahrende Züge und Züge, auf die ich warte, um zu fahren... wohin? Ja, ich weiß wohin, immer ist es derselbe Ort, und manchmal komme ich sogar an, dann bin ich in der alten Wohnung, in der Wohnung, die mir verhasst geworden ist und von der ich jetzt träume. Wir wohnen wieder dort, aber wir sind jetzt andere, Neue, Fremde - Michael, Laura und ich, aber immer ist auch der Vater da, ihm gehört die Wohnung, er geht nicht weg, verreist, kommt immer wieder. Und immer wieder meine Angst vor seinem Kommen: Merkt er auch wirklich nicht, was sich zugetragen hat in seiner Abwesenheit? Wir haben seine Papiere durchwühlt, seinen Cognac probiert und viel geraucht und...

Aber er kommt und ist immer abwesend, immer wieder lässt er uns allein, und ich öffne gespannt jeden Morgen den Briefkasten, und jedesmal überfällt mich eine fast lähmende Freude, denn es sind mindestens sechs Briefe an mich drin...

Aber der Putz bröckelt von den Wänden, und Spinnen rennen auf dem Fußboden entlang; es ist nicht mehr die alte Wohnung, wir wohnen im fünften Stock, zu erklimmen nur über eine abgebrochene Treppe über schwindelnden Haustiefen. Da oben sitzen meist viele junge Leute, fremde Freunde, und warten auf uns. Doch ich erreiche diese Wohnung nur unter Angstkrämpfen, jedes Mal, und jedes Mal die neue verzweifelte Angst, nach Hause zu gehen, denn ich bin nicht schwindelfrei. Was, wenn ich doch da hinauf und hinüber muss, weil Laura oben sitzt und auf Essen wartet? ...

© Angela Nowicki, 1981

Freitag, 26. August 2011

Kapitel 2: Radeberg - Częstochowa (6)


Samstag, 14. August 76

Diesmal weckt mich meine Mutter. Es ist um acht, ich soll frühstücken kommen. Vertrieft räum ich das Bett weg und folge dem Ruf. Dann geht eine kleine Zeitjagd bei mir los: Die Tasche muss noch, soweit es geht, fertig werden. Mittags hab ich sie so weit, es fehlt zwar noch ein Verschluss, aber das macht nichts. Ein guter, praktischer Beutel ist mir gelungen. Mutter kocht Mittagessen, und ich packe. Die Hälfte schmeiß ich raus, trotz ihres Protests, sie habe keinen Platz. Mit jedem Gramm sparen!
Nach dem Mittagessen, gegen eins, reiße ich mich los. Länger durfte's nicht dauern, in mir kribbelte schon die Ungeduld wie ein Ameisennest. Częstochowa wartet nicht. Mutter kriegt die letzten Instruktionen, tschüss, alles Liebe und Gute bis September...

Als ich draußen bin, fühle ich mich endlich wieder frei, beruhigt - ich bin ja auf dem Weg, da kann nichts mehr schiefgehen. Auf dem Weg zur Autobahn verrenken sich wieder mal alle Karl-Marx-Städter die Köpfe. Eine ganz schön spießige Stadt! Als ich die F95 entlang laufe, steht unten schon ein Junge und trampt. Fast bin ich ran, da hält ein Auto kurz vor ihm. Ich renne los, von der anderen Seite kommt auch ein Mädchen gerannt. Der Junge wehrt mich ab:
"Wir waren aber zuerst da!"
Ich sage, ach, ihr seid wohl schon drei? Nein, zwei. Das Mädchen ist seine Frau. Na, mein ich, der kann doch drei mitnehmen, so viel Platz ist schon noch. Er nimmt auch drei mit. Bis Dresden.
Das Mädchen, Christiane, ist unheimlich aufgeschlossen und nett. Ich unterhalte mich die ganze Zeit angeregt mit ihr. Sie kommen aus Rostock. Christiane hat Ökonomie oder so was studiert, Peter, ihr Mann, studiert noch - Lateinamerikanistik.
In Dresden setzt uns der Mann an der Auffahrt Cossebaude ab, wo wir auch gleich stehen bleiben. Keiner hält, und wir schimpfen die ganze Zeit auf die ethisch verfettete Wohlstandsgesellschaft. Später kommen noch zwei Typen. Sie sind aus Döbeln und kennen natürlich Hansi; sie geben mir seine Adresse und reden auf mich ein, ich solle doch unbedingt mal nach Döbeln kommen. Aus lauter Begeisterung schenke ich ihnen die eine fast volle Schachtel Karo. Dann folgen Christiane, Peter und ich dem guten Rat der beiden Döbelner und fahren auf die Bautzener Piste am Neustädter Bahnhof.
Als Erstes male ich eine dreiviertel Stunde lang Schilder für uns beide (Gruppen). Es wird langsam dunkel, und wir erwägen schon, bald zum Bahnhof zu verschwinden und den Zug zu nehmen. Doch da hält ein Lkw - nach Bautzen, für mich. Lautstarke Verabschiedung, dann rollen wir los.

Unterwegs, kurz vor Bautzen, überholen die beiden uns doch noch - in einem feinen Pkw. Anfangs hatte ich vor, in Bautzen noch auf die Piste zu gehen, trotz der Dunkelheit. Aber als wir in Bautzen einfahren, beginnt es zu regnen. Pustekuchen! Ich disponiere um: mit dem Zug weiter. Diese Nacht wird durchgemacht, ich will keine Minute verlieren. Der gute Mann fährt mich bis vor den Bahnhof. Rennend versuche ich, nicht allzu viel abzukriegen. Der Abfahrtstafel ist nicht viel zu entnehmen. So frage ich am Schalter nach einem Zug nach Częstochowa. Die freundliche Frau hinter dem Schalterfenster weiß auch nicht besser Bescheid. Sie schiebt mir einen Auslandsfahrplan hin. Na ja, das Günstigste ist, in drei Stunden nach Wrocław zu fahren, dort werde ich weitersehen. Nach Częstochowa direkt fährt von hier gar kein Zug.

Was macht ein müder Wanderer bei so viel Aufenthalt? Er setzt sich in die Mitropa.
So auch ich. Nun muss ich vorausschicken, dass ich meine Stiefel - die einzigen Schuhe, die ich mit hatte - bei Mutter gelassen habe. Einmal war's mir zu warm dazu, zum anderen waren sie auch ganz schön kaputt und ausgelatscht. Ziehe also die ganze Zeit barfuß durch die Lande. Das hatte schon bei Christiane und Peter ein etwas verständnisloses Erstaunen ausgelöst. So sitze ich nun auch ohne Schuhe in der Mitropa. Bei der dicken Kellnerin bestelle ich ein Bier. Sie registriert das zwar, macht aber keine Anstalten, dieses auch zu holen.
"Aber Schuhe zieh'n wir ma an!"
Ich entgegne ganz arglos: "Ich hab keine."
Ihr bleibt kurz die Spucke weg: "Aber das... das geht doch nich! Das geht doch überhaupt nich! Sie könn' sich doch nich so einfach ohne Schuhe hier reinsetzen!"
Ich setze mein unschuldigstes Lächeln auf: "Doch."
Das ist zu viel für sie. Sie rotiert ab und ereifert sich pausenlos über die Tatsache, dass ich es wage, barfuß in einer Kneipe zu erscheinen, das geht doch gar nicht, wo kämen wir denn da hin, wenn das alle... Reaktion aller Anwesenden, sogar der Theken-Lady: Lächeln. Ich erwidere es gern. Mein Bier bekomm ich trotzdem.

Ach, vorhin ist mir auf dem Klo noch eine Frau begegnet, die mir wegen einer ziemlichen Überschwemmung dort ihre Schuhe borgte. Es gibt doch noch ein paar nicht ganz verdorbene Leute.

