Sonntag, 6. November 2011

Mein Lebensbaum, zweite Reise

Ich brachte mich mit Wechselatmung rein in die Reise, aber ich sah wieder nichts, nur solche LSD-Blitze, wie:
ein winziges Ehepärchen neben einem Sonnenschirmchen am Rand meines Bergplateaus.

Hulda war eigentlich schon zu sehen, als ich noch wechselatmete und sich vor meinen Augen draußen auf dem Berg Blätter und Blüten materialisierten und wieder verschwanden. Sie führte mich dann in die Unterwelt, aber auch das ging ziemlich speedy heute: ssst – waren wir durch und in der Halle. Dieses Mal sagte ich, keine Leber, mein Schatz! Guck mal, ich hab dir Löwenzahnblätter mitgebracht. Sieh da, sie schmeckten ihr auch, sie fraß sogar ziemlich lange und verlangte Nachschlag. Durch denselben Gang wieder raus, dasselbe Plateau.

Heute blieb der Baum mehr oder weniger in der gleichen Form, aber berauschend war der Anblick trotzdem nicht. Er war wesentlich kleiner als gestern, aber trotzdem bestimmt noch dreißig Meter hoch oder höher, aber er hatte fast gar keine Krone. Fast dreißig Meter schnurgerader Stamm, noch dazu ein sehr dünner, und ganz oben im Himmel eine kleine Krone.
Ich fragte: "Knickt der denn nicht bei jedem Windchen ab?"
"Kann eine Jungfrau abknicken?" gegenfragte Hulda.
Gut gekontert.
Sah aus wie ein Nadelbaum, Föhre oder so was, der Stamm fasste sich auch so an, aber später wurde es dann wieder ein Laubbaum, was weiß ich. Ich eierte blind durch die Gegend, hatte Mühe, das Bild zu halten, suchte nach den Wurzeln. Ach, die waren schon da, aber... Aber der Boden drunter war unterhöhlt.

Da sah ich zum ersten Mal etwas deutlich: einen Eingang in eine dunkle Höhle zwischen den Wurzeln. Und zum ersten Mal sagte auch Hulda etwas Vernünftiges: Ich solle da jetzt nicht reinkriechen.

Ok, ich dachte, wenn man einen Baum hat, sollte man ihn vielleicht gießen, oder? Wo ist hier Wasser, Hulda? Musst du graben. Hm, und womit? Es war, als verleiere Hulda die Augen. Na ja, was denn, soll ich etwa mit den Händen graben? Ich grub mit den Händen. Der Boden war wunderlicherweise auch unheimlich locker, wie Torf. Da war dann irgendwann Wasser. Wo finde ich ein Gefäß, Hulda, um das Wasser zu schöpfen? Keine Antwort ist auch eine Antwort. Ich schaute mich ewig im Kreis um, ganz sicher, dass mir gleich ein Eimer entgegenlaufen würde oder eine Blechbüchse, war aber nix. Als ich zurück blickte, war das Erdloch über einen Bewässerungsgraben mit der Wurzelzone verbunden. Super! Aber alles sackte sofort wieder in sich zusammen, und irgendwas – Hulda wohl eher nicht – sagte mir, dass mein Baum doch dafür Wurzeln habe. Wozu willst du Vollpfosten einen Baum gießen?

Na ja, und dann sah ich wieder gar nichts mehr, und wieder war es anstrengend, und überhaupt hatte ich das Gefühl, viel zu aktionistisch zu sein, als ob ich selber schon am Rad drehe – warum setze ich mich nicht einfach mal neben meinen Baum und bin still? Aber das ging auch nicht. Ging eben nicht. Ich wollte zurück, und dann sah ich gar nichts mehr, und Hulda mühte sich zwar, mir einen Abschiedskuss zu geben, kriegte das aber nicht ganz gebacken – und ich war draußen. Augen auf war eine Erleichterung!

© Angela Nowicki, 1. August 2010

Dienstag, 25. Oktober 2011

Tanzen und springen

Eine Schauspieltruppe, vier Schauspieler, zwei junge Frauen und zwei junge Männer. Eine der Frauen war die Hauptdarstellerin. Die Frauen hatten alle Perücken mit langen, weißblonden Zöpfen auf, die ihnen auf die Brust herabhingen. Zuerst defilierte die Hauptdarstellerin, das heißt, sie tanzte defilierend oder defilierte tanzend. Dann alle! Der Rest in einer Reihe hinterher.

***

Ein Vater, der mit seinem kleinen Sohn weggehen wollte – er zur Arbeit, der Sohn in den Kindergarten – sprang mit ihm aus dem oberen Stockwerk, in dem sie wohnten, mit Sack und Pack über die Straße hinweg hinunter auf die andere Straßenseite, und sie landeten gesund und munter. Ich beobachtete das von unten und erinnerte mich, wie ich schon oft im Traum so gesprungen war. Ein harter Aufprall, aber man bricht sich nichts. Für mich war der Sprung der beiden die Bestätigung, dass das nicht nur geht, sondern sogar normal ist. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, es sei doch gefährlich. Wenn man über die Straße hinweg springt, muss man aber gut zielen und sich seiner sehr sicher sein.

© Angela Nowicki, 25. Oktober 2011

Freitag, 21. Oktober 2011

Allein

Du bist allein

Allein heißt
Die Schmerzen ausbreiten
Auf weißen Laken und sitzen
Sitzen, bis der letzte Schrei verstummt
Auch dann noch

Allein heißt
Fremd sein im eignen Heim
Fremd in bodenlosen Städten
Dieses Fremdsein in den Poren sammeln
Bis es dir selbst fremd ist

Allein heißt
Immer nur geboren werden
Und nie sterben
Immer nur ankommen
Und nie gehn
Heißt verdammt sein
Zur Frage
Mit der ewig gleichen Antwort

Du bist allein

Die Schmerzen hinterlassen Flecken
Das Heim hat keinen Namen
Das Kind ist ein Krüppel
Angekommen
Im unerbittlichen
Ich

© Angela Nowicki, 2002

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Kapitel 8: Ungarn allein

oder
Sonnenuntergang über San Francisco


Nach diesem Sommer wechselte Srüne zur Vorbereitung auf ihr Aulsandsstudium an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, und Neila wollte den Traum ein Jahr später allein wiederträumen, bevor sie sich mit Billy zur Hippiewallfahrt aufmachte. Sie hatte auch dieses Mal keine Adressen, aus unerfindlichen Gründen hatten sie mit den Jungs keine Adressen getauscht, oder sie hatten sie verloren, nur Srüne hatte noch einen kurzen Briefwechsel mit Zoli gehabt, aber Srüne war nicht mehr da. Doch solche Unsicherheiten hinderten Neila in jenen Jahren keineswegs daran, sich einfach mit Rucksack und Daumen im Wind an die Straße zu stellen. Das war das schönste Leben, das sie sich vorstellen konnte: morgens noch nicht wissen, wo man abends schläft. Sie hatte ihr Visum und ihr Abitur in der Tasche und eine vage Aussicht auf ein neues Leben im Brüder- und Pflegehaus Martinshof, Rothenburg bei Niesky, als sie im Juli 1975 nach Budapest aufbrach.

Die erste Nacht im Böhmerwald hatte ihr der Tscheche beschert, der sie kurz nach der Grenze via Prag eingeladen hatte. Als es dunkel wurde, war er in den Wald gefahren und zudringlich geworden, so dass Neila nichts anderes übrig geblieben war, als ihm ihr Knie zwischen die Beine zu rammen, schleunigst das Auto zu verlassen und das Weite zu suchen. Sie war schon eine Weile auf der Straße unterwegs, als er an ihr vorbei fuhr. Sie hob den Blick nicht, lief stur weiter. Doch die Straße blieb leer, weit und breit kein Auto mehr. Wohl oder übel breitete sie neben einer Kreuzung, im Schutz eines großen Gebäudes, das da ganz allein im freien Feld stand, vielleicht eine Fabrik, ihre Armeeplane unter einem Mast aus. Sie erwachte in der Morgendämmerung, lag auf dem Rücken, öffnete die Augen - und erstarrte: Direkt über ihr ragte ein Galgen auf. Der Mast, unter dem sie sich schlafen gelegt hatte, endete in einem kurzen Querbalken, an dem ein großer Haken schaukelte. Hastig packte sie ihre Sachen zusammen und suchte das Weite.

Am späten Vormittag, noch ohne gefrühstückt zu haben, fuhr sie in Prag ein. Jeder hungrige oder auch durstige Tramper landete dort irgendwann auf dem Wenzelsplatz, so auch Neila. Staubbedeckt ließ sie sich auf dem Wenzelsdenkmal nieder und zog ihre Karo aus der Tasche. Die Streichhölzer waren ihr ausgegangen. Sie schaute sich um. Ein paar Meter vor ihr bewunderte ein kraushaariger junger Mann den historischen Platz. Er gefiel ihr, noch mehr aber gefiel ihr das grün-weiß-rote Flaggenzeichen an seinem Rucksack. Ein Ungar, wie schön!
Dass er kein Ungarisch verstand, verblüffte sie. Die Flagge? Sie versuchte es auf Deutsch. Er schüttelte den Kopf. Auf Polnisch. Russisch? Er lächelte und schüttelte. Also gut, wozu war man in einer Französischklasse: "Parlez vous français?" Er parlierte! Er gab ihr Feuer, hockte sich fröhlich neben sie aufs Denkmal, und sie radebrechten. Woher er komme, sie habe gedacht, er sei Ungar, die Flagge auf seinem Rucksack... Er lachte: "No, no, no Hungría – Méjico!" Neila blieb vor Schreck der Mund offen stehen: Mexiko! Sie war mir nichts, dir nichts einfach mal so einem Amerikaner in die Arme gelaufen? Der auch noch zwei Sprachen sprach? Mit dem Französisch klappte es nur äußerst mühselig, irgendwie schienen acht Jahre Schulunterricht doch nicht zu genügen, wenn man die Sprache nie in der Praxis anwenden kann. Spanisch konnte sie nicht. Zaghaft wagte sie ein: "Do you speak English?"
"Oh Jesus!" rief der Typ wie vom Donner gerührt und rutschte eine Stufe tiefer. "Why didn’t you tell straightaway?"

