Freitag, 5. August 2011

Kapitel 1: Kuhfraß - Oder-Neiße-Friedensgrenze

oder
Wenn man nur lange genug nach Osten geht, kommt man auch in den Westen

Diese Geschichte ist keine Reportage. Es ist ein Konglomerat aus eigenen und fremden Erinnerungen aus verschiedenen Zeiten, politischen Fakten, Fiktion und Träumen. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen, Einrichtungen oder Ereignissen sind nicht beabsichtigt, wenngleich natürlich auch nicht zufällig. Wenn sich jemand angesprochen fühlt, wird das schon seinen Grund haben.

***

Irgendwann kotzte alles sie an, da hat sie heimlich sich aufgemacht.
Jeans und Parka zog sie sich an, und ihre Plane war ein Zelt für die Nacht.
Ach, was hast du für Illusionen, Mädchen, überleg doch mal:
Willst in der Welt vor der Welt weglaufen und wohin, ist dir egal.

Die Beskiden waren ihr Ziel, da wollte sie schon immer hin.
In der Wildnis mit den Hippies leben, das allein hatte für sie noch Sinn.
Wildnis! Das sind doch nur Illusionen, Mädchen, überleg doch mal:
Dafür sind wir längst viel zu zivilisiert, und wie du’s schaffst, ist dir egal.

***

Neila war immer so gewesen: kopfüber rein in die emotionale Welle und durch. Und wenn es schiefging? Es gab kein Schiefgehen für Neila. "Was geschieht, ist gut", war ihre Devise. Wenn sie liebte, war es toll, wenn sie litt, war es eine weitere Erfahrung, und wenn sie umgekommen wäre? Sie riskierte es.
"Hast du denn überhaupt keine Angst?" hatte eine Kollegin viele Jahre später einmal gefragt, als Neila sich nach der Spätschicht aufmachte, allein den weiten Weg durch eine dunkle Kleingartensiedlung nach Hause zu gehen. Doch, klar hatte sie Angst. Vor Schlägen. Vor Nachtfaltern. Vor Bloßstellung. Auch vor der Dunkelheit, aber da hatte sie schon ganz andere Wege hinter sich.

In den Siebzigern, als sie noch alles vor sich hatte, da war die unerträglichste Angst die, die Welt nicht zu sehen. Nichts zu erleben, für immer eingesperrt zu bleiben in den Achtstundentag in einem Kollektiv der sozialistischen Arbeit plus kollektive Freizeitgestaltung, fünfundvierzig Jahre in immer demselben Beruf bis zur Rente in der Gartenzwergkolonie "Heimaterde", in einem braunkohlestinkenden Land ohne Farbe mit dem täglich grüßenden Murmeltier, Big Brother Watching und der Polizei, deinem "Freund und Helfer, die ist immer auf der Wacht, ob ich gehe oder stehe, ob es Tag ist oder Nacht. Neulich war sie auch beim Trampen mit dabei...", hatte Gerhard Schöne gesungen, als er noch kaum bekannt war und in Outsiderkreisen auf zigmal überspielten Tonbändern kreiste. Später, als er schon bekannt war und im Fernsehen auftreten durfte, sang er trotzdem noch:
So also ist nun das Leben, wenn alles glatt abläuft nach Plan:
Schmerzarme Geburt, Krippe, Schule, dann Lehre mit Moped und ‚Zahn‘.
Was soll ich noch schaffen, noch kaufen?
Was fehlt noch zum Glück und zum Spaß?
Ist denn schon alles gelaufen – oder fehlt da noch was?
Ach, da fehlte so gut wie alles, und Neila beschloss, nichts sei gelaufen.

An einem kalten Donnerstagmorgen im März 1977 zog sie sich Jeans und Parka an, packte ihren Rucksack, schnallte die Plane drauf und schlitterte von ihrem einsamen Bungalow am Waldrand, in dem sie allein eine Betriebswohnung des Pflegeheims, in dem sie arbeitete, bewohnte, den steilen Hang durch den Wald zur Landstraße runter und... Ich hätte jetzt zu gern geschrieben: streckte den Daumen in den Wind, aber das kam erst später. Von Kuhfraß bis Rudolstadt musste man laufen, wenn nicht zufälligerweise der Bus oder das einzige Auto am Tag vorbeiknatterte.

Menschen, die nicht in der DDR gelebt haben, muss ich hier kurz etwas erläutern: Was Neila tat, war strafbar. In diesem Staat konnte man nicht einfach "der Arbeit fern bleiben" und womöglich noch verschwinden. Man riskierte damit keine Kündigung, das wäre für manchen sogar eine wünschenswerte Option gewesen, sondern weitaus Schlimmeres: Man riskierte die ganze Palette "erzieherischer Maßnahmen" der proletarischen Überwachungsdiktatur, von denen eine "Aussprache im Kollektiv" noch das Geringste war, bis hin zum Knast.