Erst sitzt ein Fahnenkumpel*) mit bei mir am Tisch, zusammen mit seiner etwas unreif wirkenden Freundin, die aus dem Geziere und Getue gar nicht wieder rauskommt. Als die beiden gegangen sind, setzt sich ein alter Herr zu mir. Er macht einen seltsamen Eindruck: ein Gesicht wie ein steinerner Wolf, sehr hager und mit einem Röntgenblick, der es einem kalt den Rücken runterlaufen lässt. Ich mutmaße: Kriminalkommissar oder Schauspieler. Mit einer schwarzen Abendtasche in der Hand setzt er sich mir gegenüber. Plötzlich beginnt er, unaufhörlich sein Portemonnaie zu suchen und sieht mich dabei immer an, dass ich fast zu glauben beginne, ich habe es gestohlen. Gleich darauf setzt sich ein Mann mittleren Alters, Arbeiter-Bürger-Typ, an unseren Tisch. Es entspinnt sich langsam eine Unterhaltung zwischen uns dreien, bei der wieder mal hauptsächlich ich das Wort führe. Es geht - worum? - natürlich ums Christentum und die Kirche. Der Alte mit dem finsteren Blick, stellt sich heraus, scheint doch nicht ganz so genialisch zu sein, wie man ihn nach dem ersten Eindruck einschätzen würde. Er weiß nicht so recht, wozu er sich bekennen soll - er war mal katholisch. Das Übliche. Ich möchte mir trotzdem vorstellen, dass sein Leben etwas außergewöhnlich verlaufen ist.

Gegen elf spazieren zwei Bullen durch den Saal. Es hat den Anschein, als wollten sie nur ein Bier trinken - doch MICH kontrollieren sie. Niemand anderen, bloß wieder mal mich. Und warum? Wird sich gleich herausstellen:
Wo ich hin will. - Nach Polen. - Nach Polen noch? - Ja, warum nicht? - Ohne Schuhe? - Ogottogott, warum denn nicht? - In Polen schneit's. - Ach so, noch gar nicht gewusst. Aber was stört denn nur die ganze Welt dran, dass ich barfuß bin? Ist denn das so schlimm? - Immerhin, etwas ungewöhnlich, nicht? - Und wenn schon. Immerhin aber auch - noch - nicht verboten, oder? - N-neeeiiin, eigentlich nicht. - Also, bitte!
Sie müssen mich wohl oder übel in Ruhe lassen. Ich trinke mein Bier aus, zahle und verschwinde.

Auf dem Klo treff ich noch mal die Frau von vorhin. Ich erzähle ihr die Sache mit den Schuhen. Sie ist die Erste, die die anderen auch nicht ganz begreift.

*) Fahne - umgangssprachlich für den Wehrdienst in der DDR

Donnerstag, 25. August 2011

HD: Die Zentren - Das Wurzelzentrum

Das WURZELZENTRUM ist ein Motor, der ursprünglichste Motor, den alle Lebewesen haben: Es ist der Überlebenstrieb. Ebenso, wie die Krone, ist auch die Wurzel ein Druckzentrum, nur dass dort geistiger Druck "von oben" drückt und hier existenzieller, hormonell gesteuerter Druck "von unten". Wir leben in einem Druck-Sandwich.
Die Hormone, die dem Wurzelzentrum zugeordnet werden, sind die Stresshormone der Nebennieren, allen voran das Adrenalin. Der ursprüngliche Zustand der Wurzel ist die Ruhe (Tor 52 Das Stillehalten, der Berg) und ist die Lebendigkeit (Tor 58 Das Heitere, der See). Im Schlaraffenland würden wir unter Bäumen liegen und uns die gebratenen Würste in die offenen Mäuler plumpsen lassen, aus nie versiegenden Bächen Milch und Honig schlürfen und zufrieden in die Sonne grinsen, und das wäre so ganz nach dem Geschmack unseres Wurzelzentrums. Leider aber haben unser Verstand und unser Wille die arme Wurzel aus dem Paradies in die Welt des Schweißes im Angesicht verschleppt*), und nun melden die Rezeptoren der Milz der Wurzel Gefahr im Verzug: Fressfeinde. Hunger. Eiszeit. Wurzel an Nebennieren: Adrenalinausstoß vorbereiten! Und je nach Situation und eigener Kondition gibt es dann eigentlich nur noch drei Grundreaktionen: Kampf – Flucht – Totstellreflex.

Das ist die Domäne des Wurzelzentrums.

Da in Europa Mitte-Nord Eiszeiten aber per Fernheizung und wärmegedämmten High-Tech-Häusern ihren Schrecken verloren haben, Fressfeinde in menschlichen Ansiedlungen selten geworden sind und Hunger für die meisten Menschen mit dem wahlweisen Griff zum Portemonnaie oder in den Kühlschrank abgegessen ist, hat unser Wurzelzentrum heute kaum noch etwas zu tun. Es könnte sich nun recht eigentlich freuen und es sich ordentlich gemütlich machen, aber das kann es bei den allermeisten Menschen gar nicht mehr, zu fern ist Eden schon. Unsere Nebennieren produzieren weiterhin Adrenalin, als gälte es, Bären zu bekämpfen – nur, wohin mit dem ganzen Zeugs? Wie sagte meine weise Oma immer: Wer keine Arbeit hat, macht sich welche? Der Mensch sucht sich eben den Stress, den er braucht: produziert galaktische Mengen an Dingen, die kein Mensch braucht (und die er denen, die sie dringend brauchen, stiehlt und vorenthält), beutet andere aus und lässt sich ausbeuten (besonders Clevere, wie ich, beuten sich sogar selbst aus), hetzt von einem Termin zum nächsten, probt das Raubtierdasein bei 200 kmh auf der Autobahn, tobt durch Fitnesszentren und Überschall-Discos, und am Ende hat er den Salat, und wenn’s nur ein Burnout war, hat er noch einen Heidendusel gehabt. Dann hat die arme Wurzel wenigstens ihre Ruhe. Ein paar besonders resistente Junkies machen sogar dann noch weiter und vermarkten ihre Pleite: "Wie ich den Burnout überwand".

Wie sagte eine liebe Freundin von mir so treffend? "Man kann auch mit der eigenen Leiche hausieren gehen."

Aber wir sind abgeschwiffen, wie ein anderer lieber Bekannter von mir zu sagen pflegt. Eigentlich wollte ich doch ganz ruhig und heiter erklären, worin sich eine definierte von einer undefinierten Wurzel unterscheidet. Wenn man die Funktionsweise der Definition einmal verstanden hat, müsste das im Grunde ganz logisch sein:

Die definierte Wurzel macht sich natürlich ihren eigenen Druck (das sind die Ausbeuter und Selbstausbeuter). Sie ist relativ immun gegen fremden Druck, und wenn sie stressanfällig ist, kommt das fast immer aus einem immanenten Bedürfnis. Und den Stress, den sie sich macht, verarbeitet sie auf eine festgelegte und beständige Weise. Eine definierte Wurzel kippt nicht so leicht aus den Latschen, da muss schon viel passieren. Ich habe mich im Leben schon oft gefragt, wieso ich nicht einfach mal umkippe, wenn mir’s zu viel wird. Andere wurden krank – ich musste krank feiern.
Wenn sie aus ihrem Nicht-Selbst lebt, setzt sie mit Vorliebe andere unter Druck und verhält sich unnachgiebig gegenüber denen, die mit Stress nicht so gut umgehen können oder die schlicht überfordert sind. Das sind die Chefs, die selber schuld gewesen sind, wenn ich krank feiern musste.

Die undefinierte Wurzel wiederum ist offen für jede Art von Druck und nicht selten sogar süchtig nach dem Adrenalin-Kick, den ihr andere bescheren müssen, weil sie keinen beständig arbeitenden Stressmechanismus hat. Oder sie lässt sich, wenn sie aus ihrem Nicht-Selbst lebt, von anderen derart mit Arbeit zuballern, dass sie nur noch arbeitet und arbeitet, um den Stress endlich loszuwerden. Wie? Natürlich unter Stress, die Natur liebt Ironie.
Es ist kein Problem, sich unter Druck setzen zu lassen, solange man sich damit wohl fühlt. Wie jeder weiß, gibt es Disstress und Eustress, und die Wurzel braucht neben der Ruhe eben auch Lebendigkeit. Hier muss nun wieder die innere Autorität auf den Plan treten, denn nur sie kann zuverlässig entscheiden, welcher Stress für ihren Besitzer Eu oder Dis ist.