Mike kam aus Kalifornien - "San Francisco" - "Oooh", schmachtete Neila -, war der Sohn mexikanischer Einwanderer und von Beruf Lehrer. Er trampe allein durch Europa, sei schon in Wien, München und Berlin gewesen, auch Ostberlin, und nun wolle er sich die herrliche Stadt Prag anschauen. In Ostberlin, erzählte er, seien die Menschen viel, viel offener und freundlicher als in Westdeutschland und Westberlin. Neila schielte ihn skeptisch an, so etwas wollte sie damals nicht glauben. Sie holte ihren Konsumkuchen aus dem Rucksack, ein staubtrockenes Quadrat Fabrikstreuselkuchen, in der Assiette gebacken. Sie schämte sich, Mike so etwas anbieten zu müssen, doch der überschlug sich vor Begeisterung, mmmh, schmeckt der gut! Nun ja, ebenso wenig, wie Neila sich freundliche Ostdeutsche vorstellen konnte, kannte sie die brutale angelsächsische Höflichkeit. Sie schielte skeptisch.

Einen halben Tag lang lief und fuhr sie mit Mike durch die goldene Stadt. Eingeklemmt in einer Straßenbahn, fragte sie ihn, welches eigentlich seine Muttersprache sei. "Englisch, Spanisch und Französisch."
"Okay, aber in welcher Sprache fällt es dir am leichtesten zu sprechen?"
„Englisch und Spanisch... und Französisch."
Neila war ratlos. Dann hatte sie die Erleuchtung: "Aber in welcher Sprache träumst du?"
"Englisch und Spanisch."
An einem Markstand kaufte Mike eine Riesentüte Pfirsiche. Neila hatte sie nicht mal angeschaut, für solchen Luxus hatte sie kein Geld. Mike hingegen verteilte seine Kronen nach rechts und links und bedachte nicht zuletzt auch sie großzügig damit. Auf ihre Frage, ob Lehrer in den USA so viel verdienen, erklärte er ihr den Zwangsumtausch für Westtouristen, der nicht rücktauschbar war. Da waren Pfirsiche, Eis und Cola, geteilt mit einer netten Ostdeutschen, doch eine lohnende Investition.
Sie schlenderten, Pfirsiche mampfend, am Moldauufer entlang und zählten einander ihre Lieblingsbands auf.
"Jethro Tull!" rief Neila.
"Oh!" entzückte sich Mike. "Ich war voriges Jahr bei ihrem Konzert, da hat Ian Anderson die ganze Zeit auf einem Bein Flöte gespielt!"
"Aaah! Das hätte ich zu gern gesehen! Wo sind die denn aufgetreten? War das in San Francisco?"
"Ja! Warst du schon einmal in San Francisco?"
Sie starrte ihn entgeistert an. Wollte er sie auf den Arm nehmen?
"Dann musst du unbedingt einmal nach San Francisco kommen! Es gibt nichts Schöneres als einen Sonnenuntergang über dem Pazifik!" Er war stehen geblieben, hatte die Arme ausgebreitet und strahlte sie pazifisch an.
Neila lachte sarkastisch: "Klar, ich komme."

Am Nachmittag brach sie nach Budapest auf. Mike hatte es sich nicht nehmen lassen, sie auf die Piste zu begleiten. Die war gespickt mit Trampern. Zu Mikes Verwunderung stellte sich Neila brav hinten an. Er erwies sich als exzellenter und äußerst unterhaltsamer Trampgenosse. Er wollte nicht gehen, bevor er sie nicht sicher in einem Auto Richtung Budapest untergebracht hatte, und dafür zog er alle Register, während Neila am Straßenrand hockte und Tränen lachte. Ein dicker Skoda brauste an ihnen vorbei. Mike schickte ihm, wie ein Derwisch auf der Fahrbahn tanzend, eine Auslese köstlicher englisch-spanischer Flüche hinterher.
"Aber der hatte doch keinen Platz mehr, der war voll", presste Neila halb erstickt hervor.
"Na und?" Mike zuckte mit den Schultern und riss die Augen auf. "Der hat doch einen Kofferraum. Da kriegt er mindestens noch drei von euch unter."
Neila quietschte vor Vergnügen. "Davon hab ich immer geträumt: im Kofferraum nach Ungarn! Und was mach ich, wenn die Polizei reinguckt?"
"Na, was schon? Du lachst sie freundlich an und rufst...“ - beide Hände fuchtelten aufgekratzt das Victory-Zeichen in die Luft: "Haaa-aaaiii!"

Fortsetzung folgt

Dienstag, 18. Oktober 2011

Der Teufel hat gesagt, es geht nicht!

Außerdem gab es ein Problem, das ich klären musste. Ich erkundigte mich an zwei Stellen, eine davon war der Teufel. Von ihm erhielt ich die richtige Antwort, und sie lautete: "Es geht nicht."
Ich sagte es der Gemeinschaft weiter, denn davon hing unsere weitere Lebensgestaltung ab. Nur einer fehlte noch, ein Zwerg, der war immer weit draußen. Deshalb rief ich alle von draußen zum Essen herein und achtete darauf, dass auch der Kleine käme, denn es war besonders wichtig, ihm mitzuteilen, was ich in Erfahrung gebracht hatte. Ich versuchte zu pfeifen, aber vergeblich.

Ich schaute aus dem Fenster über dem Hauseingang und sah, wie sich die Heimkehrer unten drängten. Unter ihnen waren auch Oberon und eine seiner Töchter. Vor mir auf dem breiten Fensterbrett saß ein Kleinkind im leuchtend orangen Kleid. Als ich mich hinausbeugte, um zu fragen, ob der Zwerg mitgekommen sei, fiel das Kleinkind plötzlich hinunter - Oberon fing es präzise auf - und dann gab es einen ungeheuer schnelle Bildablauf: Oberon schnippste das Kleinkind aus dem Fangen sofort wieder hoch, wie einen Ball, es kam aber nicht auf dem Fensterbrett an. Offensichtlich war ich einer optischen Täuschung unterlegen. Dafür stieß Oberon unten seine Tochter derb in den Rücken.
Mir fiel ein, dass die das Kleinkind ja aufs Fensterbrett gesetzt hatte, was alle für gefährlich hielten, aber sie war so sicher, dass es dort sitzen könne, und bisher hatte es ja auch immer geklappt, doch es reichte eben schon ein unbedachter Ruck in die falsche Richtung, und es war ja noch ein dummes Kleinkind. Obwohl das Fensterbrett wirklich breit war.

© Angela Nowicki, 8. Oktober 2010

Samstag, 15. Oktober 2011

Mein Lebensbaum, erste Reise

Schamanische Reisen, die ich einfach Seelenreisen nenne, führen uns in geistige Welten, die unvergleichlich komplexer und vielgestaltiger sind als die materielle Welt unseres Alltags. Was wir in diesen Welten finden, wohin wir gelangen, ist zum überwiegenden Teil individuell völlig verschieden. Dennoch gibt es bestimmte feste Elemente, Orte und Vorgänge, die all diesen Welten gemeinsam sind, die also jeder Mensch auf seinen Seelenreisen irgendwann einmal finden oder erleben wird, wenn auch in individuell unterschiedlicher Gestaltung.
Eines dieser universellen Elemente ist der Lebensbaum. Jeder Mensch hat in der geistigen Welt seinen Lebensbaum, der seine Verwurzelung in dieser Inkarnation, seine Einbindung in den Alltag und sein Energiemuster spiegelt. Auf einer Seelenreise seinen persönlichen Lebensbaum zu finden, ist ein wichtiger Schritt zur Selbsterkenntnis, doch nicht nur das: Unser Lebensbaum kann uns auch Kraft geben, wenn wir erschöpft oder depressiv sind, er kann uns geistige Klarheit vermitteln und uns sogar heilen - vorausgesetzt, er ist gesund und gut verwurzelt.
Um seinen Lebensbaum zu finden, begibt man sich am besten, wie gewohnt, in die Unterwelt und bittet sein Krafttier, einen dorthin zu führen.

* * *

Als ich zum ersten Mal meinen Lebensbaum besuchen wollte, bekam ich von Anfang an überhaupt keine deutlichen Bilder. Hulda, meine Schildkröte, war zwar da, aber irgendwie verändert, als hätte sie Speed genommen. Sie lachte dauernd wie blöde und zog Grimassen. Als ich sie fragte, was sie gern fresse, sagte sie: "Leber!" Oh, mein Gott! Mehr kriegte ich nicht aus ihr raus, also gab ich ihr eine rohe Leber, die sie auch gierig verschlang. Sie führte mich dann durch einen ebenerdigen, engen Tunnel auf der rechten Seite der Halle nach draußen, wo wir auf einer Plattform herauskamen, und zeigte mir meinen angeblichen Lebensbaum.

Erst war er ein paar Sekunden lang schön, riesig und voll, aber dann war immer nur eine Hälfte von ihm zu sehen, mal die rechte, mal die linke. Und dann ging der bad trip los: Dauernd veränderte sich der Baum, er hielt überhaupt keine Form, und als ich ihn endlich mal anfassen und richtig anschauen wollte, war er plötzlich verschwunden, und ich stand inmitten vieler Bäume. Ich war verzweifelt und wütend und rief, ich wolle meinen Lebensbaum sehen und nicht irgendwelche Bäume. Aber Hulda war auch kaum geistig anwesend, und wenn sie schon mal auftauchte, reagierte sie gar nicht auf mich.

Ich mühte mich lange, meinen Lebensbaum wiederzufinden, aber jedes Mal, wenn er wieder mal zu erscheinen geruhte, hatte er sich was anderes ausgedacht: Einmal brannte er, aber nicht im Feuer, sondern in unheimlich dicken, blendenden Lichtwellen, die dauernd ihre Farbe wechselten. Einmal war es ein riesiger Pilz. Ein Lebenspilz, kein Lebensbaum! Und einmal wurde ich selbst zu einem Baum, aber das war gar nicht lustig, weil ich mich regelrecht im Nichts auflöste.

Ich war Nichts und Alles, ich war das Universum oder wie immer DAS heißt, was halt existiert. Ich FÜHLTE, dass DAS (ich) nicht einfach SEIN kann, denn dann wäre es nichts, sondern sich gestalten muss – das heißt, es muss sich gestalten und wandeln, wie die Sonne scheinen muss oder Feuer heiß ist – die unendliche Wandlung ist eine immanente Eigenschaft des DAS. Und ich war ein Pseudopodium des DAS, eines von unendlich vielen, jedes war eine eigene Welt und ich natürlich auch, klar, aber letztlich war ich halt eine Ausstülpung des ALLES UND NICHTS. Das heißt, mein Bewusstsein war eine Ausstülpung. Jedes Bewusstsein ist eine Ausstülpung des ALLESUNDNICHTS, das ist alles.

