Mittwoch, 3. August 2011

Michael

Michael war ein hübscher Junge mit langen braunen Haaren, und wenn Neila sich recht erinnert, hatte er durchaus Ähnlichkeit mit dem Mann, der ihr einst erschienen war, um ihr zu zeigen, was sie essen soll, und vielleicht sogar mit dem Schlüsselverwalter, der sie am Tor zur Oberwelt in Empfang genommen hatte, als sie um Rat für eine Freundin gekommen war.
Man kann wohl nicht behaupten, dass Neila eine Liebesaffäre mit ihm hatte, aber er mochte sie anscheinend sehr und umarmte, streichelte und liebkoste sie wieder und wieder. Neila aber kehrte immer zurück zu Leon ins "normale" Leben, und dann kam sie wieder, und er freute sich sehr und umarmte, streichelte und liebkoste sie.
Wenn Neila bei ihm war, lebte sie ein anderes Leben: ein intuitives Leben. Sie ließen sich treiben wie Vagabunden, tauschten Inspirationen aus, hörten einander zu... Es war ein auf eine gewisse Art vergeistigtes Leben, fern von täglichen Pflichten und Sorgen.
Es gab dort auch andere Mädchen, und wenn Michael mit ihnen zärtlich wurde, war auch das normal und ganz selbstverständlich. Neila war ohnehin klar, dass so ein junger, hübscher Kerl doch nichts Erotisches für so eine alte, hässliche Frau wie sie, die immerhin seine Mutter sein könnte, empfinden kann. Dennoch träumte sie davon, mit ihm zusammen zu sein.

Einmal überschnitten sich die Welten. Eben zog Michael sie zu sich herunter und schmiegte sich an sie, als ihr plötzlich wieder Leon einfiel. Zunächst dachte sie: "Leon weiß doch von meinem Freund. Bestimmt ist es auch für ihn normal, dass wir uns umarmen." Doch auf einmal wurden ihr die Zärtlichkeiten zu intensiv. Das waren keine bloßen freundschaftlichen Umarmungen mehr, und so musste das auch Leon wahrnehmen, wenn er sie sehen könnte. Aus Angst also entzog sie sich der Umarmung und löste sich schließlich ganz von Michael, um zurück zu Leon zu gehen.
Da sagte der Junge: "Wenn du dich entschließt, Leon zu verlassen, werde ich auf dich warten."
Neila hatte nicht die Absicht, Leon zu verlassen, und ging. Zu Hause jedoch, bei Leon, überfiel sie mit einem Mal die Gewissheit, dass sie selbstverständlich viel lieber mit dem Jungen zusammen sein wollte. "Dort" waren Liebe und Freiheit - "hier" waren Enge und ewige Pflicht und Schuld. Natürlich wollte sie von Leon weg! Aber sie wusste nicht wie, ohne sich wiederum Leon gegenüber schuldig zu machen.

In ihrer Verzweiflung ging sie wieder zu dem Jungen. Als er sie fest an sich drückte, fragte sie ihn: "Würdest du denn mit mir zusammenbleiben wollen? Bestimmt nicht..."
Er antwortete lachend: "Nein."
"Siehst du, das wusste ich doch."
‚Als könnte ich Leon nur für einen neuen Partner verlassen...‘, dachte sie.
Unverändert liebkoste und streichelte Michael sie.

***

Auf ihrem Weg begegnete Neila einem älteren Mann, der in einem Torbogen stand. Sie sprach ihn an, er antwortete ihr freundlich, und es entspann sich ein Gespräch zwischen ihnen. Über Allerweltsthemen: Wetter, Alltagssorgen, Politik. Als der Mann sich dann jedoch über die Finanzlage im Ausland auszulassen begann, fühlte Neila sich etwas überfordert und entgegnete, darüber wisse sie gar nichts, sie sehe schon seit langer Zeit nicht mehr fern.
Auf einmal stand ihr Freund neben ihr und sagte: "Du bist manchmal so unecht."
"Wann denn?" fragte Neila unbehaglich.
Aber Michael ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er lächelte, als er mit sanfter Stimme sagte: "Weißt du, es gibt eine unechte, eine halbechte und eine echte Neila. Am unechtesten bist du, wenn du ernst wirst und sagst: 'Ich muss jetzt Staub saugen.'..."
Sofort setzte Neila ihre ernste, verantwortungsbewusste Miene auf, dachte an ihre nächste Pflicht und hielt einen Staubsauger in der Hand. Sofort stand auch Leon neben ihr.
Sie fragte: "Du meinst also, ich bin unecht, wenn ich ernst bin und mich dem Alltag widme, und ich bin echt, wenn ich lache und intuitiv lebe?"
Er nickte. Sie verstand, dass sie in Situationen, wie dem Gespräch mit dem älteren Mann, wohl die halbechte Neila sei. Sie sah den Jungen bewundernd an: "Du bist so unendlich weise!"
Er lächelte charmant.
Und Neila sagte: "Ich muss bei dir bleiben. Ich brauche deine Weisheit."