Das Wurzelzentrum kann keine Autorität sein. Vielleicht ganz gut so.

*) Eine ungeheuer interessante Interpretation der Schöpfungsgeschichte, des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies anhand der Kabbalah findet sich bei Peter Gienow, Homöopathische Miasmen: Die Sykose. Philosophisch anspruchsvolle, aber über die Maßen lohnende Lektüre!

© Angela Nowicki, 25. August 2011

Mittwoch, 24. August 2011

Eine andere Unterwelt

Lost in the Kornish Night

Im Mai 2010 haben wir seit unseren Jugendtramps innerhalb des Ostblocks und unseren üblichen Aufenthalten bei der Familie in Polen unsere erste "richtige" Auslandsreise unternommen. Wir waren in Südengland und Cornwall. Die britischen Inseln waren schon seit mehreren Jahren zum Land meiner Träume geworden, und der erste Besuch dort hat alle Erwartungen noch übertroffen. Diese Reise gehört zu den schönsten und einschneidendsten Erlebnissen in meinem Leben und war eine Art Zäsur - auch in Bezug auf meine Seelenreisen.

Vor dem Zubettgehen mache ich eine stille Seelenreise. Ich suche nach meinem Krafttier, das mich zu meinem Heiler führen soll. Mittlerweile habe ich begriffen, dass mein Heiler nicht mein Lehrer ist, sondern nur meine Beschwerden heilt. Unter dieser neuen Voraussetzung will ich endlich wieder etwas für mein rechtes Knie tun und natürlich auch für meinen gebrochenen Arm.
Der alte Zugang zur Unterwelt scheint jedoch endgültig verschwunden zu sein. Ich sehe heute auch kaum einmal deutliche Bilder, nur das Gefühl, in der kornischen Nacht auf einem Hügel zu stehen, ist sehr intensiv. Doch es erscheint kein Tier, nur viele Fragmente von Eulen, Raubvögeln, Löwen, Schildkröten und Stachelschweinen, die sofort wieder verschwinden. Ich bin durch einen Felsspalt, wie St Nectan’s Glen, in die Unterwelt gestiegen, die dieses Mal kein Tunnellabyrinth war, sondern eine halsbrecherische Kletterpartie an Felswänden.

Mein neues Krafttier

Seit Cornwall komme ich nicht mehr auf meine Lichtung zurück. Jeder Versuch, in die Unterwelt zu gelangen, verlief bislang sehr verwirrend, teils mit vielen, aber unverständlichen Bildern, teils bildlos. Vor über einer Woche war ich beim Einschlafen ins Feenland geraten, und eine Elfe führte mich auch. Diese Reise war voller beeindruckender Bilder, die ich aber leider schon wieder vergessen habe.

Dieses Mal weder Trommel noch Stille, sondern Le Chant à l’infini von Hildegard von Bingen. Der Engelsgesang versetzt mich schon nach kurzer Zeit in eine ideale Berglandschaft, in der ich mich beheimatet fühle. Nach längerer Wanderung gelange ich an eine Höhle in einem Felsen, aus der der Gesang hervordringt. Der Eingang gleicht dem in eine Kathedrale. Er führt mich in eine riesige Halle mit verglaster Decke, ähnlich einem Viktorianischen Bahnhof. Dort singt der unsichtbare Engel.

Und auf einmal ist die Schildkröte da – sichtbar und unverwechselbar. Schon oft meinte ich auf den letzten Reiseversuchen, eine Schildkröte zu sehen, doch ich habe das Bild immer verworfen – vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, meinem Stachelschwein "untreu" zu sein? Dieses Mal ist sie nicht mehr zu übersehen. Auch sie zeigt sich in gewisser Weise verspielt, aber mehr auf eine hemdsärmelig-grantige Art. Sie leckt mir das Gesicht und setzt sich dann gemächlich in Bewegung.

Über einen kurzen Gang, der einige Fuß über dem Boden in den Felsen hinein führt, kommen wir in einer anderen Welt – der Unterwelt – heraus. Über der Erde wallt eine helle Masse, die an Wolken erinnert, aber viel dichter ist. Ich frage die Schildkröte, was das sei, und sie sagt:
"Das sind Träume."
"Träume in der Unterwelt?"
Ja, man träumt so allerhand, nicht wahr?
Endlich mal ein Krafttier, das mit mir spricht!
Auf meine Frage nach ihrem Namen wendet sie kurz den Kopf und blickt wieder nach vorn:
"Nenn mich Hulda, wenn du willst."

Vor uns steht eine riesige menschliche Gestalt.
"Wer ist das?" frage ich Hulda.
"Deine Kraft", antwortet sie.
Meine Kraft setzt sich an den rechten Wegrand und schaut mürrisch und ein bisschen bedrohlich drein. Im Sitzen ist sie immer noch viel größer als ich.

Dann erscheint links ein riesiges Auge in den Wolken.
"Was ist das für ein Auge?"
"Du bist nicht allein", sagt Hulda.

Ich will nicht mehr weitergehen und bitte Hulda, zu mir zu kommen. Ich frage sie nach meinem Stachelschwein. Erst will sie nicht so richtig mit der Sprache heraus, meint dann aber, es sei alles in Ordnung.
"Warum kommt es nicht mehr?" frage ich.
Hulda zögert eine Weile. Dann wirft sie im Umdrehen hin:
"Das ist deine Welt."
Ich erkläre ihr, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, dem Stachelschwein untreu geworden zu sein, doch sie geht gar nicht richtig darauf ein:
"Ich werde auch fortgehen", nuschelt sie und: "Du änderst dich."

Eine letzte Frage brennt mir noch auf der Zunge:
"Schildkröte, kannst du mir sagen, warum du zu mir gekommen bist? Was du mir geben willst?"
Wieder scheint es, als habe sie keine Lust, mir diese Frage zu beantworten. Dann baut sie sich vor mir auf und meint beiläufig:
"Schaff dir erst mal so einen Panzer an!"
Das klang nicht sonderlich ernst, eher, als wolle sie mich in ihrer ruppigen Art veralbern. Schließlich jedoch fragt sie mich:
"Du liebst doch Schildkröten. Warum?"
"Oh... ich finde Schildkröten einfach schön... Sie sind uralt, weise und unendlich würdevoll. Ihre Schönheit liegt in ihrer Weisheit und Würde, genau."
Es ist, als zucke Hulda mit den Schultern und teile mir telepathisch ein lakonisches "Na, bitte!" mit.

Ich will zurück, die Eindrücke genügen mir fürs Erste. Ohne dass ich etwas gesagt habe, kehrt Hulda wortlos um und geleitet mich wieder in die Halle. Mir fällt auf, dass ihre ruppige Art nicht gerade das ist, was ich momentan emotional brauche.
"Hulda", klage ich traurig, "bin ich liebenswert?"
Da dreht sie sich zu mir um, streckt ihren faltigen Hals ganz lang nach vorn, schürzt die Lippen und gibt mir einen Kuss auf den Mund. Dabei hat sie plötzlich ein Hütchen auf. Das Ganze wirkt so urkomisch, dass ich ganz übermütig werde.
"Du kommst wieder", sagt Hulda, als ich mich verabschieden will.

Ich verlasse den Felsen und vertiefe mich noch viele Minuten lang in das unendliche Bergpanorama, das sich draußen vor meinen Augen erstreckt.