Eigentlich ja ein Wahnsinnserleben, nicht? Voll die Erleuchtung oder was. Aber mir ging es damit gar nicht gut. Ich war einfach überfordert. Ich wurde fast wahnsinnig, die Reise wurde für mich geistig unerträglich anstrengend, bis ich dachte, ach, Mensch, bloß raus hier! Zum Schluss sah ich nochmals meinen Lebenspilz, der jetzt viel kleiner und ganz dünn war, in einer riesigen, blendenden, eiförmigen Aureole.

Hulda war einfach nicht "da". Sie spann bloß rum oder reagierte gar nicht, nicht einmal richtig verabschieden konnte ich mich von ihr. Sie machte den Eindruck, als sei ihr von der Leber schlecht geworden. Irgendwie wurde ich einfach aus der Unterwelt heraus katapultiert und sah absolut nichts, so dass ich schnellstens die Augen öffnete. Hat geschlaucht, die Reise.

© Angela Nowicki, 31. Juli 2010

Donnerstag, 13. Oktober 2011

Kapitel 7: Ungarn zu zweit (2)


Nun, zumindest, was Srüne und Zoli betraf, blieb es am Ende nicht dabei, aber das war völlig in Ordnung. Die drei Jungs waren wirklich der Anstand in Person. Die beiden blieben zwei ganze Wochen bei ihnen und nochmals zwei Tage bis zur Heimkehr nach ihrem Abstecher nach Miskolc, und keiner wurde je aufdringlich, sondern alle drei, mit Zolis Bruder gelegentlich auch vier, kümmerten sich so hingebungsvoll um ihre Sommergäste, dass man denken musste, sie hätten sich ohne diesen Zufall mörderisch gelangweilt in diesem heißen Budapester Juli. Sie zeigten ihnen die herrlichste Stadt der Welt, kletterten auf die Fischerbastei, führten sie in echte ungarische Restaurants mit Zigeunermusik aus, fütterten sie mit Weintrauben en masse, eiskalter Coca Cola und köstlichem Traubisoda, entführten sie in eine borozó, eine echte ungarische Weinstube, außerhalb der Stadt, die in einem riskanten Heimritt auf dem Rücksitz der reichlich abgefüllten Easy Rider endete, noch nie hatte Neila solche Angst gehabt, und in der zweiten Woche packten sie sie, dieses Mal nüchtern, wieder mit Sack und Pack auf die Motorräder und fuhren mit ihnen ins Wochenendhaus von Lacis Eltern am Velencer See, der auf halbem Weg zwischen Budapest und dem Balaton liegt.

Ein weiß getünchtes Lehmhaus, kühl in der Hitze, spartanisch, aber sauber, sie aßen das himmlischste aller Brote – riesige, dicke Scheiben frischen ungarischen Weißbrots, das nach Wein und Sonne schmeckt - mit Schmalz, Tomaten und Paprika, Überraschungspaprika, denn unter den normalerweise milden Schoten konnte sich schon mal eine extrem scharfe finden, das merkte man erst, wenn es zu spät war – immer nur Brot, Schmalz, Tomaten und Paprika, und es wurde ihnen nie zu viel. Sie badeten stundenlang im ruhigen, klaren See, der zwar genauso flach und warm war wie der Balaton, dafür aber fast tourifrei, und philosophierten und lachten die Nächte durch.

Nun, so ähnlich lief es in Ungarn überall. In Miskolc hatte Neila eine Adresse, Lajos, den sie im Vorjahr bei den Weltfestspielen in Berlin kennen gelernt hatte. Der Briefwechsel war nach drei Monaten sanft eingeschlafen, und unsere beiden Heldinnen gedachten, Lajos zu überraschen. Es öffnete eine Großmutter, die mit Bedauern und großen Augen verkündete, Lajos sei leider bei der Armee, aber sie sollten doch erst einmal reinkommen und etwas essen, und sicher bräuchten sie auch eine Übernachtung, also vorwärts – sie ließ den Mädchen gar keine Zeit zum Diskutieren, sondern zog sie einfach in die Küche, platzierte sie am Tisch und trug Essen auf. Ein gelernter Deutscher, egal, ob Ost oder West, ist in solchen Situationen, wenn er sie zum ersten Mal erlebt, zunächst einmal so geplättet, dass ihm Widerstand gar nicht in den Sinn käme.
"Das hier ist Lajos‘ Bruder, Károly. Der wird euch morgen die Stadt zeigen", verfügte die Großmutter. Károly freute sich wie ein Schneekönig und lief wirklich drei Tage lang mit ihnen durch die anheimelnde Stadt Miskolc, machte mit ihnen einen Abstecher ins Bükk-Gebirge, zeigte ihnen den Lillafüred-Wasserfall und das Schloss Andrássy in Tiszadob, das für jeden Tag des Jahres ein Fenster, für jede Woche des Jahres ein Zimmer, für jeden Monat des Jahres einen Turm und für jede Jahreszeit einen Eingang hat, wie Károly stolz erklärte, und schleppte sie zum glorreichen Schluss noch in einen Plattenladen, in dem es WESTPLATTEN gab! Srüne und Neila schlug das Herz höher als die Geldbörse. Bei Srüne reichte es für Crosby, Stills, Nash und Young und bei Neila für John Lennon und Joan Baez. Das waren ihre ersten "richtigen" Schallplatten.

Auf dem Rücktramp nach Budapest wollten die beiden jungen Männer, die sie mitnahmen, Neila um nichts in der Welt glauben, dass sie keine Ungarin sei.
"Aber doch, ich bin Deutsche!"
"Niemals! Kein Deutscher spricht so akzentfrei ungarisch. Du kommst vielleicht aus Deutschland, aber du bist Ungarin."
Srüne wurde als Zeugin nicht akzeptiert, erst Neilas Personalausweis ließen sie gelten, wunderten sich aber weiter: "Du hast aber bestimmt ungarische Vorfahren..."
"Nichts dergleichen, urdeutsch und doof", lachte Neila.
Auch Srüne war wie verwandelt. Vor einem halben Jahr, als die Studienbewerbungen abgeschickt werden mussten, hatte sie sich für Rumänien entschieden, weil sie aus einer Französischklasse kam, denn sie folgerte, eine Sprache aus der gleichen Sprachfamilie würde leichter zu erlernen sein. Um Gottes Willen nicht nach Ungarn, das ist ja eine ganz fremde Sprache!
Diese ganz fremde Sprache hatte sie innerhalb von drei Wochen ohne besondere Sprachbegabung so gut gelernt, dass sie gegen Ende ihrer Ferienreise fast keine Dolmetscherin mehr gebraucht hätte. Als solche hatte ihr Neila allerdings eine Menge Vergnügen mit der betulichen, präzise artikulierenden ungarischen Sprache und ihren breiten, strahlenden Vokalen bereitet, besonders in Miskolc, wenn Károly - "Kaaaroj" - um eine "Kaaaro" bat...
"Warum habe ich nur Rumänien genommen? Ungarn - das wär's gewesen!" seufzte Srüne auf der Heimfahrt, nachdem sie sich für immer aus Zolis Umarmung gelöst hatte...

* * *

Sommer! Weißt du noch den Tag, als sie sagten, sie laden uns ein?
Sommer! Ach, wir mussten lachen. Schnell betrinkt man sich an diesem Wein.

Abend. Rasch noch ein paar Blicke in den Spiegel: Gut sahen wir aus.
Gut genug, um sich zu verlieben? Warum nicht? Kühl war es vorm Haus.

Feuer, roter Wein und Küsse. Viel zu schnell ging doch die Zeit vorbei.
Feuer. Heiße, wilde Flammen. Einen Sommer lang waren wir frei.

Liebe, schönster Traum des Lebens. Wie wird das Erwachen für uns sein?
Liebe. Niemals wird sie enden, schließt auch einst nur Stille sie in sich ein.

Text: Angela Nowicki, inspiriert von
Titel und Musik: Omega együttes "Emlék (Csenddé vált szerelem)"

Dienstag, 11. Oktober 2011

Gehetzt

... in einem Laden, Nachbar angerufen, der musste erst noch auf mehrere warten, wollte dann kommen, kam ewig nicht, rief auch nicht mehr an, bis ich bemerkte, dass der Typ der Verkaufsbereichsleiter ist, der sowohl im Aussehen als auch im Charakter Craig, dem Geschäftsführer in Malcolm Mittendrin ähnelte - regte mich auf - draußen war dann ein würfeliger Dachaufbau, da kletterte ich immer rein, doch sie hatten die Leiter weggenommen, erst war ich immer noch runtergesprungen, doch jetzt war ich barfuß und unten grober Schotter, und es war so hoch - drinnen war nichts weiter, links ging's auch nicht weiter, hatten sie mit weichem Zeug, Moosholz oder so, dicht gemacht, ich musste da wieder raus...
Was mache ich eigentlich hier?
... ich dachte, ich will doch rauchen, draußen links fiel der Blick auf bewaldete Berge, sehr schöner Ausblick - dann war es auf einmal doch nicht so hoch, ließ mich bäuchlings runter, aber unten waren Stacheln, die ich nicht zuordnen konnte - ich kam runter und untersuchte dann die Stacheln, wo und was die sind...

... abends auf dem Bahnhof, hergekommen war ich prima, jetzt konnte ich nicht rausfinden, wann der Zug zurück nach Friedrichshafen fährt - sie hatten eine Verspätung durchgesagt, die Bahnangestellten telefonierten dauernd mit unförmigen Apparaten - ja, es war meiner: sollte eigentlich jetzt halb sieben (?) fahren, kommt aber nicht vor 21 Uhr (!) - der Bahner fragte mich, ob ich nicht gerade 21 Uhr noch Leute erwarte - ja, das waren Rahel und Salomo, die aus ihrem Urlaub hier ankommen wollten - sie kamen, der Zug fuhr immer noch nicht, sie aßen und erholten sich erst mal, und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich nichts für sie vorbereitet hatte, sondern sie sich alles selber machten - Rahel erzählte, wie sie mit ihrem Onkel unterwegs gewesen seien, der sei so furchtbar, bleibt einfach vor einer Kirche stehen und glotzt sinnlos dran hoch, was gibt's da schon zu sehen? - ich sah die Kirche, hatte Wahnsinnsfiguren an der Fassade, farbig, und eine bewegte sich sogar, die lebte! - und ich verstand Rahel wiederum nicht, das ist doch faszinierend!

© Angela Nowicki, 30. September 2010

Sonntag, 9. Oktober 2011

A day in the life

He blew his mind out in a car...

