Lost in the Kornish Night
Im Mai 2010 haben wir seit unseren Jugendtramps innerhalb des Ostblocks und unseren üblichen Aufenthalten bei der Familie in Polen unsere erste "richtige" Auslandsreise unternommen. Wir waren in Südengland und Cornwall. Die britischen Inseln waren schon seit mehreren Jahren zum Land meiner Träume geworden, und der erste Besuch dort hat alle Erwartungen noch übertroffen. Diese Reise gehört zu den schönsten und einschneidendsten Erlebnissen in meinem Leben und war eine Art Zäsur - auch in Bezug auf meine Seelenreisen.
Vor dem Zubettgehen mache ich eine stille Seelenreise. Ich suche nach meinem Krafttier, das mich zu meinem Heiler führen soll. Mittlerweile habe ich begriffen, dass mein Heiler nicht mein Lehrer ist, sondern nur meine Beschwerden heilt. Unter dieser neuen Voraussetzung will ich endlich wieder etwas für mein rechtes Knie tun und natürlich auch für meinen gebrochenen Arm.
Der alte Zugang zur Unterwelt scheint jedoch endgültig verschwunden zu sein. Ich sehe heute auch kaum einmal deutliche Bilder, nur das Gefühl, in der kornischen Nacht auf einem Hügel zu stehen, ist sehr intensiv. Doch es erscheint kein Tier, nur viele Fragmente von Eulen, Raubvögeln, Löwen, Schildkröten und Stachelschweinen, die sofort wieder verschwinden. Ich bin durch einen Felsspalt, wie St Nectan’s Glen, in die Unterwelt gestiegen, die dieses Mal kein Tunnellabyrinth war, sondern eine halsbrecherische Kletterpartie an Felswänden.
Mein neues Krafttier
Seit Cornwall komme ich nicht mehr auf meine Lichtung zurück. Jeder Versuch, in die Unterwelt zu gelangen, verlief bislang sehr verwirrend, teils mit vielen, aber unverständlichen Bildern, teils bildlos. Vor über einer Woche war ich beim Einschlafen ins Feenland geraten, und eine Elfe führte mich auch. Diese Reise war voller beeindruckender Bilder, die ich aber leider schon wieder vergessen habe.
Dieses Mal weder Trommel noch Stille, sondern Le Chant à l’infini von Hildegard von Bingen. Der Engelsgesang versetzt mich schon nach kurzer Zeit in eine ideale Berglandschaft, in der ich mich beheimatet fühle. Nach längerer Wanderung gelange ich an eine Höhle in einem Felsen, aus der der Gesang hervordringt. Der Eingang gleicht dem in eine Kathedrale. Er führt mich in eine riesige Halle mit verglaster Decke, ähnlich einem Viktorianischen Bahnhof. Dort singt der unsichtbare Engel.
Und auf einmal ist die Schildkröte da – sichtbar und unverwechselbar. Schon oft meinte ich auf den letzten Reiseversuchen, eine Schildkröte zu sehen, doch ich habe das Bild immer verworfen – vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, meinem Stachelschwein "untreu" zu sein? Dieses Mal ist sie nicht mehr zu übersehen. Auch sie zeigt sich in gewisser Weise verspielt, aber mehr auf eine hemdsärmelig-grantige Art. Sie leckt mir das Gesicht und setzt sich dann gemächlich in Bewegung.
Über einen kurzen Gang, der einige Fuß über dem Boden in den Felsen hinein führt, kommen wir in einer anderen Welt – der Unterwelt – heraus. Über der Erde wallt eine helle Masse, die an Wolken erinnert, aber viel dichter ist. Ich frage die Schildkröte, was das sei, und sie sagt:
"Das sind Träume."
"Träume in der Unterwelt?"
Ja, man träumt so allerhand, nicht wahr?
Endlich mal ein Krafttier, das mit mir spricht!
Auf meine Frage nach ihrem Namen wendet sie kurz den Kopf und blickt wieder nach vorn:
"Nenn mich Hulda, wenn du willst."
Vor uns steht eine riesige menschliche Gestalt.
"Wer ist das?" frage ich Hulda.
"Deine Kraft", antwortet sie.
Meine Kraft setzt sich an den rechten Wegrand und schaut mürrisch und ein bisschen bedrohlich drein. Im Sitzen ist sie immer noch viel größer als ich.
Dann erscheint links ein riesiges Auge in den Wolken.
"Was ist das für ein Auge?"
"Du bist nicht allein", sagt Hulda.
Ich will nicht mehr weitergehen und bitte Hulda, zu mir zu kommen. Ich frage sie nach meinem Stachelschwein. Erst will sie nicht so richtig mit der Sprache heraus, meint dann aber, es sei alles in Ordnung.