© Angela Nowicki, 8. Juni und 2. Juli 2010

Tod eines Vogels

Wenn Neila zwischen Lippenstift und Chipkartenfach an den blauen Vogel denkt, lässt sie die Handtasche auf den Wäscheberg fallen und geht ins Hinterzimmer. Sie schaut nach dem Futternapf in seinem Käfig, ob er auch gefüllt sei, aber er ist gefüllt, immer, es ist auch immer genügend Wasser im anderen Napf, und der blaue Vogel springt aufgeregt auf dem Käfig herum, dem großen, offenen Vogelkäfig auf dem Wäscheständer im schmalen Hinterzimmer, dem Käfig, auf dem der blaue Vogel zwitschert und singt, immer satt, nie durstig.
Eigentlich gehört der Vogel nicht Neila, sondern Olivia. Doch Olivia sitzt draußen auf dem Wäscheberg und ruft: "Neila! Komm mal her!" Dann geht Neila hin, aber sie ärgert sich. Es sind ganz unwichtige Dinge, wegen derer Olivia sie dauernd ruft, Banalitäten, aber man kann ja nie wissen. Deshalb geht Neila immer wieder zu Olivia, die auf dem Wäscheberg neben der Tür im Vorderzimmer sitzt und sie dauernd ruft. Aber sie ärgert sich.
Denn Neila möchte am liebsten nur noch mit dem blauen Vogel spielen. Er ist so wunderschön, und er ist so munter und gesund. Ganz anders als Rufus. Rufus ist auch Olivias Vogel, aber er sitzt nicht draußen beim blauen Vogel und springt nicht mit ihm herum, denn Rufus ist krank. Er liegt im Käfig und sieht aus wie ein großes, frisch geschlüpftes Vogeljunges, fast federlos, schmutzig grün. Rufus liegt die ganze Zeit kraft- und hilflos am Käfigboden, denn er ist schwer krank und will einfach nicht wieder gesund werden.
Wieso hat Olivia so eine große Abneigung gegen ihn? Es ist doch ihr Vogel. Aber sie kümmert sich ja auch nicht um den blauen Vogel, Olivia kümmert sich um gar keinen Vogel, obwohl es ihre sind, sie ruft immer nur: "Neila!" Wegen Banalitäten. Wenn Neila sie fragt, ob sie die Vögel schon versorgt habe, sagt Olivia ja, und es ist ja auch immer Futter und frisches Wasser im Käfig, da kann man nichts sagen. Aber Olivia spricht nicht mit den Vögeln, und sie lässt auch Neila nicht mit ihnen sprechen, weil sie sie immer wieder wegen Banalitäten zu sich auf den Wäscheberg ruft.
Olivia kann Rufus nicht leiden. Vielleicht weil er so krank ist. Keine Ahnung warum. Sie quält den armen, kranken Vogel. Sie setzt ihn sich auf den Finger und will ihn fliegen lassen. So, als werde er davon wieder gesund. So, als müsse man unbedingt wieder gesund werden, wenn man schwer krank ist. Als sei es eine Sünde zu sterben. "Lass ihn in Ruhe", schimpft Neila. "Er soll das Restchen seines Lebens noch in Frieden verbringen dürfen." Olivia sitzt ohnehin schon wieder auf dem Wäscheberg. "Neila! Komm mal her!" ruft sie.

Zwischen dem Wäscheständer mit dem Vogelkäfig und der Wand steht im Durchgang eine eingeschaltete Rotlichtlampe, und um den Wäscheberg davor strahlt ein hellblaues Licht. Es wird Abend und wieder Morgen und wieder Abend. Die Tage, die Wochen steigen auf und ab, in steter Gleichförmigkeit, gleich einem Hammerwerk, das nichts schmiedet, dessen einzige Aufgabe nur noch darin besteht, den Hammer im Gleichmaß ewiger Bewegung zu halten, ruhig und gleichgültig. Wir bewegen uns, also sind wir. Ein rotes Licht und ein blaues Licht. Ein schmutzig grüner und ein blauer Vogel.
Doch eines Abends schlägt der Hammer behender, stolpert, gerät aus dem Takt. Die Nachbarschaft veranstaltet einen Gemeinsamen Abend, und alle sind eingeladen. Olivia, Leander und Neila flattern aufgeregt in dem langen, schmalen Zimmer durcheinander, sie machen sich "fein". Der Wäscheberg ist abgetragen. Der blaue Vogel sitzt bereits bettfertig im Käfig, und Neila möchte den Wäscheständer mit dem Käfig ins vordere Zimmer ziehen, um die Zwischentür zu schließen, doch Leander und Olivia drängen: "Komm, wir müssen los!" Da lässt Neila den Käfig Käfig sein, schnappt ihre Handtasche und eilt den beiden nach nach draußen.

Der Weg führt ins Erdgeschoss, doch dort ist alles leer. Die Feier findet in einem der oberen Stockwerke statt, wohin von hier aus keine Treppe führt, sie müssen den Paternoster nehmen. Neila krampft sich der Magen zusammen. Sie hat furchtbare Angst vor Paternostern, die waren ihr schon immer unheimlich. Wenn man dummerweise in den falschen Augenblick rutscht, schafft man es nicht, rechtzeitig auszusteigen und dann? Niemand weiß, wie ein Paternoster am Umkehrpunkt wendet, und es ist gar nicht ausgeschlossen, dass er sich vom Kopf auf die Füße dreht! Deshalb muss man im Paternoster immer wachsam sein, immer auf dem Sprung, aber Neilas Gedanken wollen das nicht. Leander stößt sie hinaus.
Es ist das falsche Stockwerk. Das heißt, es ist eigentlich gar kein Stockwerk, sie sind ganz oben ausgestiegen, wo niemand mehr wohnt: im Turm. Neila freut sich. Sie liebt Türme, bestimmt gibt es hier verträumte, kleine Fenster, durch die man die ganze Welt sehen kann. Doch Leander drängelt. Die Welt kannst du ein andermal sehen, wir müssen hier wieder runter.
Zu früh gefreut: Nur eine lange, extrem steile Holztreppe führt nach ganz unten in den Begegnungsraum, fast schon eine Leiter. Neila stöhnt und schimpft. Erst der Paternoster, jetzt eine kilometerlange Leiter in den Abgrund! Da ihnen aber nichts anderes übrig bleibt, beginnt auch sie mit dem halsbrecherischen Abstieg.
Auf der unteren Hälfte der Leiter sitzen schon viele Leute. Kurz, bevor sie zu ihnen stoßen, kommt ihnen jemand von unten entgegen. Der Mensch hat auch auf der Leiter gesessen und ist jetzt aufgestanden, um nach oben zu krabbeln. Schon wieder schimpft Neila, denn erstens ist es unmöglich, aneinander vorbeizukommen, und zweitens ist die Leiter doch nur für den Abstieg gedacht, der Ausgang befindet sich unten. Was will der dort oben, sich Kaffee holen?

Es ist schon spät in der Nacht, als Neila und Leander das Treffen verlassen. Eigentlich wollten sie nach Hause gehen, doch sie entscheiden sich spontan für einen kurzen Nachtspaziergang. Neila ist nicht ganz wohl zumute. Sie hat Angst, die Vögel so lange allein zu lassen, sie hört den Rhythmus des Hammers. In den paar Minuten werde ihnen schon nichts passieren, wiegelt Leander ab. Was sollte auch passieren? Sie haben ja ihr Futter.
Sie gehen durch die lange, dunkle Hauseinfahrt aufs Haustor zu. Leander fällt plötzlich der Mann ein, der eins der weißen Häuser auf der Wiese hinter dem Anwesen der frommen Helene gekauft hat. Die Geschichte hat ihm Neila erzählt. Er regt sich furchtbar auf, aber Neila versteht seine Aufregung nicht: "Lass ihn doch! Warum soll er es nicht kaufen?" Natürlich hat Leander seine Gründe, sich so zu ereifern. Leander hat immer Gründe.
Vor dem Haus wenden sie sich nach rechts, laufen die Straße hinab bis zur Wiese in der großen Baulücke. Über diese Wiese gelangen sie zurück nach Hause, das genügt. Als sie über die Wiese laufen, flüstert Leander Neila ins Ohr, er werde ihr zu Hause im Bett etwas zeigen. Sie kichert und flüstert zurück, er solle es ihr doch jetzt schon zeigen, doch im selben Moment tauchen immer mehr Leute auf der Wiese auf. Rasch setzt Neila ihre Maske wieder auf und guckt tugendhaft geradeaus.