Sehr müde, leichte Augenmigräne. Als ich nach dem Frühstück immer noch nicht fitter war, duschte ich. Danach ging es mir besser. Wir fuhren in den Stadtpark – und da brach die richtige Augenmigräne aus. Es wurde immer schlimmer, besonders im Auto. Zu Hause erst mal einen Kaffee und eine Dolormin.

Längere Zeit quälte ich mich mit der Migräne über dem Human Design rum. Nachmittags beschloss ich kurzerhand, mein Zimmer sauber zu machen. Dazu hörte ich Händel, Grieg, Pachelbel und Charpentier, und bei letzterem durchfuhr mich ein uraltes Glück. Draußen rauschte ein kleiner Wind durch die Blätter, die Sonne schien, es war so still, und dazu dieses Te Deum... Was brauche ich mehr? Es ist das, wohin ich immer wollte. Dieser Schlosspark aus der unbekannten Erinnerung, dieses Daheimsein, diese Stille... Wo und wann war das? Seit Jahren weht mich diese Erinnerung an, aber heute war sie fast schon manifest. Ich war fast dort.

Als ein Meeresräucherstäbchen mein Zimmer durchduftete – ja, auch dieser Duft gehört dazu! –, schob ich den Kirschstrudel in den Ofen. Beim Kaffeetrinken rief M. an. Sie hatte ihre Menü- und Navigationsleiste im Browser verloren und infolge dessen entdeckt, dass ihre Seite inzwischen bei Google gefunden wird. So hatte sie zwei Freuden an diesem Tag, denn ich rief sie später zurück und half ihr, die beiden Leisten wiederzuholen. Dazu erklärte ich ihr noch, wie man Lesezeichen setzt und mit Tabs umgeht, und ich glaube, sie hat es verstanden.

© Angela Nowicki, 9. Juli 2011

Samstag, 8. Oktober 2011

Kapitel 7: Ungarn zu zweit

oder
Anstand muss sein


Jazz nad Odrą! "Du bist gerade richtig gekommen", sagten die Wrocławer Freunde. Neila freute sich. Da hatte sie tatsächlich einen guten Riecher gehabt, eingedenk dessen, dass sie von diesem Festival bisher noch nie gehört hatte. Jazz an der Oder, das jährliche internationale Jazzfestival. Hier traf sich die Welt, hier hatten schon Stars gespielt, und hierher kamen die Langhaarigen aus aller Herren Länder, selbst wenn es nur die der kommunistischen Herren waren, ein kleines Hippietreffen.
Am ersten Abend spielte Buddy Rich. Neila war nicht begeistert. Dafür umso mehr von dem Pickup mit der Aufschrift Florida, Sunshine State. Sehnsüchte wurden wach. Und Erinnerungen an ihren Solotramp nach Ungarn vor zwei Jahren.

* * *

Sie hatte gerade das Abi in der Tasche, da hieß es, die Stones spielen in Warschau. Wer würde da noch lange überlegen – auf nach Warschau! Später hieß es, es habe Zoff mit den kommunistischen Machthabern gegeben, vielleicht auch einen Drogenskandal, aber am Ende war alles nur ein Gerücht gewesen. Aber es gibt eine Hippiewallfahrt in Polen! Eine echte Hippiewallfahrt? Das ist ja fast noch besser als die Stones! Neila und ihre Freundin Billy beschlossen, zu den Hippies zu trampen. Hippies! So etwas gab es in der DDR eigentlich gar nicht, vielleicht in Berlin, aber in der Provinz blühte die Blueserszene, da gab es nur Kunden oder Tramper. Von dem, was Neila sich unter Hippies vorstellte, unterschieden sie sich zunächst einmal durch ihre Uniform: Jeans, Jesuslatschen, Parka und Hirschbeutel. Und an Stelle der unerreichbaren Drogen tranken sie Bier oder billigen Rotwein. Stierblut oder Rosenthaler Kadarka. Vor allem aber hatten echte Hippies Fantasie und träumten sich ihre Welt, während die deutschen Kunden in der Woche brav arbeiten gingen oder sich mehr oder weniger vernünftig in die soziale Ethik der protestantischen Kirche einreihen ließen. Neila verabredete sich mit Billy für den 1. August auf dem Bahnhof in Görlitz. Vorher wollte sie allein nach Ungarn trampen.

* * *

Sie war im Vorjahr mit Srüne dort gewesen. Einfach losgefahren, ohne Adresse und mit einem mehrere hundert Quadratkilometer großen Ziel: Budapest. Erst unterwegs hatten sie sich überlegt, wie sie es anstellen wollten, eine Übernachtung zu finden. Die ansonsten so nüchterne Srüne hatte eine ziemlich abgefahrene Idee: "Wenn wir aus dem Zug aussteigen, fragst du einfach die ersten Leute, die uns über den Weg laufen, nach einer billigen Unterkunft." Neila war die Dolmetscherin.

Als sie nach der über zwölfstündigen Fahrt endlich den Keleti pályaudvar erreichten, öffneten sich ihnen die Tore ins Dorado. Alles war so hell, so bunt, so anders und so aufregend, dass sie vor Herzklopfen blind quer über den halben Bahnhof stolperten und staunten, bis Srüne wieder zur Vernunft kam und Neila anstieß: "Wollten wir uns nicht eine Penne suchen?" Und wie es dem Gott der Reisenden gefiel, trieb er ihnen das Opferlamm in Gestalt dreier hübscher, junger Ungarn vor die Nase. Es könnte wohl ein kleiner Schacher im Spiel gewesen sein, denn bei den ungewohnten Menschenmassen war es nicht so ganz einfach, sich auf den Ersten zu einigen, doch wie dem auch sei - es war das beste Opferlamm, das ihnen begegnen konnte. Die drei Hübschen gerieten in keine kleine Verlegenheit, drehten und wendeten sich und warfen einander verstohlene Blicke zu, bevor sie mit größtem Bedauern verkündeten, sie wüssten leider kein Hotel, dass billig und nicht überfüllt sei, schaut, lányok*), es ist Hochsommer, Urlaubszeit, die ganze Welt kommt nach Budapest, aaaber... wenn es ihnen nichts ausmache... es träfe sich gerade ganz wunderbar, dass Zoli sturmfreie Bude, sprich: ein sturmfreies Einfamilienhaus habe, und es wäre ihm eine unaussprechliche Ehre, die deutschen Gäste beherbergen zu dürfen, bis sie sich in Ruhe nach einem Hotelzimmer umgesehen hätten...
Da standen die drei, Zoli, Laci und Pista, und sahen sie erwartungsvoll an, und Neila und Srüne sahen sich an, und ihr Blick sagte: ‚Wahnsinn! Aber Anstand muss sein.‘ Also wandte sich Neila wieder an die Burschen mit einer freundlichen Ablehnung, aber das gehe nun wirklich nicht, dass junge Mädchen zu wildfremden Männern... Kein Mann hat je unschuldiger ausgesehen als unsere drei Husaren, als sie entrüstet versicherten, sie hätten nie etwas Derartiges im Sinn gehabt, es sei reine Gastfreundschaft und werde das auch bleiben, nem probléma, csak nyugalom**)!

*) Mädchen
**) Kein Problem, nur keine Bange!

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Das Wunderkind

Rahels Söhnchen war zwei Wochen alt, und Ilka bat ihre Eltern, Ruah und Adam, eine Weile auf ihn aufzupassen. Er war gerade gefüttert und ins Bettchen gelegt worden, er hatte die Augen geschlossen und sollte schlafen. Ruah massierte ihn noch sanft vor dem Einschlafen, da verzog sich sein Mund zu einem seligen Lächeln.
"Schau!" sagte sie zu Adam. "Er lächelt."
"Ist doch ganz normal", konterte das Kind mit geschlossenen Augen. "Das ist wie bei der polnischen Basketballmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Japan."
Ruah riss die Augen auf.
"Hast du das gehört? Der spricht schon! Mit zwei Wochen spricht der Junge schon wie ein Dreijähriger!"
Adam schien es nicht richtig gehört zu haben, aber Ruah geriet ganz aus dem Häuschen und versuchte immer wieder, das Kind zum Sprechen zu bringen. Und das Kind sprach. Allerdings redete es nie von selbst, sondern nur, wenn man ihm eine Frage stellte und auf die Antwort wartete.

Als Rahel zurückkam, erzählte sie ihr ganz aufgeregt von ihrem Wunderkind. Rahel nickte und freute sich, nahm die Sache aber auf wie etwas, was zwar nicht selbstverständlich, aber auch nicht weltbewegend ist. Ruah war da anderer Meinung. Während Rahel ihn wickelte, brachte sie den Jungen immer wieder zum Sprechen und konnte sich gar nicht wieder fassen vor Begeisterung. Sie verstand nicht, wieso das niemand das Wunder begriff.

Sie wollte es Rahels Freund Salomo erzählen, und Rahel rief ihn. Salomo kroch hinter einem Schrank hervor und war so groß, dass er sich um die Hälfte seiner Körpergröße bücken musste, um durch die Küchentür zu passen. Er lief immer hinter Rahel her und tat und sagte dasselbe wie sie.

Die Altbauwohnung hatte viele Räume mit weißen Türen, die von einem verwinkelten Flur abgingen. Von Stund an war Ruah ganz versessen darauf, sich so oft wie möglich um Rahels Söhnchen kümmern zu dürfen, und freute sich sehr, als Rahel sie wieder zu ihm rief. Doch als sie sein Zimmer suchte, fand sie ihn nicht. Sie hatte schon alle Türen geöffnet, aber das Kind lag hinter keiner.
"Ich muss noch einmal von vorn anfangen", sagte sie sich. "Und systematisch vorgehen."
Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Da sah sie das Kind. Das kleine, runzelige Wesen, das gerade erst geboren zu sein schien, lag in seinem Bettchen und blickte mit tellergroßen Augen, die blau waren wie die Tiefe, staunend zur Zimmerdecke auf. Als Ruah ihre Augen in diese Tiefe fallen ließ, wusste sie, dass sie sich geirrt hatte. Das Wunder, das sie immer gesucht hatte, lag hier vor ihr, ein winziges Mädchen mit ihren tellergroßen Augen, blau wie die Tiefe.
"Wir werden es Ruah nennen", sagte sie zu Adam. "Das heißt Gottes Atem."

© Angela Nowicki, 20. September 2010

Montag, 3. Oktober 2011

Reise ins Kehlchakra

Beim allerersten Besuch in diesem Chakra, der viel zu schemenhaft und bildarm geblieben war, hatte ich unter anderem ein großes, sich drehendes Mühlrad gesehen und einen Bauer mit einer Bäuerin beim Mähen. Beide waren jung, standen parallel zueinander und bewegten sich synchron in einem gleichmäßigen Rhythmus.

