Montag, 22. August 2011

Kapitel 2: Radeberg - Częstochowa (5)


Donnerstag, 12. August 76

Ganz lieb werde ich geweckt. Regina kniet vor der Couch und ruft zärtlich: "Neila!" So stehe ich gern auf. Ich bin unerwarteterweise putzmunter und guter Laune. Das Radio spielt dufte Musik, Zähne putzen, anziehen, packen. Zwei Marmeladenstullen verdrück ich und eine Flasche Limo, rauche noch eine Semper von ihr. Kurz nach fünf gehen wir los. Sie bringt mich noch an meinen Bus, wir verabschieden uns kurz.

Ich fahre bis zur Endhaltestelle, wie Regina gesagt hat - natürlich ist das viel zu weit. Also wieder zurück. Arbeiter kommen von der Nachtschicht. Seltsam, in Jena sind die verschiedensten Dialekte zu Hause: vom rotzigsten Gassen-Hallesch über betuliches Sächsisch und feines Hochdeutsch bis zur breiten Erfurter Mundart. Auf dem Holzmarkt frage ich nach dem Bahnhof. Es ist kurios: Eine Stadt, nicht größer als Görlitz, und jedesmal bekommt man zur Antwort:
"Welcher Bahnhof?"
Aber bitte, Jena hat davon drei!
Ich sage, dass mir das egal ist, und lande auf dem Paradiesbahnhof. Dass er klein ist, macht nichts, er hat Gepäckautomaten. Ich packe ein bisschen um, schließe das Gerümpel ein und ziehe wieder los in die Stadt zur Uni.
Der Weisheitszahn wird das Hauptgebäude sein, denk ich und trete ein. Der Herr, an den ich schließlich gerate, informiert mich, dass die Fachrichtung Theologie im Hauptgebäude zu finden ist, und das ist ein anderes. Ich trabe weiter, finde auch das richtige Hauptgebäude, laufe einmal drumrum, dann weiß ich, wo's reingeht. Der Pförtner ist sehr freundlich. Er lacht mich an: Um neun wird vielleicht jemand da sein.

Also laufe ich noch ein Stück durch die Stadt, eine erste Bekanntschaft mit ihr zu schließen. Einmal kommt mir ein Tramper entgegen; ich habe ihn schon vom Bus aus gesehen. Er gefällt mir. Er sieht bald aus wie Serge, der communiste français: dünn, mächtiger Wuschelkopf, Schildmütze und Parka. Ich gehe vorbei. Vielleicht treffe ich ihn nachher noch mal, dann spreche ich ihn an, denke ich.
Zuerst gerate ich an eine katholische Kirche, die ich mir rundum anschaue. Hier oben sieht es überhaupt sehr romantisch aus; der Stadtteil gefällt mir. Ich gehe auf den Friedhof gegenüber. Er gehört zur Friedenskirche. Schön groß, schön verwinkelt, schön verwildert. Ich fühle mich wohl. Es sind auch etliche bekannte Gräber da, von Carl Zeiss zum Beispiel, einige schaue ich mir an. Dutzende von Erbbegräbnissen. Die Kirche ist auch schön, aber verrammelt. Schlüssel in der Gärtnerei, lese ich. Die Gärtnerei befindet sich in einem der durch Mauern abgegrenzten Teile des Friedhofes, in dem einige junge Burschen mit Harken und Schubkarren umherlaufen. Die Gärtner. Ich verziehe mich in einen abgelegenen Winkel gleich hinter Carls Grab. Von Gesträuch verborgen, hocke ich mich auf das Gras und spiele Flöte. Lange. Frieden rundum.

Langsam mache ich mich wieder auf den Weg. Eine alte Burgruine lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich, aber es stinkt dort nur nach Hundepisse, und reinzuklettern habe ich jetzt keine Lust. So gehe ich langsam wieder hinunter in die Unigegend. Ich habe Hunger. Auf einem Marktplatz haben sie einen Haufen Stände aufgebaut. An einem werden Rostbratwürste verkauft. Ich stelle mich in die Schlange der Hungrigen. Vor mir unterhält sich eine ungarische Touristenfamilie ziemlich lautstark. Es macht Spaß, sie zu beobachten. Die Wurst ist lang und heiß und schmeckt wunderbar. Hinterher rauche ich eine und schlendere über den Platz. Ein langhaariger Typ kommt mir entgegen, ich kenne ihn irgendwoher und überlege krampfhaft, wo ich ihn hinstecken soll. Es fällt mir nicht ein. An einem anderen Stand kaufe ich mir einen Becher Limo und trinke ihn voller Gier zwischen Bier kippenden Männern gleich aus. Irgendwo kaufe ich mir noch ein Eis, setze mich in irgendeinen Park, um eine zu rauchen - Jena hat schöne Parks -, dann mach ich mich allmählich wieder zur Uni auf.
Aus dem Zimmer, an das mich der freundliche Pförtner verwiesen hat, kommt eine Frau, die ich anspreche. Sie bedauert, der Zuständige für die Theologische sei nicht da, aber wenn ich mal einen Moment Zeit hätte... Nach ein paar Minuten kommt sie wieder. Ja, Herr Sowieso möchte gern mit mir sprechen, das wird aber erst so in einer Stunde, gegen zehn.