Zu Hause finden sie eine entsetzte, in Tränen aufgelöste Olivia vor. Die Tür zum hinteren Zimmer ist geschlossen, und in der vorderen linken Ecke des schmalen Zimmers sitzt die fromme Helene und beugt sich über etwas, was da liegt. Der Schemen eines kleinen Kindes geistert durch die hintere Hälfte des Raums. Hat niemand sonst das Kind gesehen? Der Hammer schlägt Stakkato. Panisch fragt Neila, was passiert sei, doch sie begreift, noch ehe Olivia es erklären kann: Rufus ist tot. Er ist es, über den sich die fromme Helene beugt. Vielleicht hat sie versucht, ihn noch zu retten, doch gleich steht sie auf und schlägt die Serviette zusammen, auf der er liegt, und Leander sagt: "Wir müssen ihn begraben."
Der Hammer steht still.
Als die fromme Helene die kleine Leiche auf der Serviette hochhebt, geht Olivia zu ihr und schmeißt ungehalten eine Handvoll Perlen darauf. Die Geste kommt keineswegs vom Herzen, sie verabschiedet sich von diesem Vogel genauso genervt, wie sie ihn in der letzten Zeit behandelt hat, als sei es seine Schuld, dass er nicht zum Leben taugte.
Neila begreift nun, dass es der blaue Vogel ist, worüber Olivia so verzweifelt. Die Tür zum hinteren Zimmer ist verschlossen, und Olivia weiß nicht, ob er nicht vielleicht auch tot oder verletzt ist. Sie will zu ihm, doch an der Tür versperrt ihr der Schemen einer Frau den Weg. Alle sehen die Frau, und auch sie reden Olivia zu, sie solle die Tür in Ruhe lassen und abwarten, dem blauen Vogel gehe es sicherlich gut.
Dann erst fragt Neila sie, wie Rufus gestorben sei, und sie sagt, der blaue Vogel habe ihn totgehackt. "Irgendwann musste das ja mal passieren!" - das hatte Olivia schon gerufen, als sie hereingekommen waren, und nun stellt sich heraus, dass der blaue Vogel Rufus nicht leiden konnte und immer nach ihm hackte, wenn er in der Nähe war. Neila erinnert sich, dass sie immer bemüht gewesen war, die beiden voneinander fern zu halten. Und nun ist sie nur kurze Zeit nicht da gewesen, und dieser eine Hacker ist tödlich ausgefallen.

Als sie Rufus im Kohlbeet hinter dem Haus begraben, geht das Hammerwerk in Flammen auf. Unhörbar schleicht sich der Schemen eines alten Mannes davon, den niemand sieht.

© Angela Nowicki, 10. September 2010

Montag, 22. August 2011

Kapitel 2: Radeberg - Częstochowa (5)


Donnerstag, 12. August 76

Ganz lieb werde ich geweckt. Regina kniet vor der Couch und ruft zärtlich: "Neila!" So stehe ich gern auf. Ich bin unerwarteterweise putzmunter und guter Laune. Das Radio spielt dufte Musik, Zähne putzen, anziehen, packen. Zwei Marmeladenstullen verdrück ich und eine Flasche Limo, rauche noch eine Semper von ihr. Kurz nach fünf gehen wir los. Sie bringt mich noch an meinen Bus, wir verabschieden uns kurz.

Ich fahre bis zur Endhaltestelle, wie Regina gesagt hat - natürlich ist das viel zu weit. Also wieder zurück. Arbeiter kommen von der Nachtschicht. Seltsam, in Jena sind die verschiedensten Dialekte zu Hause: vom rotzigsten Gassen-Hallesch über betuliches Sächsisch und feines Hochdeutsch bis zur breiten Erfurter Mundart. Auf dem Holzmarkt frage ich nach dem Bahnhof. Es ist kurios: Eine Stadt, nicht größer als Görlitz, und jedesmal bekommt man zur Antwort:
"Welcher Bahnhof?"
Aber bitte, Jena hat davon drei!
Ich sage, dass mir das egal ist, und lande auf dem Paradiesbahnhof. Dass er klein ist, macht nichts, er hat Gepäckautomaten. Ich packe ein bisschen um, schließe das Gerümpel ein und ziehe wieder los in die Stadt zur Uni.
Der Weisheitszahn wird das Hauptgebäude sein, denk ich und trete ein. Der Herr, an den ich schließlich gerate, informiert mich, dass die Fachrichtung Theologie im Hauptgebäude zu finden ist, und das ist ein anderes. Ich trabe weiter, finde auch das richtige Hauptgebäude, laufe einmal drumrum, dann weiß ich, wo's reingeht. Der Pförtner ist sehr freundlich. Er lacht mich an: Um neun wird vielleicht jemand da sein.

Also laufe ich noch ein Stück durch die Stadt, eine erste Bekanntschaft mit ihr zu schließen. Einmal kommt mir ein Tramper entgegen; ich habe ihn schon vom Bus aus gesehen. Er gefällt mir. Er sieht bald aus wie Serge, der communiste français: dünn, mächtiger Wuschelkopf, Schildmütze und Parka. Ich gehe vorbei. Vielleicht treffe ich ihn nachher noch mal, dann spreche ich ihn an, denke ich.
Zuerst gerate ich an eine katholische Kirche, die ich mir rundum anschaue. Hier oben sieht es überhaupt sehr romantisch aus; der Stadtteil gefällt mir. Ich gehe auf den Friedhof gegenüber. Er gehört zur Friedenskirche. Schön groß, schön verwinkelt, schön verwildert. Ich fühle mich wohl. Es sind auch etliche bekannte Gräber da, von Carl Zeiss zum Beispiel, einige schaue ich mir an. Dutzende von Erbbegräbnissen. Die Kirche ist auch schön, aber verrammelt. Schlüssel in der Gärtnerei, lese ich. Die Gärtnerei befindet sich in einem der durch Mauern abgegrenzten Teile des Friedhofes, in dem einige junge Burschen mit Harken und Schubkarren umherlaufen. Die Gärtner. Ich verziehe mich in einen abgelegenen Winkel gleich hinter Carls Grab. Von Gesträuch verborgen, hocke ich mich auf das Gras und spiele Flöte. Lange. Frieden rundum.

Langsam mache ich mich wieder auf den Weg. Eine alte Burgruine lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich, aber es stinkt dort nur nach Hundepisse, und reinzuklettern habe ich jetzt keine Lust. So gehe ich langsam wieder hinunter in die Unigegend. Ich habe Hunger. Auf einem Marktplatz haben sie einen Haufen Stände aufgebaut. An einem werden Rostbratwürste verkauft. Ich stelle mich in die Schlange der Hungrigen. Vor mir unterhält sich eine ungarische Touristenfamilie ziemlich lautstark. Es macht Spaß, sie zu beobachten. Die Wurst ist lang und heiß und schmeckt wunderbar. Hinterher rauche ich eine und schlendere über den Platz. Ein langhaariger Typ kommt mir entgegen, ich kenne ihn irgendwoher und überlege krampfhaft, wo ich ihn hinstecken soll. Es fällt mir nicht ein. An einem anderen Stand kaufe ich mir einen Becher Limo und trinke ihn voller Gier zwischen Bier kippenden Männern gleich aus. Irgendwo kaufe ich mir noch ein Eis, setze mich in irgendeinen Park, um eine zu rauchen - Jena hat schöne Parks -, dann mach ich mich allmählich wieder zur Uni auf.
Aus dem Zimmer, an das mich der freundliche Pförtner verwiesen hat, kommt eine Frau, die ich anspreche. Sie bedauert, der Zuständige für die Theologische sei nicht da, aber wenn ich mal einen Moment Zeit hätte... Nach ein paar Minuten kommt sie wieder. Ja, Herr Sowieso möchte gern mit mir sprechen, das wird aber erst so in einer Stunde, gegen zehn.