Lange Zeit später besuchte ich dieses Chakra wieder. Dieses Mal betrat ich einen Raum, dessen Fenster zur rechten Seite hinaus ging. Durch das Fenster sah ich einen Hof wie den realen vor meinem Zimmer, aber die Eschen waren großen schwarzen Farnen ähnlich – der ganze Hof stand voller riesiger schwarzer Bäume mit farnähnlichen Kronen, die sich im Wind wiegten.

Mir gegenüber führte eine Tür in eine Fabrikhalle oder einen Maschinenraum. Ich betrat diese Halle über eine stählerne Brücke, die über einen Graben führte. In diesem Graben verliefen auf der linken Seite der Brücke parallel zu ihr zwei oder drei große Rohre, ähnlich den Heizrohren in der Stadt. Das heißt, die Rohre liefen quer durch den Graben; sie kamen aus einer Seitenwand heraus und verschwanden wieder in der anderen.

Hinter der Brücke ging es nach links weiter, rechts war die Hallenwand. Ich lief auf Betonboden, den Graben jetzt zur linken Hand, zur rechten eine verglaste Wand, ein riesiges, schmutziges Fabrikfenster, das von der Decke bis unter den Boden reichte. Davor saßen auf einer Betonschwelle mehrere Personen, alle mit dem Rücken zu mir und dem Gesicht zum Fenster. Sie saßen unbeweglich und schwiegen und schauten unverwandt zum Fenster hinaus. Es gelang mir nicht, ihnen in die Gesichter zu schauen, also versuchte ich wenigstens zu erkennen, was es dort draußen so Interessantes gebe. Rechts erkannte ich nach einiger Zeit eine weite Landschaft mit ein paar Bäumen.

Ich kehrte zurück in den ersten Raum und entdeckte dort gegenüber dem Fenster eine Maueröffnung, die in ein steiles, verschneites Hochgebirge hinaus führte. Eine Gestalt im roten Kapuzenmantel hastete den Berghang empor. Neugierig folgte ich ihr. Ich versuchte, sie einzuholen, doch erst an einer kleinen Berghütte, die linkerhand auf dem Hang auftauchte, blieb die Gestalt stehen, wandte sich um – es war ein Mann – und wartete auf mich.
Er bat mich in die Hütte. Ich sah eine mit altertümlichen Holzmöbeln eingerichtete Küche, gelangte dann in eine gemütliche Stube, wo er mir anbot, mich auf das Sofa zu legen. Ich setzte mich, blickte auf den Tisch und wartete, dass er mir irgendetwas Wichtiges sage oder zeige, doch nichts dergleichen passierte. Er war nur da und schaute. Da verabschiedete ich mich wieder und kehrte zurück zum Ausgang meines Kehlchakras.

© Angela Nowicki, Februar 2010

Samstag, 1. Oktober 2011

Kapitel 6: Wrocław - Częstochowa (2)


Endlich gehen wir los auf die Wiese, wo die Messe sein soll. Unterwegs begegnet uns ein Mann, der mir bekannt vorkommt. Michał spricht ihn wegen irgendwas an. So lerne ich Pater Andrzej kennen, den Hippie-Priester. Auf der Wiese sind schon etliche Leute versammelt, immer mehr kommen an. Drei oder vier Priester stehen etwas abseits und nehmen die Beichte ab. Sie sind ständig besetzt. Wir setzen uns, und ich breite erst mal gründlich meine Klamotten aus.
Michał drückt mir eine Art Flugblatt in die Hand und übersetzt es mir mühsam:

Jesteście obywatelami narodu, którego prawodawcy tworzą dla was prawa. Prawa te nakazują abyście byli wolni w chodzeniu do szkoły do 18 roku życia, wolni w odbywaniu obowiązkowej służby wojskowej, wolni w przyglądaniu się jak waszą wolność kontroluje policjant.
A policjant, to wasz przyjaciel, który broni was przed swobodną włóczęgą, buntem i obaleniem i przed wami samymi.

Ihr seid Bürger einer Nation, deren Gesetzgeber für euch die Gesetze machen. Diese Gesetze verordnen euch die Freiheit, bis zum 18. Lebensjahr zur Schule zu gehen, die Freiheit, die Wehrpflicht abzuleisten, und die Freiheit zuzuschauen, wie die Polizei eure Freiheit kontrolliert.
Die Polizei aber ist euer Freund und Helfer, der euch vor dem freien Umherziehen schützt, vor Meuterei und Umsturz und vor euch selbst.


Ich tausche noch mal Geld, auch wieder eins zu sechs. Da sehe ich Andrzej, von dem ich voriges Jahr das Peace-Abzeichen bekommen habe. Er war ein Junkie und auf dem Weg zurück in die Entzugsklinik, in der er seit einiger Zeit lebte. Ich hatte ihn dorthin begleitet. Ich rufe ihn, und er begrüßt mich überschwänglich. Doch ich habe den Eindruck, dass er nicht so genau weiß, wer ich bin. Er nennt mich auch bei einem ganz anderen Namen. Ich sage ihm, ich sei Neila, aber er geht nicht weiter darauf ein. Er müsse schnell mal woanders hin, er käme gleich wieder, sagt er. Ich unterhalte mich mit den anderen, schreibe Michał den Text von Gerhard Schönes Schlaflied auf und übersetze ihn. Michał ist laufend verschwunden. Dann kommt Andrzej tatsächlich wieder. Im Gespräch stellt sich heraus, dass er sich doch noch an mich zu erinnern scheint. Er ist noch in der Klinik, in zwei Monaten kann er aber nach Hause. Schön, sage ich, dann bist du frei. Er sagt: "Ich bin frei."
Irgendwie beeindruckt mich das.

Als so ziemlich alle eingetrudelt sind, beginnt die Messe. Zuerst singen wir mit Pater Andrzej "Alleluja", "Matka, która wzsystko rozumie" und vieles mehr. Dazwischen werden Souvenirs verteilt: ein Zettel mit dem Titel "Akt oddania się Matce Bożej" (ein Mariengebet) und ein kleines, ovales, silbernes Marien-Amulett der Matka Boska Częstochowska. Dann beginnt der Gottesdienst. Ein Priester predigt. Er erzählt den Leuten von ihrer Stellung und Aufgabe und von ihren Schwierigkeiten in der Gesellschaft. Zum Schluss stehen wir alle, sprechen die Liturgien, und plötzlich erheben sich alle Hände zum Victoria-Zeichen. Dann noch einmal: Hunderte von Siegeszeichen, und ein tausendstimmiges "Hej!" fliegt über die Stadt. Da ist es bei mir wieder, dieses überwältigende Gefühl der Gemeinsamkeit, wie eine große Familie sind wir, und ich habe Millionen Freunde...

Die Messe ist vorbei, es wird schon dunkel, aber alle bleiben noch, unterhalten sich, spielen Flöte, Gitarre oder Mundharmonika, tauschen Adressen. Da kommt Wolf wieder. Er hat Helmut nicht gefunden:
"Die sitzen sicher in irgend'ner Kneipe und lassen sich volllaufen! Der verfluchte Schweinehund, und ich renn mir die Beine aus dem Leib!"
Ich strolche mit ihm noch ein bisschen durch die Gegend, er verabschiedet seine beiden Liesen, dann erzählt er mir von dem Yogi. Derselbe, von dem Helmut schon letztes Jahr so viel erzählt hatte. Wolf hat mit ihm gesprochen, ziemlich lange. Er sei kein Yogi, zwei Übungen nur beherrsche er. Er sei sehr glücklich, denn diese Yoga-Übungen hätten es ihm ermöglicht, seinen Gesichtsausdruck vollkommen zu beherrschen, außerdem habe er jetzt ganz gesunde Zähne und fühle sich überhaupt kerngesund, er sei nie mehr krank, er fühle sich prächtig und freue sich sehr darüber. Er könne dazu noch seine Hunger-, Hitze- und Kältegefühle weitgehend beherrschen. In Frankreich soll er studiert haben, habe eine Wohnung in Wrocław und eine in Przemyśl. Beide Adressen hat er Wolf gegeben, dazu noch die Skizze des Weges zu einer Kommune in den Bieszczady, und der gibt mir das jetzt alles zum Abschreiben. Wolf ist wahnsinnig begeistert von diesem Yogi, er schwärmt regelrecht. Besonders gefällt ihm, dass der Yogi keine Religion hat, er stehe über allem, und dass er immer mit einem strahlenden Lächeln zu sehen sei.
"Alles ist gut", soll er geäußert haben.
Ich erzähle Wolf wiederum, dass die Grundausbildung in Rothenburg wahrscheinlich aufgelöst werden soll, und den ganzen Quatsch aus dem Martinshof. Das schockt ihn doch ein bisschen. Dann die einmalige Reaktion: Wenn sie ihn aus der Ausbildung schmeißen, geht er nach Polen. Wenigstens erst mal für ein Jahr. Ich lache mir bald die Seele aus dem Leibe und könnte ihm am liebsten um den Hals fallen. Wir verabschieden uns noch von Michał und gehen langsam runter zum Zelt der Deutschen.