"Warum kommt es nicht mehr?" frage ich.
Hulda zögert eine Weile. Dann wirft sie im Umdrehen hin:
"Das ist deine Welt."
Ich erkläre ihr, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, dem Stachelschwein untreu geworden zu sein, doch sie geht gar nicht richtig darauf ein:
"Ich werde auch fortgehen", nuschelt sie und: "Du änderst dich."
Eine letzte Frage brennt mir noch auf der Zunge:
"Schildkröte, kannst du mir sagen, warum du zu mir gekommen bist? Was du mir geben willst?"
Wieder scheint es, als habe sie keine Lust, mir diese Frage zu beantworten. Dann baut sie sich vor mir auf und meint beiläufig:
"Schaff dir erst mal so einen Panzer an!"
Das klang nicht sonderlich ernst, eher, als wolle sie mich in ihrer ruppigen Art veralbern. Schließlich jedoch fragt sie mich:
"Du liebst doch Schildkröten. Warum?"
"Oh... ich finde Schildkröten einfach schön... Sie sind uralt, weise und unendlich würdevoll. Ihre Schönheit liegt in ihrer Weisheit und Würde, genau."
Es ist, als zucke Hulda mit den Schultern und teile mir telepathisch ein lakonisches "Na, bitte!" mit.
Ich will zurück, die Eindrücke genügen mir fürs Erste. Ohne dass ich etwas gesagt habe, kehrt Hulda wortlos um und geleitet mich wieder in die Halle. Mir fällt auf, dass ihre ruppige Art nicht gerade das ist, was ich momentan emotional brauche.
"Hulda", klage ich traurig, "bin ich liebenswert?"
Da dreht sie sich zu mir um, streckt ihren faltigen Hals ganz lang nach vorn, schürzt die Lippen und gibt mir einen Kuss auf den Mund. Dabei hat sie plötzlich ein Hütchen auf. Das Ganze wirkt so urkomisch, dass ich ganz übermütig werde.
"Du kommst wieder", sagt Hulda, als ich mich verabschieden will.
Ich verlasse den Felsen und vertiefe mich noch viele Minuten lang in das unendliche Bergpanorama, das sich draußen vor meinen Augen erstreckt.
Im Mai 2010 haben wir seit unseren Jugendtramps innerhalb des Ostblocks und unseren üblichen Aufenthalten bei der Familie in Polen unsere erste "richtige" Auslandsreise unternommen. Wir waren in Südengland und Cornwall. Die britischen Inseln waren schon seit mehreren Jahren zum Land meiner Träume geworden, und der erste Besuch dort hat alle Erwartungen noch übertroffen. Diese Reise gehört zu den schönsten und einschneidendsten Erlebnissen in meinem Leben und war eine Art Zäsur - auch in Bezug auf meine Seelenreisen.
Vor dem Zubettgehen mache ich eine stille Seelenreise. Ich suche nach meinem Krafttier, das mich zu meinem Heiler führen soll. Mittlerweile habe ich begriffen, dass mein Heiler nicht mein Lehrer ist, sondern nur meine Beschwerden heilt. Unter dieser neuen Voraussetzung will ich endlich wieder etwas für mein rechtes Knie tun und natürlich auch für meinen gebrochenen Arm.
Der alte Zugang zur Unterwelt scheint jedoch endgültig verschwunden zu sein. Ich sehe heute auch kaum einmal deutliche Bilder, nur das Gefühl, in der kornischen Nacht auf einem Hügel zu stehen, ist sehr intensiv. Doch es erscheint kein Tier, nur viele Fragmente von Eulen, Raubvögeln, Löwen, Schildkröten und Stachelschweinen, die sofort wieder verschwinden. Ich bin durch einen Felsspalt, wie St Nectan’s Glen, in die Unterwelt gestiegen, die dieses Mal kein Tunnellabyrinth war, sondern eine halsbrecherische Kletterpartie an Felswänden.
Mein neues Krafttier
Seit Cornwall komme ich nicht mehr auf meine Lichtung zurück. Jeder Versuch, in die Unterwelt zu gelangen, verlief bislang sehr verwirrend, teils mit vielen, aber unverständlichen Bildern, teils bildlos. Vor über einer Woche war ich beim Einschlafen ins Feenland geraten, und eine Elfe führte mich auch. Diese Reise war voller beeindruckender Bilder, die ich aber leider schon wieder vergessen habe.