Als ich runterkomme, beschließe ich, die Uni-Bücherei gleich gegenüber aufs Korn zu nehmen. Mit der Zeit lese ich mich fest. Als ich denke, jetzt müsste's so etwa zehn sein, trabe ich los. Noch mal hoch. Einem Mann, der in der offenen Tür steht, sage ich Bescheid, er meldet mich an. Von drin höre ich plötzlich:
"Die Studentin war für um zehn bestellt! Jetzt muss sie warten."
Es ist elf! Ich warte also noch einmal ziemlich lange, dann endlich werde ich hinein gebeten. Ein älterer, sehniger Herr mit Parteiabzeichen hört sich mein Anliegen an. Ja, da gibt es nichts anderes, als sich zu bewerben, ordnungsgemäß. Bewerbungsunterlagen bei jedem Rat der Stadt, draufschreiben, dass ich dieses Jahr eventuell noch... und dann werden wir weitersehen. Die Beurteilung des Betriebes gehört dazu. Als ich vorsichtig anfrage, ob von allen Betrieben oder nur vom letzten, ist der gute Mann etwas fassungslos.
"Ein Jahr, sagen Sie, haben Sie gearbeitet? In wie vielen Betrieben waren Sie denn da?"

Als ich wieder draußen bin, stelle ich im Kopf erst mal eine Liste auf all der Dinge, die zur Studienbewerbung gehören, die ich also jetzt so schnell wie möglich zu erledigen habe: die Formulare beschaffen beim Rat der Stadt, Passbilder anfertigen lassen, zum allgemeinen Arzt gehen wegen der Gesundheitsbescheinigung, Rothenburg, Görlitz und Radeberg wegen der Beurteilungen anschreiben, Lebenslauf und Begründung des Studienwunsches schreiben, eine Zeugnisabschrift anfertigen und auf dem Notariat beglaubigen lassen. Eine ganz schöne Stange. Etliches davon kann ich jetzt gleich machen, beschließe ich, zum Beispiel die Formulare holen, zum Arzt und zum Fotografen gehen.

Als Erstes frage ich mich zum Rat der Stadt durch. Endlich lande ich im richtigen Gebäude in der richtigen Abteilung. Es findet gerade eine Besprechung statt. Eine nette junge Frau bittet mich leise, in einer Viertelstunde wiederzukommen, sagt mir auch, an welche Kollegin ich mich zu wenden habe. Ich steige die sechs Stockwerke wieder runter. Unten setze ich mich auf die Mauer, rauche eine. Der langhaarige Typ vom Marktplatz erscheint plötzlich wieder. Er wartet gegenüber auf die Straßenbahn. Und plötzlich fällt mir auch ein, wer das sein könnte: der Kunde, der in Zella, von einem langen Wintertramp zurück, ins Kaluga kam, als ich grade mit Lutz da war. Lutz hatte ihn begrüßt, und ich hatte mich dann noch eine Weile mit ihm unterhalten. Er scheint auch auf mich aufmerksam geworden zu sein, ich traue mich dennoch nicht, rüberzugehen und ihn anzusprechen.
Nach der Zigarette geh ich wieder hoch. Die Sitzung sitzt immer noch, wird aber nach fünf Minuten endlich beendet. Die junge Frau, an die ich mich wende, sucht etwas hilflos nach den gewünschten Formularen, schließlich habe ich aber alles beisammen, außer einem Formular für die Gesundheitsbescheinigung, doch das ist ja sowieso nicht notwendig.
Unten frage ich mich nach der Poliklinik durch. Eine Straßenbahn fährt mich hin. Der praktische Arzt hat heute keine Sprechstunde, erfahre ich. Kopfschmerzen beginnen, sich anzubahnen, ich möchte zurück nach Karl-Marx-Stadt. So fahre ich mit der Bahn zum Holzmarkt und laufe zum Bahnhof. Nachdem ich mein Gepäck wieder günstmöglichst alright habe, geht's zum Bus, und der fährt mich dorthin, wo ich reingekommen bin, nach Neulobeda Ost. Ich laufe die Straße vor und trampe dabei.

Es lässt sich beschissen an: Keiner hält, obwohl der Verkehr rege ist, und die Zufahrtstraße zieht sich ganz schön hin. Endlich an der Auffahrt angekommen, setze ich mein Gepäck ab und trampe wieder. Der nächste hält. Und fährt nach Karl-Marx-Stadt. Er fährt sogar nach Dresden, aber das ist für mich noch nicht aktuell. Einen Apfel gibt er mir. Ich könnte eine Schmerztablette gebrauchen.

Karl-Marx-Stadt. Als ich die Leipziger Straße runterkomme, kontrollieren mich schon wieder die Bullen. Ich beschwere mich, ich sei schon gestern kontrolliert worden.
"Das war'n wir aber nicht."
Na gut. Ich fahre zu meiner Mutter. Nachdem ich endlich meine Schmerztablette intus habe, sitzen wir in der Küche, und ich erzähle von Jena, esse etwas. Mutter gerät wieder leicht in Hektik, als sie hört, was ich morgen noch alles besorgen muss.
"Fang nur gleich an mit dem Fragebogen, sonst schaffst du's doch nicht!"
So sitze ich dann bis zum Schluss des Fernsehprogramms an Fragebogen und Lebenslauf. Dann geht's ins Bett - wieder ein langer Tag zu Ende.

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