Vor dem Zelt brennt ein Feuer, und als Ersten erblicke ich: Helmut! Die Begrüßungszeremonie kann ich weglassen, ich finde dafür sowieso keine Worte. Er kann's gar nicht fassen, dass ich da bin, tausendmal stoßen wir uns an und brechen in Lachen aus, er zeigt mir stolz die Armkette aus meinen Holzperlen, er hat sie jetzt auf Wildlederband aufgezogen, und stellt mich gerührt den anderen vor: Das sei die Neila, und, zu mir gewandt: Sie hätten den anderen schon die ganze Zeit viel über Siglind und mich erzählt. Es ist eine schöne Überraschung für mich: Zählen sie mich also auch zu den besten Freunden, sind wir jetzt vier?
Da fordert mich der eine mit der Gitarre auf, mal ins Licht zu kommen. Nun erkenne ich ihn auch: Es ist der Typ, den ich mit seiner Freundin in Karl-Marx-Stadt an der Autobahn getroffen habe. Sie wollten in die Tatra. Jetzt sind sie durch mich nach Częstochowa gekommen. Wir singen noch lange. Eins von den beiden Mädchen setzt sich zu Wolf. Sie kommt mir bekannt vor. Woher sie komme, frage ich sie. Aus Oberhof. Ich weiß Bescheid, und auch sie erkennt mich mit großem Hallo wieder. Auf dem Weg von Wandersleben nach Zella hatte ich sie getroffen. Sie hatte mir die Adresse ihrer Schwester in Oberhof gegeben: Mutesius, Kindergarten. Wir lachen.
Später setzt sich noch ein Pole dazu, einer von den Leuten. Er unterhält sich mit Wolf, und durch ihn kommen wir drei zu einer Penne. Oben ist ein Lagerfeuer, an dem noch einige Jugendliche von der Wallfahrt sitzen und singen. Wir gehen erst mal mit dem Polen mit zu ihrem Zelt. Dort sitzt eine ganze Meute und unter ihnen Pater Andrzej. Im Zelt können wir nicht mit schlafen, es ist kein Platz mehr, doch Andrzej hat was für uns. Er bringt uns in das Haus, wo die Wallfahrt immer schläft, in den Keller. Dort liegen schon an die vierzig oder fünfzig Hippies auf der Erde und auf Tischen. Helmut ist beim Lagerfeuer oben geblieben, Wolf und ich wollen ihn jetzt holen. Helmut will noch bleiben, er hat keine Lust, schon zu schlafen. Aber Wolf ist müde. So gehen wir wieder runter. Auf halbem Weg überleg ich's mir: Ich möchte eigentlich auch noch oben bleiben. Ich gehe wieder zu den anderen. Helmut lacht und freut sich. Ein polnisches Mädchen lädt mich mit einer Handbewegung ein, mich auf das Motorrad zu setzen. Kaum sitze ich, kommt ein Bulle und bittet uns auseinanderzugehen. Es sei schon spät, und alle wollten schlafen. So singen wir noch ein letztes Lied, dann geh ich mit Helmut runter.
Ich muss seinen Schlafsack mit beanspruchen, weil bei mir alles noch nass ist. Er willigt ohne Weiteres ein. Drunter legen wir meine Plane, auf den Schlafsack noch meine Decke, das ist zwar auch alles noch feucht, aber besser als gar nichts. Meine Hosen sind überhaupt noch kein bisschen trockener geworden. So liege ich auf dem harten Erdboden in nassen Hosen, in klamme Klamotten eingewickelt, schmutzig, mit einem ekelhaften Geschmack im Mund, dass ich mich selbst anstinke, und von allen Seiten zieht es, weil Helmut im Schlaf die ganze Decke für sich beansprucht. Außerdem drängt er mich laufend von der Plane runter, dass ich wie eine Sardine gequetscht werde; es ist schon so eng genug. Ich kann lange nicht einschlafen, und wenn ich schon mal schlafe, werde ich jede halbe Stunde wieder wach. Das erste Mal wünsche ich mir aus tiefstem Herzen, jetzt bei Mutter zu sein und sauber und mit geputzten Zähnen in ein frisch bezogenes, warmes Bett kriechen zu können...

Donnerstag, 29. September 2011

Es wird Gras drüber wachsen...

So viele Jahre hatten sie um ihre Liebe gekämpft. So viele Jahre, in denen ihre Körper hässlich und grau geworden waren und ihre Seelen müde. Was hielt sie noch zusammen?
Bequemlichkeit, dachte sie, ich bin für ihn doch nicht mehr als ein Möbelstück, unter das er seinen Dreck kehren kann. Wenn es plötzlich fehlte, würde sein eigener Dreck ihn ersticken.
Angst, dachte er, sie ist so hässlich geworden, dass kein Mann sich mehr für sie interessiert. Sie hat Angst, allein zu bleiben.
Nein, sie waren sich nicht fremd geworden, sondern zu vertraut. Die Zeit hatte sie gleich gemacht und ausgewaschen wie Strandgut. Ihre Körper hatten sich so sehr angeglichen, dass Fremde sie für Geschwister hielten. Wenn Geschwister gemeinsam alt werden, gleichen sie irgendwann geschlechtslosen, seltsam unmenschlichen Zwillingen.
Hin und wieder ertappte sie sich bei einem Gedanken, der ihr bei genauerem Hinsehen fremd erschien. Dann zog sie es vor, nicht so genau hinzusehen. Sie sprachen dieselbe Sprache, verwendeten dieselben Wendungen, regten sich über dieselben Ungerechtigkeiten auf, lachten über dieselben Witze und fuhren jedes Jahr gemeinsam in den Urlaub, immer an denselben Ort, den sie angeblich beide liebten. Wenn sie nach der Arbeit nach Hause kamen, kochten sie gemeinsam, setzten sich gemeinsam zu Tisch und erzählten sich beim Essen, was sie den Tag über erlebt hatten, immer in derselben Reihenfolge – einen Tag zuerst er, dann sie, am zweiten Tag andersherum, damit keiner sich benachteiligt fühle. Und wenn alles gesagt war, sahen sie fern, um zu vermeiden, dass jeder sich in seinem eigenen Schweigen verirrte.
Wie ihre Seelen, erkannten ihre Körper einander, weil sie identitätslos und damit identisch waren. Sie hatten schon fünf Jahre nicht mehr miteinander geschlafen. Manchmal starteten sie einen halbherzigen Versuch, bei dem am Ende dann doch wieder einer von ihnen einen Pornofilm einschalten musste.

"Wusstest du, dass es ein Tantra-Hotel gibt?" fragte sie ihn eines Tages, als er gerade den Fernseher einschalten wollte.
"Ach? Hat das was mit Sex zu tun?"
Doch das Bild hatte sich eingenistet.
"Was würden wir in diesem Hotel jetzt machen?" fragte er scherzhaft, als sich im Bett gerade jeder auf seine Seite drehen wollte, und sie wusste sofort, dass er nicht scherzte.
"Ich weiß nicht...", entgegnete sie matt. "Kann Sex eine eingeschlafene Beziehung retten?"
"Einen Versuch wäre es wert", murmelte er unsicher.

Eine Woche später hatten sie ihre Buchung. Es war ein letzter verzweifelter Rettungsversuch, der bereits jetzt Wunder gewirkt hatte. Sie hatten sich an ihre alten Freunde erinnert, hatten nach vielen Jahren wieder einen gemeinsamen Abend mit dem Ehepaar verbracht. Dieser Abend war für beide wie ein starker Windstoß gewesen, der eine lange nicht mehr benutzte Tür aufgestoßen hatte. Sie hatten herumgealbert, hatten beide verblüfft aus den Augenwinkeln das von neuer Lebenslust gerötete Gesicht des jeweils anderen wahrgenommen. Er hatte zum ersten Mal in seinem ganzen Leben mit ihr getanzt, und sie hatte am Ende sogar einen kleinen Schwips gehabt.
Eigentlich waren sie nicht sehr überrascht gewesen, als das befreundete Paar ebenfalls Interesse an dem Tantra-Hotel bekundet hatte. Am Ende dieses Abends beschlossen sie, den Versuch zu viert zu starten. Vielleicht sah er ja doch mehr in ihr als ein Möbelstück? Vielleicht war sie ja doch noch auf eine Weise attraktiv für andere Männer, die er gar nicht mehr wahrnahm?

Das Hotel lag am Rand eines weitläufigen Landschaftsparks, der auch einen chinesischen Garten beherbergte. Seine Gestaltung und Einrichtung sprach alle Sinne an. Es gab in pastellenen Tönen gehaltene, verspielte Sitzecken, in denen es nach frischem Gras und Maiglöckchen duftete und zartes Glockenspiel die leichte Luft durchperlte. Es gab leuchtend bunte, mit Rosenblättern ausgestreute Säle, die nach sonnenerhitztem Sand und Meer rochen und in denen man Flamenco erlernen oder sich zu mit Möwengeschrei unterlegtem Sirtaki in kollektiv schwitzenden Rausch tanzen konnte. Es gab Veranden in Goldgelb, Braun und Violett mit dem Duft nach Kastanien und Kartoffelfeuern, in denen man melancholische Folksongs oder gefasst-heitere Gitarrenstücke von Dowland und Purcell hören und auf Wunsch auch selbst erlernen konnte. Es gab dunkle Grotten, in denen nur vereinzelte Fackeln Licht spendeten, wo der Tango in Rot und Schwarz stöhnte und die Luft geschwängert war von Moschus und Patchouli.
Es gab so viel...
Es gab auch Anleitung, Seminare, Yoga-Stunden, psychologische Paar- und Gruppenberatungen, und beide Paare fanden, das Geld sei wirklich gut angelegt. Schon am dritten Tag bekamen sie tatsächlich wieder Lust aufeinander, ihre Körper entdeckten die Freude am Unterschied wieder, und nach einer Woche war der Sex fast so erfüllend wie vor vielen, vielen Jahren.

In der zweiten Woche war es immer noch schön. Da saßen beide Paare in der Lounge beim Essen, schwatzten und lachten. Bis sie etwas erzählen wollte, etwas, was ihr sehr am Herzen lag. Kaum hatte sie die ersten Worte ausgesprochen, stieß das Ehepaar einen freudigen Überraschungsruf aus und wandte sich mehreren Leuten zu, die gerade hereingekommen waren. Sie kannte diese Leute nicht und fand es unhöflich, dass sie sie einfach ignorierten wegen ein paar Leuten, die mit ihnen nichts zu tun hatten. Immerhin waren sie extra zu viert in dieses Hotel gekommen, um sich nur miteinander zu beschäftigen.
Ärgerlich wandte sie mich ab und wartete. Doch auch er hatte sich ihnen angeschlossen, und die Unterhaltung und das Gelächter dort drüben wollten nicht enden.

Da erinnerte sie sich.

Es war immer so gewesen. Von Anfang an. Er hatte sie nur wahrgenommen, wenn sie allein waren, und auf einmal wusste sie wieder, warum sie sich nach und nach von allen Freunden, aus jedem gesellschaftlichen Leben, von ihren Familien zurückgezogen hatten. Aber auch dann hatte er nicht sie gesehen, nicht Ludmila, sondern "seine Frau", die zufällig Ludmila hieß, und auch das wusste sie nun wieder: Sie hatte ihm gleich werden müssen, hatte er werden müssen, seine weibliche und später neutrale Kopie, um überhaupt mit ihm zusammen leben zu können. Sie hatte es so nicht gewollt, doch es hatte für sie nur die Alternative gegeben: Er oder die Welt. Und sie hatte ihn geliebt.
Sie wunderte sich etwas, dass, anders als Liebe, Schmerzen nicht verblassen. Es tat so weh, als habe es nie aufgehört, weh zu tun. Ausgeschlossen. Übersehen. Ignoriert. Missachtet.
Incommunicado.
Noch einmal versuchte sie, ihn auf sich aufmerksam zu machen, doch er wimmelte sie gereizt ab wie eine Fliege.