***

Michael lief mit Neila über den Marktplatz ihrer Heimatstadt und führte sie in ein Kaufhaus. Dort zeigte und erklärte er ihr Gegenstände und umarmte sie wieder und wieder. Dem jungen Mädchen an der Kasse schien das gar nicht zu gefallen. Sie hatte kurze Haare und trug eine grün gemusterte Bluse. Sie kam herüber und warf Neila einen giftigen Blick zu.
"Wer ist das denn?"
Offensichtlich war sie eifersüchtig. Ohne zu wissen woher, war Neila schlagartig klar, dass das Michaels feste Freundin sein musste. Er jedoch ließ keinerlei Verlegenheit erkennen. Er stellte sie einander vor, sie stellten einander vor, wobei Neila sich bemühte, die andere zu beruhigen und ihre Sympathie zu gewinnen. Die mochte sie trotzdem nicht. Michael umarmte sie wieder, doch nun entzog sie sich schon energischer.
Schließlich würde er die Grüne ja nicht für sie verlassen.
Unverändert heiter zog er also mit der Grünen im Arm los. Verlieren wollte Neila ihn aber auch nicht. "Warte mal!" rief sie ihm hinterher.
Er wandte sich um.
"Können wir es nicht so machen, dass wir immer zusammenkommen, wenn wir uns brauchen? Weißt du, was ich meine? Wenn du aus irgendeinem Grund bei mir sein möchtest, kommst du einfach zu mir..."
'Das hat schon bei Wolf nicht geklappt', kommentierte ihre innere Stimme. 'Die Kerle mögen so was nicht. Pass auf, gleich empört er sich!'
Er empörte sich nicht. Er lächelte sie weiterhin schelmisch an und reagierte gar nicht. Neila verstand das als nett gemeinte Absage. Wieder wandte er sich um und zog weiter, mittlerweile mit zwei jungen Mädchen im Arm. Das schien die Grüne nun nicht mehr zu stören. Die Zweite trug eine rot karierte Bluse.
Verzweifelt wagte Neila einen letzten Versuch.
"Hör mal!" rief sie dem Jungen hinterher. "Und wenn ich Leon nun doch verlasse... Wirst du immer noch auf mich warten?"
Jetzt wandte er sich nicht mehr um.
"Ja, natürlich!" hörte sie ihn nur rufen. Lachend.

Erst jetzt wurde Neila richtig bewusst, dass sie in ihrer Heimatstadt war. Sie irrte durch die Straßen, fuhr mit Straßenbahnen, verpasste Straßenbahnen und langte endlich vor ihrem alten Haus an. Sie fasste einen wilden Entschluss. Sie rief Leon an und teilte ihm mit, dass sie sich jetzt hier eine Wohnung nehme und hier bleibe.
"Das heißt also, du verlässt mich", hörte sie Leon bitter sagen.
Sie beeilte sich, ihm wortreich zu versichern, dass sie ihn nicht verlasse: "Keine Angst, das habe ich nicht vor, ich will nur..."

Mit voller Wucht überfiel sie die Erkenntnis, dass sie log. Und dass sie sich mit jeder weiteren Lüge in diesem heimlichen Trennungsplan tiefer an Leon schuldig mache. Ihre bisherige "Schuld" war ein reines Phantom von ihr. Die wahre Schuld fing hier an.

Diese Erkenntnis war so zerschmetternd, dass Neila hemmungslos zu weinen begann. Sie begriff, dass man einen Eingang wohl überall findet, aber niemand sagt einem, dass es keinen Ausgang gibt.

© Angela Nowicki, 5. Juni 2010

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