Als ich runterkomme, beschließe ich, die Uni-Bücherei gleich gegenüber aufs Korn zu nehmen. Mit der Zeit lese ich mich fest. Als ich denke, jetzt müsste's so etwa zehn sein, trabe ich los. Noch mal hoch. Einem Mann, der in der offenen Tür steht, sage ich Bescheid, er meldet mich an. Von drin höre ich plötzlich:
"Die Studentin war für um zehn bestellt! Jetzt muss sie warten."
Es ist elf! Ich warte also noch einmal ziemlich lange, dann endlich werde ich hinein gebeten. Ein älterer, sehniger Herr mit Parteiabzeichen hört sich mein Anliegen an. Ja, da gibt es nichts anderes, als sich zu bewerben, ordnungsgemäß. Bewerbungsunterlagen bei jedem Rat der Stadt, draufschreiben, dass ich dieses Jahr eventuell noch... und dann werden wir weitersehen. Die Beurteilung des Betriebes gehört dazu. Als ich vorsichtig anfrage, ob von allen Betrieben oder nur vom letzten, ist der gute Mann etwas fassungslos.
"Ein Jahr, sagen Sie, haben Sie gearbeitet? In wie vielen Betrieben waren Sie denn da?"

Als ich wieder draußen bin, stelle ich im Kopf erst mal eine Liste auf all der Dinge, die zur Studienbewerbung gehören, die ich also jetzt so schnell wie möglich zu erledigen habe: die Formulare beschaffen beim Rat der Stadt, Passbilder anfertigen lassen, zum allgemeinen Arzt gehen wegen der Gesundheitsbescheinigung, Rothenburg, Görlitz und Radeberg wegen der Beurteilungen anschreiben, Lebenslauf und Begründung des Studienwunsches schreiben, eine Zeugnisabschrift anfertigen und auf dem Notariat beglaubigen lassen. Eine ganz schöne Stange. Etliches davon kann ich jetzt gleich machen, beschließe ich, zum Beispiel die Formulare holen, zum Arzt und zum Fotografen gehen.

Als Erstes frage ich mich zum Rat der Stadt durch. Endlich lande ich im richtigen Gebäude in der richtigen Abteilung. Es findet gerade eine Besprechung statt. Eine nette junge Frau bittet mich leise, in einer Viertelstunde wiederzukommen, sagt mir auch, an welche Kollegin ich mich zu wenden habe. Ich steige die sechs Stockwerke wieder runter. Unten setze ich mich auf die Mauer, rauche eine. Der langhaarige Typ vom Marktplatz erscheint plötzlich wieder. Er wartet gegenüber auf die Straßenbahn. Und plötzlich fällt mir auch ein, wer das sein könnte: der Kunde, der in Zella, von einem langen Wintertramp zurück, ins Kaluga kam, als ich grade mit Lutz da war. Lutz hatte ihn begrüßt, und ich hatte mich dann noch eine Weile mit ihm unterhalten. Er scheint auch auf mich aufmerksam geworden zu sein, ich traue mich dennoch nicht, rüberzugehen und ihn anzusprechen.
Nach der Zigarette geh ich wieder hoch. Die Sitzung sitzt immer noch, wird aber nach fünf Minuten endlich beendet. Die junge Frau, an die ich mich wende, sucht etwas hilflos nach den gewünschten Formularen, schließlich habe ich aber alles beisammen, außer einem Formular für die Gesundheitsbescheinigung, doch das ist ja sowieso nicht notwendig.
Unten frage ich mich nach der Poliklinik durch. Eine Straßenbahn fährt mich hin. Der praktische Arzt hat heute keine Sprechstunde, erfahre ich. Kopfschmerzen beginnen, sich anzubahnen, ich möchte zurück nach Karl-Marx-Stadt. So fahre ich mit der Bahn zum Holzmarkt und laufe zum Bahnhof. Nachdem ich mein Gepäck wieder günstmöglichst alright habe, geht's zum Bus, und der fährt mich dorthin, wo ich reingekommen bin, nach Neulobeda Ost. Ich laufe die Straße vor und trampe dabei.

Es lässt sich beschissen an: Keiner hält, obwohl der Verkehr rege ist, und die Zufahrtstraße zieht sich ganz schön hin. Endlich an der Auffahrt angekommen, setze ich mein Gepäck ab und trampe wieder. Der nächste hält. Und fährt nach Karl-Marx-Stadt. Er fährt sogar nach Dresden, aber das ist für mich noch nicht aktuell. Einen Apfel gibt er mir. Ich könnte eine Schmerztablette gebrauchen.

Karl-Marx-Stadt. Als ich die Leipziger Straße runterkomme, kontrollieren mich schon wieder die Bullen. Ich beschwere mich, ich sei schon gestern kontrolliert worden.
"Das war'n wir aber nicht."
Na gut. Ich fahre zu meiner Mutter. Nachdem ich endlich meine Schmerztablette intus habe, sitzen wir in der Küche, und ich erzähle von Jena, esse etwas. Mutter gerät wieder leicht in Hektik, als sie hört, was ich morgen noch alles besorgen muss.
"Fang nur gleich an mit dem Fragebogen, sonst schaffst du's doch nicht!"
So sitze ich dann bis zum Schluss des Fernsehprogramms an Fragebogen und Lebenslauf. Dann geht's ins Bett - wieder ein langer Tag zu Ende.

Sonntag, 21. August 2011

HD: Die Zentren - Das Milzzentrum

Drei der neun Zentren in der Körpergrafik sind Wahrnehmungszentren: Milzzentrum, Ajnazentrum und Solarplexuszentrum. Sie unterscheiden sich untereinander durch den zeitlichen Bezug der Wahrnehmungen.
Während das Ajnazentrum, also der Verstand, in seiner Wahrnehmung zeitunabhängig ist, denn wir können sowohl in die Vergangenheit (Erinnerungen) als auch in die Zukunft (Vorstellungen) denken und sogar eine augenblickliche Wahrheit "einfach wissen", ist die MILZWAHRNEHMUNG eine reine Augenblickswahrnehmung. Das ist unsere älteste Wahrnehmung, denn Emotionen haben nicht alle Tiere und einen Verstand vermutlich nur wenige, aber eine Milzwahrnehmung findet sich im gesamten Tierreich bis hin zu den Einzellern: Es ist der Instinkt.

Der Instinkt funktioniert nur im Jetzt, und er hat die Aufgabe, unser Überleben zu sichern. Dabei handelt es sich nicht nur um das Überleben auf der makrozellulären Ebene, wo wir uns gegen sichtbare Fressfeinde, klimatische und Umweltbedingungen usw. zu wehren haben, sondern auch auf der mikrozellulären Ebene, denn die Bedrohung hört nicht beim Sichtbaren auf. Unser Körper wird permanent von Fremdorganismen attackiert, und wenn wir keine gut ausgebildete, organisierte und funktionierende "Armee" haben, sind wir in ein paar Tagen tot. Diese Armee ist natürlich unser Immunsystem, zu dem vor allem das Lymphsystem mit den Lymphozyten gehört, von denen die Antikörper produzierenden B-Zellen und die T-Lymphozyten, die so genannten "Killerzellen", die bekanntesten sind. Es liegt auf der Hand, dass dem Milzzentrum daher auf der körperlichen Ebene das Lymphsystem zugeordnet wird, ist die Milz als Körperorgan doch selbst Teil dieser Körperabwehr. Das Milzzentrum ist unser Gesundheits- und Wohlfühlzentrum. Darum kümmert es sich mithilfe der Instinkte, der Intuition und des Geschmacks.

Alle drei Wahrnehmungszentren sind auch Angstzentren, denn die Angst ist eine Reaktion auf wahrgenommene Bedrohungen. Jedem Tor innerhalb dieser Zentren ist daher eine spezifische Angst zugeordnet. In der Milz handelt es sich dabei um Überlebensängste im engeren und weiteren Sinn.