Sie verließ das Hotel und lief über den Bushalteplatz. Das Wetter war dunkel und stürmisch, der Wind jagte ihr winzige Eisnadeln ins Gesicht. Das tat gut. Es war eine Bewegung, eine, die über die elf Schritte vom Badezimmer zum Bett hinaus ging, aus dem Ungewussten ins Ungewisse. Sie hatte sich nur den Kopf durchlüften wollen und fand sich doch auf einmal vor dem Busfahrplan wieder. In der Ferne hörte sie die Fetzen einer Melodie. Sie horchte auf. Sie kannte den Text.

Everyone is going through changes
No one knows what’s going on
Everybody changes places
But the world still carries on

Love must always change to sorrow
And everyone must play the game
It’s here today and gone tomorrow
But the world goes on the same*)

Zusammen mit dem Kopf hatte der Sturm auch ihr Herz frei gefegt. Zum ersten Mal nach so vielen Jahren waren ihre Gefühle vollkommen klar, und sie wusste, was sie zu tun hatte.
Es gab zwei Buslinien, mit denen sie hätte fahren können, aber leider war es zu spät. Heute fuhr kein Bus mehr nach Hause. Die anderen hatten gar nicht bemerkt, dass sie verschwunden war. Sie ging zu ihm und sagte still: "Fahr mich bitte nach Hause. Du kannst dann wieder zu deinen Freunden zurückkommen."
Zu ihrer Überraschung folgte er ihr wirklich wortlos zum Auto. Unterwegs, als sie an den schlafenden Bussen vorbei liefen, sprach sie:
"Ich bin sehr, sehr müde. Ich bin des Lebens müde und möchte sterben, aber ich werde mich nicht umbringen. Ich werde schon irgendwann von selbst sterben. Und ich werde dich sofort verlassen. Ich gehe ohne dich weit fort. Das ist kein Racheakt, das geht einfach nicht mehr anders. Ich kann nicht mehr bei dir bleiben, wir lieben uns nicht mehr."
Ihre Stimme war leise und monoton und klang wirklich erschöpft.

Wieder erlebte sie eine Überraschung. Anstatt ihr eine Szene zu machen, blieb er zunächst ganz still. Dann, im Auto, sagte er unter Tränen, während immer dichteres Gras um ihn spross:
"Ich wäre so gern bei dir geblieben. Ich liebe dich immer noch, nur manchmal..."
Was er nur manchmal tun musste, verstand sie nicht mehr durch das hohe, dichte Gras, in dem er versunken war, und durch ihre und seine Tränen.



*) Alan Price, Changes, aus dem Film O Lucky Man

© Angela Nowicki, 16. September 2010

Dienstag, 27. September 2011

Angst

Warum möcht ich denn jetzt gehen, und woher kommt diese Angst,
diese Unruhe, das Zittern in den Händen?
Warum bin ich wie gelähmt? Warum krieg ich nichts zu Stande?
Ach, mit Schnaps kann ich mich nicht mal mehr betäuben!

Was bedroht mich?
Wer bedroht mich?
Ich spüre die Dämonen hier und seh sie nicht.

Weiter hoff ich auf den Anfang, auf den nächsten, mir geschenkten,
denn so viele schon hab ich kaputt getreten.
Weiter bin ich unersättlich, und kein Ende ist zu sehen.
Niemand zieht den Schlussstrich unter meine Pleite.

Was erhält mich?
Wer erhält mich?
In diesem Halb, in diesem schalen Dämmerlicht?

Nicht Abend und nicht Morgen, aber ständig Abend-Morgen -
und ich halt das aus!
Nicht oben und nicht unten, aber immer hoch und runter -
und ich halt das aus!
Kein Gott hat mich gesegnet und kein Teufel mich geholt,
und ich habe
Angst.

© Angela Nowicki, 1986

Sonntag, 25. September 2011

Kapitel 6: Wrocław - Częstochowa

oder
Alles ist gut


Sonntag, 15. August 76

Kurz, nachdem Leszek seine Fahrkarte geholt hat, müssen wir aufbrechen. Im Zug schlafe und wache ich abwechselnd, schaue mir den Sonnenaufgang an und träume vom warmen Tag. Wo sind deine Schuhe, fragt Leszek. Ich muss lachen.
Als wir in Opole ankommen, fühl ich mich wieder mal wie durch den Wolf geleiert.
"Mir tut alles weh." Jetzt lacht Leszek.
Auf dem Stadtplan suchen wir erst mal die Straße nach Częstochowa. Es ist die Ozimska, und bis dorthin ist ein ansehnliches Stück noch zu laufen. Doch schließlich haben wir's geschafft, sind am Ende der Stadt angelangt und stellen uns kurz hinter einer Brücke auf. Trotz oder vielleicht wegen der frühen Morgenstunde hält kein Schwein. Leszek sitzt unter einem Baum und singt die ganze Zeit - er hat eine schöne Stimme. Ab und zu lässt er auf die Autos gemünzte Bemerkungen los, wie:
(pathetisch) "Wrocław!"
(verächtlich) "Syrena!" oder
(dramatisch mit leicht komischem Einschlag) "Jedzie takim trupem, a udaje że to samochód!"*)
Auch bei mir stellt sich mit den ersten brüchigen Tönen, die meine Gesangskehle hervorbringt, ganz allmählich wieder eine Trampstimmung ein. Schließlich nimmt uns doch einer mit, allerdings nur bis Ozimek. Dort stehen wir uns die Beine in den Bauch; die Straße ist alle halbe Stunde zwanzig Minuten lang blockiert von Kirchgängern und -fahrern.
Leszek fällt plötzlich ein, dass er hier eine Bekannte hat, die er schon vier Jahre nicht mehr gesehen hat - eigentlich würde er sie gern mal besuchen. Nach drei Stunden, so gegen zehn, hab ich die Schnauze voll. Fährt denn hier kein Bus nach Częstochowa? Er weiß es zwar auch nicht genau, vor allem nicht, wann und wo, aber eine ältere Frau gibt uns wieder Kraft: Durch sie erfahren wir erst mal, dass und wo einer fährt. Auf dem langen Weg in den Ort beschließt Leszek, gleich mal dieses Mädchen zu besuchen. Vielleicht gibt sie uns etwas Geld? Ich bin nicht sehr erbaut. Ich will schnellstens nach Częstochowa, und das sag ich ihm auch. Natürlich, komm, das dauert nicht lange, dann fahren wir gleich nach Częstochowa. Ich folge widerwillig.
Zufällig treffen wir Iwona mit ihrem Bruder vor ihrem Haus - sie fällt aus allen Wolken und freut sich wie eine Schneekönigin, Leszek wiederzusehen. Na ja, verständlich, nach vier Jahren! Sie bringt uns auch zum Bus, schenkt Leszek tatsächlich 200 Złoty und wartet mit uns noch die halbe Stunde, bis der Bus nach Lubliniec kommt, und sogar noch, bis er fährt. Ich bin leicht begeistert, als sie endlich aussteigt. Es war ziemlich nervenaufreibend für mich, in dieser Verfassung - übermüdet, gereizt, abwechselnd schwitzend und frierend und mit Blasen an den Füßen - einer Unterhaltung zuhören zu müssen, von der ich nichts verstehe.
Bis Lubliniec fahren wir lange. In Lubliniec warten wir noch mal so lange, bis der Bus nach Częstochowa kommt. Und diese Fahrt ist natürlich auch nicht kürzer als die vorhergehende.

Doch endlich: Częstochowa! Mein Herz beginnt, Sechzehntel zu klopfen. Da! Die ersten Hippies! An einer Ecke stand eine kleine Gruppe. Am Bahnhof steigen wir aus. Bis zum Kloster ist es noch weit zu laufen, die Sonne brennt, das Gepäck ist schwer - ich trage die ganze Zeit schon Leszeks Tasche mit - und: Es ist fast nirgends ein Durchkommen. Die Straßen, vor allem die Allee zum Heiligen Berg hoch, sind so gerammelt voll, wie ich es noch nie erlebt habe. Heute ist bzw. war Einzug der Wallfahrt. Man kann keinen Schritt normal gehen, laufend muss man sich durchboxen, -treten und -schieben. Nach einer Stunde (!) haben wir's bis auf den Platz vorm Großen Tor geschafft. Da beginnt es zu regnen. Innerhalb von zwei Minuten hat sich das anfängliche Nieseln zum richtigen Guss entwickelt. Viele geraten in Panik, am Großen Tor setzt ein Rein- und Rausgerenne ein. Da kommen wir jetzt nicht mehr durch. Leszek hat das ebenfalls richtig erkannt, als er vorschlägt, hier stehen zu bleiben und den Regen vorbei zu lassen. Wir stellen das Gepäck an die Mauer, ich gebe ihm meine Plane zum Umhängen und ziehe selbst die Parka an.
Ja, den Regen vorbei lassen! Wir hatten angenommen, das sei nur ein vorübergehender Schauer, als es aber nach einer Stunde immer noch wie aus Eimern gießt, hab ich's dicke. Mir klappern schon sämtliche Knochen, alles, aber auch alles, ist durchgeweicht und dazu noch barfuß! Ich sage zu Leszek, komm, wir versuchen reinzukommen, koste es, was es wolle. Es kostet ganz schön was. Mindestens Kraft und Nerven wie Drahtseile. Das ganze Innengelände des Klosters ist ein einziges Chaos. Am ersten Tor geht es ja noch, aber am zweiten ist ein Stau, weil mehr durch wollen, als das Tor fassen kann, und mindestens ebenso viel zurück. Wenn man nicht Acht gibt, besteht ernsthaft die Gefahr, zertreten zu werden. Eine halbe Stunde lang kommen wir nicht mehr vorwärts. Langsam krieg ich auch mit, dass wir und alle, die rein wollen, im Unrecht sind: Das ist ein Ausgang.
Leszek ruft mich. Komm, meint er, bloß raus, das ist doch sinnlos. Da hat er Recht. Wir kämpfen uns zurück, runter vom Berg, da ist ein Café mit überdachtem Vorplatz. Es hat zwar zu, aber unter dem Dach sind wir erst mal vorm Regen geschützt, der auch allmählich nachlässt. Wir reißen uns die nassen Umhänge vom Leib, breiten das Geklitsche notdürftig aus, und ich friere wie ein Weltmeister. Die anderen Massen, die hier unterstehen, sind alle noch schön trocken, ich beneide sie. Unversehens wird mir entsetzlich schlecht, ich kriege richtige Unterleibskrämpfe, krümme mich und stöhne. Leszek schlägt vor, zu seinem Bekannten hier zu gehen. Ich frage, wohnt er weit? Ja, am anderen Ende der Stadt. Das ist mir zu viel. Ich sage, mir ist schlecht, ich kann überhaupt nicht mehr, geh nur alleine, ich finde mich schon irgendwohin. Nach einer Weile zieht er ab: Cześć, vielleicht sehen wir uns irgendwo mal wieder!