Dieses Mal weder Trommel noch Stille, sondern Le Chant à l’infini von Hildegard von Bingen. Der Engelsgesang versetzt mich schon nach kurzer Zeit in eine ideale Berglandschaft, in der ich mich beheimatet fühle. Nach längerer Wanderung gelange ich an eine Höhle in einem Felsen, aus der der Gesang hervordringt. Der Eingang gleicht dem in eine Kathedrale. Er führt mich in eine riesige Halle mit verglaster Decke, ähnlich einem Viktorianischen Bahnhof. Dort singt der unsichtbare Engel.
Und auf einmal ist die Schildkröte da – sichtbar und unverwechselbar. Schon oft meinte ich auf den letzten Reiseversuchen, eine Schildkröte zu sehen, doch ich habe das Bild immer verworfen – vielleicht, weil ich das Gefühl hatte, meinem Stachelschwein "untreu" zu sein? Dieses Mal ist sie nicht mehr zu übersehen. Auch sie zeigt sich in gewisser Weise verspielt, aber mehr auf eine hemdsärmelig-grantige Art. Sie leckt mir das Gesicht und setzt sich dann gemächlich in Bewegung.
Über einen kurzen Gang, der einige Fuß über dem Boden in den Felsen hinein führt, kommen wir in einer anderen Welt – der Unterwelt – heraus. Über der Erde wallt eine helle Masse, die an Wolken erinnert, aber viel dichter ist. Ich frage die Schildkröte, was das sei, und sie sagt:
"Das sind Träume."
"Träume in der Unterwelt?"
Ja, man träumt so allerhand, nicht wahr?
Endlich mal ein Krafttier, das mit mir spricht!
Auf meine Frage nach ihrem Namen wendet sie kurz den Kopf und blickt wieder nach vorn:
"Nenn mich Hulda, wenn du willst."
Vor uns steht eine riesige menschliche Gestalt.
"Wer ist das?" frage ich Hulda.
"Deine Kraft", antwortet sie.
Meine Kraft setzt sich an den rechten Wegrand und schaut mürrisch und ein bisschen bedrohlich drein. Im Sitzen ist sie immer noch viel größer als ich.
Dann erscheint links ein riesiges Auge in den Wolken.
"Was ist das für ein Auge?"
"Du bist nicht allein", sagt Hulda.
Ich will nicht mehr weitergehen und bitte Hulda, zu mir zu kommen. Ich frage sie nach meinem Stachelschwein. Erst will sie nicht so richtig mit der Sprache heraus, meint dann aber, es sei alles in Ordnung.
"Warum kommt es nicht mehr?" frage ich.
Hulda zögert eine Weile. Dann wirft sie im Umdrehen hin:
"Das ist deine Welt."
Ich erkläre ihr, dass ich ein schlechtes Gewissen habe, dem Stachelschwein untreu geworden zu sein, doch sie geht gar nicht richtig darauf ein:
"Ich werde auch fortgehen", nuschelt sie und: "Du änderst dich."
Eine letzte Frage brennt mir noch auf der Zunge:
"Schildkröte, kannst du mir sagen, warum du zu mir gekommen bist? Was du mir geben willst?"
Wieder scheint es, als habe sie keine Lust, mir diese Frage zu beantworten. Dann baut sie sich vor mir auf und meint beiläufig:
"Schaff dir erst mal so einen Panzer an!"
Das klang nicht sonderlich ernst, eher, als wolle sie mich in ihrer ruppigen Art veralbern. Schließlich jedoch fragt sie mich:
"Du liebst doch Schildkröten. Warum?"
"Oh... ich finde Schildkröten einfach schön... Sie sind uralt, weise und unendlich würdevoll. Ihre Schönheit liegt in ihrer Weisheit und Würde, genau."
Es ist, als zucke Hulda mit den Schultern und teile mir telepathisch ein lakonisches "Na, bitte!" mit.
Ich will zurück, die Eindrücke genügen mir fürs Erste. Ohne dass ich etwas gesagt habe, kehrt Hulda wortlos um und geleitet mich wieder in die Halle. Mir fällt auf, dass ihre ruppige Art nicht gerade das ist, was ich momentan emotional brauche.
"Hulda", klage ich traurig, "bin ich liebenswert?"
Da dreht sie sich zu mir um, streckt ihren faltigen Hals ganz lang nach vorn, schürzt die Lippen und gibt mir einen Kuss auf den Mund. Dabei hat sie plötzlich ein Hütchen auf. Das Ganze wirkt so urkomisch, dass ich ganz übermütig werde.
"Du kommst wieder", sagt Hulda, als ich mich verabschieden will.
Ich verlasse den Felsen und vertiefe mich noch viele Minuten lang in das unendliche Bergpanorama, das sich draußen vor meinen Augen erstreckt.
© Angela Nowicki, 8. Juni und 2. Juli 2010
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