Wer eine definierte Milz hat, verfügt grundsätzlich über ein stabiles, gleichmäßig arbeitendes Immunsystem. Er ist zwar nicht von Haus aus gesünder als ein Mensch mit undefinierter Milz, aber er kann sich auf seine instinktive Wahrnehmung verlassen, die ihm immer augenblicklich mitteilt, was gesund und was schädlich für ihn ist. Er verfügt über einen verlässlichen "Wohlfühlmechanismus" und hat eine festgelegte Art, seine Überlebensängste zu verarbeiten. Aufgrund dessen kann er auch anderen Menschen Wohlgefühl vermitteln.

Die Milzautorität

Wenn Solarplexus und Sakralzentrum undefiniert sind, ist die definierte Milz die innere Autorität. Um die für sie besten Entscheidungen zu treffen, müssen diese Menschen sich auf ihre Milzwahrnehmung verlassen, die ihnen blitzschnell über Geschmackseindrücke, die akustisch arbeitende Intuition oder den über Geruchswahrnehmungen funktionierenden Instinkt signalisiert, was jetzt im Augenblick das Gesündeste für sie ist. Hier geht es weder um den Willen noch um die innere Führung noch um einen eingebauten Energiestandsanzeiger, wie bei der sakralen Autorität, und gleich gar nicht um Emotionen, sondern um ein leises Stimmchen, das sich nie wiederholt. Im Lärm unserer Welt oder in der Konditionierung auf unseren Verstand ist diese feine Ahnung (ein Kribbeln, eine diffuse Angst, ein unangenehmer Geruch) sehr leicht zu überhören – und dann ist die Gelegenheit vorüber, denn die Milz kann nicht mehrmals zum gleichen Thema "anschlagen", weil sie sonst nicht mehr in jedem Moment wachsam sein könnte.
Die Milzautorität ist eine spontane Autorität. Für diese Menschen ist es gesund und notwendig, spontan zu sein. Da die Milzwahrnehmung aber so feinsinnig ist, kann sie leicht von den viel kräftigeren Eindrücken der beiden anderen Wahrnehmungszentren – Verstand und Emotionen – übertönt werden. Für einen Menschen mit Milzautorität ist es daher sehr wichtig, sehr aufmerksam auf diese diffusen Signale aus seinem Körper zu achten und ihnen zu vertrauen.

Wenn du eine Milzautorität hast, lernst du vielleicht einen fremden Menschen kennen und spürst kurzzeitig ein leises Unbehagen. Es bleibt dir unerklärlich, denn der andere ist freundlich, entgegenkommend, witzig – dein Verstand sieht keinen Grund, ihm zu misstrauen, und deine Emotionen sind durchaus angetan von ihm. Woher also kommt das Unbehagen? "Ach was, Einbildung!" sagst du dir vielleicht.
Tage oder Wochen später aber fluchst du: "Verdammt, hätte ich doch meinem inneren Scheißemelder vertraut!" Der andere muss sich ja nicht gleich als Krimineller entpuppt haben, wobei natürlich auch das möglich ist; es reicht schon, dass sich allem Anschein zum Trotz herausgestellt hat, dass dieser Mensch nicht gut für dich ist, dich in deiner Entwicklung behindert, deine Energie absaugt, dich ausnutzt oder hinterhältig verletzt.
Ja, die Milz ist dein innerer "Scheißemelder", dein Alarm, wenn auch ein sehr leiser, kurzer und fast immer völlig irrationaler. Als Milzautorität schule dein Gehör und vertraue ihm bedingungslos!

Irrational kann es zum Beispiel werden, wenn der Geschmack anschlägt. "Über Geschmack lässt sich nicht streiten", heißt es. Mag sein, aber wenn du eine definierte Milz mit aktivierten "Geschmackstoren" (Tor 18 und Tor 48) hast, solltest du deinen Geschmack wenigstens ernst nehmen. Und jemand, der sich für dein Empfinden so "geschmacklos" kleidet, dass es dir Unbehagen verursacht, mit ihm persönlich zu tun zu haben, ist mit ziemlicher Sicherheit "nicht gut für dich". Das sagt natürlich überhaupt nichts über den Charakter dieses Menschen aus! Es kann ein wirklich feiner Mensch sein, und trotzdem ist er nicht gut für dich, ähnlich wie bestimmte Bakterien nicht gut für deinen Körper sind und vom Immunsystem abgewehrt werden müssen, obgleich sie für andere Organismen sehr nützlich sein können (und ganz ohne Relationen ein Wunder der Schöpfung sind wie wir alle). In meiner Jugend war es in bestimmten Kreisen "in", den Standpunkt zu vertreten: "Es kommt nicht aufs Äußere eines Menschen an." Für eine über diese Tore definierte Milz aber schon.

Eine undefinierte Milz ist offen für diffuse Ängste, die sie von außen aufschnappt. Sie hat keinen verlässlichen inneren Alarm, daher kann Spontaneität im Extremfall sogar tödlich für sie sein. Und ihr fehlt der beständige innere "Wohlfühlmechanismus", weil ihr Immunsystem ungleichmäßig arbeitet. Diese Leute laufen Gefahr, sich an Menschen mit einer definierten Milz zu klammern und sich von ihnen abhängig zu machen, weil die ihnen eben dieses Wohlgefühl vermitteln. Um in ihrem Selbst zu bleiben, müssen sie zweitens ihr naturgegeben schwankendes Wohlgefühl akzeptieren lernen und erstens und letztens – was sonst? – ihrer eigenen inneren Autorität folgen.

© Angela Nowicki, 21. August 2011

Samstag, 20. August 2011

A day in the life

... saw the photograph:...

was bisher passierte...

Kaum habe ich mich im Wartezimmer gesetzt, lässt sich drei Stühle neben mir eine Frau nieder mit dem gleichen Gipsarm, nur rechts. Wir schauen uns an und fangen immer stärker an zu grinsen.
"Wollen wir mal tauschen?" frage ich.
"Nee, im Leben nicht!" wehrt sie lachend ab.
Wir tauschen dafür ein paar Erfahrungen über das einhändige Leben und Bruchschmerzen aus, bis sie sagt: "Und wie es passiert ist..."
"Wie ist es denn passiert?"
"Ich bin über’n Hund gestolpert."
Ich bekomme einen Lachanfall.
"Ist jetzt nicht wahr! Mich hat ein Hund angesprungen!"
"Ja, aber bei mir war’s der eigene!"
Wieso sind Patienten im Wartezimmer immer so humorlos? Keiner freut sich, als wir uns vor Lachen auf unseren Stühlen kringeln.

Sie rutscht zu mir. Wir quatschen, und sie gibt mir sogar einen Tipp, "fürs nächste Mal":
"Der Hund muss sofort bestraft werden. Können Sie sich fürs nächste Mal merken: Mit der Hand von oben auf die Schnauze drücken. Dann jaulen die sofort und wissen, dass sie das nicht machen dürfen. Oder in die Rippen treten. Aber nicht mit dem Fuß, sondern mit dem Knie."
Ich glaube, ich ziehe es vor, großen Hunden zukünftig aus dem Weg zu gehen.

Als sie aus dem Behandlungszimmer kommt, verabschiedet sie sich: "Drei Wochen noch, hat er gesagt!" Sie strahlt. Da kann ich ja noch Hoffnung haben, denn sie hat sich ihren Arm höchstens zwei Wochen vor mir gebrochen und hat auch jetzt immer noch Schmerzen drin.

Lange muss ich nicht mehr warten. Zum x-ten Mal muss ich der Äztin alles von vorn erzählen – haben die keine Patientendateien? Sie hätte mir gern den Termin am Dienstag erspart, kommt jedoch heute nicht an mein Röntgenbild von vorgestern ran, weil die Orthopädie unten zu hat – haben die keine Kopierer oder Scanner? Die Schwester wickelt mir eine zusätzliche Binde oben drauf, die ich im Bedarfsfall selbst regulieren kann. Und ich muss am Dienstag früh vor dem Arzttermin noch mal zum Röntgen...