Neila riskierte zur Anklage wegen "arbeitsscheuen Verhaltens" und möglicher "Republikflucht" natürlich auch noch eine Vermisstenanzeige, aber so weit dachte sie damals beim besten Willen nicht. Man kann ja nicht an alles denken.

Republikflucht? So weit ging Neilas Furchtlosigkeit nun auch wieder nicht, dass sie ernsthaft erwogen hätte, sich in den Stacheldraht nach Westen zu stürzen. Die Erde ist rund. Wenn man nur lange genug nach Osten läuft, kommt man auch irgendwann im Westen an. Außerdem kannte Neila schließlich eine ganze Schar Hippies in Polen, allen voran die aus der Kommune in Caryńskie in den Ostbeskiden, genauer: den Bieszczady. Seitdem sie im Vorjahr auf ihren Tramps dort einmal gelandet war, träumte sie davon, sich für immer dort niederzulassen. Vielleicht. Also hielt sie in Rudolstadt nun endlich Nase und Daumen in den Wind und wandte sich gen Osten.

Ungeachtet des sie von da an ständig begleitenden Gefühls, gehetzt zu werden, verlief der Tramp außergewöhnlich hindernisfrei. Am Nachmittag war sie in Görlitz. Hier erreichte die Angst ihren Höhepunkt; sie war soeben dabei, die Oder-Neiße-Friedensgrenze zu überschreiten. An sich kein Problem, sollte man denken, schließlich gab es seit fünf Jahren den visafreien Reiseverkehr zwischen der DDR und Polen. Doch beim Grenzübertritt erhielt man einen Sichtvermerk in den Personalausweis, und das visafreie Aufenthaltsrecht in Polen erstreckte sich für DDR-Bürger nur auf 30 Tage. Dass Neila nicht vor hatte wiederzukommen, wusste natürlich zunächst niemand, doch immerhin rechnete sie damit, schon jetzt polizeilich gesucht zu werden.
Als die Sparkassenangestellte in Görlitz sie komisch anschaute, nachdem sie ihr ihren Auszahlungsauftrag über 700 Mark - ihr ganzes Vermögen - vorgelegt hatte, durchfuhr sie deshalb ein heißer Schreck, und sie glaubte schon, entdeckt worden zu sein, noch bevor sie überhaupt richtig abgehauen war.
"Sie dürfen höchstens 500 Mark auf einmal abheben", schnappte die Dame, als sei sie persönlich beleidigt worden.
Neilas Herz begann zu rasen. Bloß nicht auffallen! Die Tarnkappe, wo ist meine Tarnkappe? Fahrig kritzelte sie einen neuen Auftrag über die erlaubten 500. Bekam ihr Geld. Tauschte 400 in Złoty um. Verließ die Kasse fluchtartig. Hechtete über die Grenze.

Polen! Der "kleine Westen", wie er von vielen Abenteuer suchenden Jugendlichen aus der DDR genannt wurde. Für Neila war jede erste Stunde in Polen ein Rausch. Es roch anders. Es klang anders. Es lag ein anderes Licht auf der Welt, Herbstfarben, warme Farben, Grün und Gold und der Geruch nach Weizen (wieso ausgerechnet Weizen?) und scharfem Tabak, das war Polen. Der Mensch entspannte sich, er pfiff auf kollektive Normen und staatliche Vorschriften, er ließ sich von seinen Fantasien treiben und selbstredend auch von Illusionen, er öffnete sein Herz und sein Haus. Und er saß auf dem Boden. Jedenfalls, wenn er jung war und lange Haare hatte.

Polen. Endlich frei.

Erinnerungen stiegen auf. Im Vorjahr hatte sie diese Grenze barfuß "überschritten" und damit einige eigenartige Erlebnisse provoziert.

2 Kommentare:

Herbert hat gesagt…

Vielversprechender Anfang - bitte mach weiter, ich bin ganz gespannt auf Deine Erlebnisse in Carynskie! 1977 war ich übrigens auch schon mit einem Bein in Polen (Krishnakommune in Wroclaw, dann bei Hippies in Krakow und bei meiner Freundin in Lublin).

magaluisa hat gesagt…

Danke, Herbert! Du warst es ja, der mich jahrelang geschubst hat, die Geschichten aufzuschreiben. Mit Erfolg, wie man sieht, und jetzt geht's weiter - gnadenlos. :D