***

Dienstag. Dreiviertel sieben raus und dreiviertel acht zum Bus. An der Haltestelle steht schon eine Frau im türkisblauen T-Shirt und mit adretter Fönfrisur. Nachdem ich ausgestiegen bin, sehe ich, dass zwei Frauen vor mir in dieselbe Richtung eilen, eine davon ist die Fönfrisur. Als ich vor der noch geschlossenen Orthopädie ankomme, warten auch die beiden dort schon. Die Fönfrisur lacht: "Da hätten wir auch gleich zusammen gehen können!"
Dann erzählen die beiden Horrorgeschichten über die Schulmedizin, weil’s grad so schön ins Puzzle passt. Die Fönfrisur hat seit drei Jahren starke Schmerzen im rechten Arm, vor allem in der Ellenbeuge, so dass er in seiner Funktionstüchtigkeit eingeschränkt ist, doch die Orthopädin gibt ihr immer nur Schmerztabletten. Die andere hatte vor einiger Zeit nach einem gut zusammengewachsenen Speichenbruch in der rechten Hand weiterhin Schmerzen im Unterarm, wurde jedoch von der Orthopädin immer wieder weggeschickt mit der lapidaren Auskunft, das sei normal. Als sie eine ganze Zeit später von selbst zur Neurologin ging, stellte die fest, dass ein Nerv aus dem Karpaltunnel herausgedrückt worden und eine OP fällig war. Ich sage resigniert: "Das liegt am ganzen System..."
Die Fönfrisur springt sofort an. "Das ist wahr!" ereifert sie sich. "Wir sind ja nur Patienten zweiter Klasse!"
Na, wenigstens denken sie politisch.

Röntgen tun sie heute nicht, da muss ich in die Radiologie, erfahre ich. Hier machen sie nur Bereitschaft.
"Können Sie mir dann wenigstens das letzte Röntgenbild vom Donnerstag mit hochgeben, damit die Ärztin was in der Hand hat?" frage ich. "Ich find’s nämlich auch nicht so prickelnd, zweimal die Woche geröntgt zu werden."
"Nein, das geht nicht", bekomme ich zur Antwort. "Die Ärztin braucht doch die Verlaufskontrolle, wenn Sie zur Gipskontrolle kommen. Sie müssen schon erst in die Radiologie."
Da ich nicht weiß, wo die Radiologie ist, gehe ich erst mal hoch in die Chirurgie, denn ich bin für 8:15 Uhr bestellt, und es ist schon 8:05 Uhr. Als ich die Eingangstür öffne, pralle ich fast auf den letzten Wartenden in einer Schlange von mindestens 15 Leuten vor der Anmeldung. Ich reiße entsetzt die Augen auf: Was ist denn hier los?! Es geht unendlich langsam voran, so schaffe ich es nie zu meinem Termin. Als sich ein blau bekittelter Mann vorn an der Anmeldung dazwischen drängt, bahne auch ich mir einen Weg zur Theke. Ich hoffe, ihn fragen zu können, weil ich ihn für einen Pfleger halte, bin mir dann aber dessen nicht sicher und wende mich nach seinem Abgang an die Schwester hinter der Theke: "Nur eine kurze Frage..."
Ich will wissen, was denn nun wichtiger sei, sie sagt Röntgen.

Die Radiologie ist im Nachbarhaus um die Ecke, ein ganzes Stück Weg. An der Anmeldung nimmt eine Schwester mit einer Hypoplasie der Arme meine Überweisung entgegen. Ihre Handgriffe sind sehr geübt. Mir fällt spontan Contergan ein, doch das war ja im Westen. Der Wartebereich ist leer, nur ein Opa geistert herum auf der Suche nach seiner Chipkarte. Wobei ihm eine andere Schwester sehr freundlich behilflich ist.
Trotzdem warte ich längere Zeit. Als ich mir gerade meinen Terry Pratchett vornehmen will, werde ich gerufen. Ohne Foto, denn das verschicken sie hier digital, marschiere ich wieder nach unten und entdecke zu meiner Freude, dass es eine direkte unterirdische Verbindung zwischen beiden Häusern gibt, die sogar über den Fahrstuhl zu erreichen ist.

Déjà-vu beim Türöffnen: Während meiner viertelstündigen Abwesenheit ist die Schlange um keinen Zentimeter geschrumpft! Andere Leute, aber gleiche Länge. Na, das kann ja heiter werden! Die Frau, die mit mir zusammen gekommen ist, fragt, was, zum Teufel, hier los sei.
"Ich bin schon so oft hier gewesen, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt! Bestellen die denn alle Patienten zum gleichen Termin?"
Sie ereifert sich mehr und mehr, dass das doch alles nur eine Frage der Organisation sei. Geschlagene 20 Minuten warte ich vor der Anmeldung. Es ist mittlerweile 8:40 Uhr.
Im Wartezimmer mag ich einfach nicht mehr lesen. Direkt neben mich pflanzen sich schon bald zwei Frauen hin, eine ältere und eine junge, beide vulgär aufgemotzt und laut. Vor allem die Junge macht einen fast hyperaktiven Eindruck. Sie ist ununterbrochen in Bewegung, redet pausenlos, streift dabei mit ihren rot lackierten Fingernägeln, von denen überall schon Lack abgeplatzt ist, durch ihre blonde Filzmähne und schüttelt die Haare auf den Boden. Die beiden gehen mir zunehmend auf die Nerven, ich kann ihr Gequassel kaum noch ertragen. Ich rücke einen Stuhl weiter und platziere meine Tasche zwischen sie und mich. Gegenüber nimmt ein ganz anderer Typ Frau Platz: feine Gesichtszüge, Brille, sehr diskret und nicht sonderlich modisch gekleidet, etwas blass. Ich mag zwar diese sinnlichkeitsbefreiten Bildungsbürger-Ortruds auch nicht sonderlich, aber die hier erscheint mir fast wie ein menschlicher Erholungsurlaub gegen den Proll neben mir.

Zum Glück muss ich nun nicht mehr allzu lange warten. Es sind vier Chirurgen da, da verläuft sich der Ansturm zum Glück wieder. Mich empfängt dieselbe Ärztin, bei der ich schon am Sonnabend zur Gipskontrolle war – deshalb also wollte sie mir den heutigen Besuch ersparen. Neben mir bekommt ein älterer Mann einen Verbandwechsel. Die Ärztin studiert mein Röntgenbild. Da ich weit entfernt von ihr sitze, stehe ich auf und gehe zu ihr: "Darf ich auch mal sehen?"
"Ja, kommen Sie her!"
Die Speiche sieht gut aus, besser als bisher, der Bruch scheint schon ein Stückchen zusammengewachsen zu sein. Sie zeigt aber auf zwei der Handwurzelknochen: "Hier sieht man nur einen ziemlich großen Spalt zwischen Mondbein und..."
‚Kahnbein‘, denke ich spontan, bin mir aber nicht sicher.
"... Kahnbein", endet sie. "Die beiden sind durch ein Band verbunden, das kann bei einem Speichenbruch schon mal reißen. Muss aber nicht sein; manche Menschen haben dort einen größeren Spalt. Sollte es gerissen sein, müssen wir operieren. Das kann ich aber jetzt nicht feststellen, dazu müssen wir später noch mal röntgen, wenn Sie einen Ball mit dieser Hand zusammendrücken."
Sie bestellt mich in zehn Tagen wieder. Vor lauter Warterei und Überraschung habe ich vergessen, ihr das erste Röntgenbild zu zeigen, nach der Heilungsdauer zu fragen und ihr die beginnende Hautreizung an Zeigefinger und Handfläche zu zeigen. Außerdem hatte ich noch eine frische blaue Binde mitnehmen wollen.

© Angela Nowicki, 8. Juni 2010