Ich habe schon ein paar Typen drüben rumlaufen gesehen, einige sahen sogar aus wie Deutsche. Mir ist eine wunderbare Idee gekommen: die Sankt-Josef-Kapelle! Dort fand doch ab und zu mal die Hippie-Messe statt. Vielleicht haben sie sie auch jetzt wegen des Regens geöffnet, und es sind ein paar Leute dort. Gedacht, getan. Zitternd, bibbernd und triefend laufe ich hoch. Mein Herz macht einen Freudensprung: Vor der Kapelle stehen die Leute! Die Kapelle ist wirklich offen! Ich gehe rein. Drin sind sämtliche Bänke vollgerammelt - mit Hippies! Es ist schön warm. Ich lasse mein Gepäck fallen, lehne mich neben die Tür und schaue mir das Ganze andächtig an. Endlich! Jetzt kann mein Festival losgehen.

Einer erzählt und gibt Anweisungen. Die Leute singen. Ich schaue nach bekannten Gesichtern aus. Eine ganze Weile entdecke ich niemanden. Da läuft plötzlich einer vor mir vorüber zur Tür: Michał!
Ich schreie: "Michał!"
Er dreht sich um, sieht mich, schreit los: "Neila!"
Wir sind vor Freude wie aus dem Häuschen, umarmen uns, lachen, singen und tanzen. Dann schleppt er mich mit hinter zu seinen Leuten. Ich erzähle ihm das Malheur mit dem Regen. Sofort packen wir alles aus, legen und hängen es zum Trocknen auf. Er gibt mir ein trockenes Handtuch, und ich trockne mich ab. Aber du bist ja barfuß! Ja, sag ich, und erkläre ihm das. Er wiederum erklärt mich für völlig verrückt, auch seine Freunde lachen. Einer konstatiert kategorisch, das Wichtigste sei, dass ich erst mal Schuhe hätte, und drückt mir auch gleich ein Paar alte blaue Turnschuhe in die Hand. Sie sind mir zwar viel zu groß, aber ich freue mich. Na, bin ich nicht wie ein Vater zu dir? Ja, sage ich, und Michał meint, er sei Vater und Mutter zugleich. Nun berichtet er erst mal, was in den Tagen hier so los gewesen ist. Drei Hare-Krishna-Tage; er ist ganz begeistert, und ich ärgere mich ein bisschen, dass ich heute erst gekommen bin. Und das Größte: Helmut und Wolf sind da, unsere beiden Freunde aus Rothenburg! Ich denke, ich höre nicht richtig. Helmut und Wolf, sagst du? Helmut und Wolf?! Ich werd nicht wieder! Und Helmut hat mir in Rothenburg noch ganz traurig gesagt, das sei das erste Jahr, in dem er nicht in Częstochowa sein werde. Und Cygan und Zawisza sollte ich grüßen! Und jetzt sind sie hier! Wo sind sie jetzt überhaupt? Sie wollten in die Stadt, sie werden im Laufe des Abends schon noch hierher kommen.

Nach einer Zeit gehen Michał und ich mal raus, um eine zu rauchen. Ich verteile meine sämtlichen Karo, die ich noch habe. Als wir wieder reinkommen, sehe ich Jacek da sitzen, mit dem ich voriges Jahr von hier nach Warschau getrampt bin. Ich stürme auf ihn zu: "Hej, Jacek!"
Er scheint nicht ganz zu wissen, wo er mich hinstecken soll, guckt mich groß an und überlegt angestrengt.
"Er kennt mich nicht mehr!" rufe ich.
Doch langsam scheint es bei ihm zu dämmern: "Doch, warte mal... letztes Jahr sind wir zusammen nach Warschau getrampt, stimmt’s?"
Der Groschen ist gefallen.
"Neila, stimmt‘s?"
Ja! Wir drücken uns die Hand, dann schiebt mich Michał schon weiter. Es dauert nicht lange, da ist die Versammlung hier drin beendet. Langsam drängt alles nach draußen. Um Michał und mich versammeln sich so nach und nach alle Wrocławer. Sie wollen heute Abend schon wieder nach Hause fahren, mit dem Zug. Erst soll aber noch eine Messe sein, auf einer Wiese hinter dem Kloster. Ich erfahre, dass die Hippies dieses Jahr aus dem Kloster vertrieben worden sind. Die Bullen hatten den Priestern ein Ultimatum gestellt. Angedroht waren Wasserwerfer und Tränengas...
Plötzlich sehe ich Wolf. Ich rase los wie eine Verrückte, schreie, auch er schreit, wir fallen uns um den Hals, wirbeln herum und können uns gar nicht wieder fassen. Ein deutsches Mädchen ist mit ihm, sie und ihre Freundin haben sie in Prag aufgegabelt. Sie kommen aus - Merseburg! Ich grinse. Aber wo ist Helmut? Weiß nicht, sagt Wolf, ich suche ihn grade. So zieht er weiter und hält nach Helmut Ausschau.

*) Fährt so eine Schrottkiste und tut, als wär’s ein Auto!

Kapitel 5: Deutsch-polnische Hochzeitspläne

oder
Die Gerade ist eine deutsche Erfindung


Die "Freunde" waren eine amorphe Truppe bunter Wrocławer Hippies, die, so kam es Neila vor, nur auf sie gewartet zu haben schienen, um auch ihr Leben so bunt wie möglich zu machen. Es waren Studenten, Schüler, Arbeiter, Arbeitslose, aber eine Stammbelegschaft war immer zur Stelle, um Neila die Stadt zu zeigen, mit ihr zu feiern, sie überallhin zu schleppen, wo es etwas Interessantes zu erfahren gab. Zunächst aber war ihr Problem das Interessanteste, und die Fantasie schlug mehrere Tage lang hohe Wellen, wie man eine flüchtige Deutsche am besten offiziell in Polen sesshaft mache.
"Du musst heiraten", konstatierte Zenek trocken.
Das aktuelle Gruppengebilde nickte tiefsinnig und atmete hörbar auf. Na klar, das ist die Lösung. Da wäre sie nicht die Erste und auch nicht die Letzte.
Heiraten. Na gut. Aber gehört dazu nicht irgendwie ein Mann?
"Wir finden schon einen, keine Sorge", beruhigte sie Zenek.
Neila glaubte ihm aufs Wort.

Zu Recht. Der Kandidat hieß Zbyszek und wurde bereits am nächsten Tag vorstellig. Er war klein, trug Bart und Brille und arbeitete in einer Bibliothek. Neila blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, wand sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. Sie saßen zu sechst in einem Café, und vier Gesichter starrten sie angespannt an. Nein, fünf, Zbyszek natürlich auch. Heiraten...
"Und du willst dich darauf einlassen?" fragte Neila, sich bei der leisen Hoffnung ertappend, dem Kandidaten werde plötzlich klar, worauf er sich da einlassen würde.
"Warum nicht? Ist kein Problem, mach dir mal keine Gedanken, alles bestens!" schmetterte der Kandidat mitleidlos mitten in ihre leise Hoffnung hinein. Die wurde umgehend begraben.
"Ja, dann... ja, warum nicht?"
Mindestens vier Gesichter entspannten sich zu einem breiten Lächeln.
"Ist ja egal, nicht?" Den winzigen Querschläger konnte Neila sich nicht verkneifen.
Der Kandidat parierte ihn ungerührt: "Klar. Kein Problem."
"Das muss gefeiert werden!" beschloss das aktuelle Gruppengebilde.

Und es wurde gefeiert, so was sagt ein Pole nicht zum Spaß. Am selben Abend noch trafen sich in der abgewohnten Uraltbauwohnung bei Zbyszek Apostoł, Poli, Zenek, Michał und zwei Jolkas. Eine davon war die Freundin von Zbyszeks Bruder Adaś und wohnte hier. Es wurde eine große Fete, immerhin war eine Verlobung zu feiern. Jolka Eins kochte, Zbyszek schnitt Wurst, Käse und Gurke auf, jeder hatte etwas mitgebracht, es gab Bier und billigen Wein, es gab Blues, Rock und Jazz, und es gab Geschichten, Witze, Erlebnisse, philosophische Dispute und künstlerische Diskussionen bis zum frühen Morgen.

So hätte es wohl endlos weitergehen können. Jeden Abend brachte irgendjemand etwas zu trinken mit, gute Musik, ein gutes Buch und vor allem eine unverwüstliche gute Laune. Jeden Tag schleppte jemand Neila in die Kneipe oder zu einer Schiffstour auf der Oder. Jeden Tag lud jemand anderes sie zu sich ein, machte sie mit immer neuen, immer gleich herzlichen Freunden bekannt. Zeitmangel schien hier ein Fremdwort zu sein; die Leute schienen nie arbeiten zu müssen, nie Termine zu haben, keine wichtigen Erledigungen, keine Pflichten.

Nur Jolka Eins war anders. Sie war kein Hippiemädchen, gegen eine solche Unterstellung hätte sie sich wohl lachend verwahrt. Sie war eine ganz normale junge Frau, die ihre Zukunft vermutlich in einer ruhigen Ehe mit zwei, drei Kindern, an Herd und Kochtopf sah. Aber das waren keine Sehnsüchte, dazu schien Jolka viel zu pragmatisch zu sein. Sie war Adams Freundin, also wohnte sie bei ihm, und wenn diese Wohnung täglich von fünfzig Chaoten heimgesucht wurde, dann kochte sie eben für alle, räumte ihnen kommentarlos den Dreck hinterher und feierte mit ihnen, wenn es sich so ergab. Sie schimpfte nie, sie weigerte sich nie, aber es war auch nichts Unterwürfiges an ihrem Tun. Sie war einfach da und tat, was getan werden musste, immer gut gelaunt, immer beschäftigt.
Aus irgendeinem Grund begann Neila, sich Jolka gegenüber schuldig zu fühlen, jeden Tag ein bisschen mehr. Sie konnte ihr nicht helfen, sie konnte weder kochen, noch war sie der Typ, der sich in jedem Haushalt zurechtfindet, und sie wollte es im Grunde auch gar nicht. Neila hätte selbst nicht sagen können, was es war, was ihr dieses Unbehagen verschaffte, doch es war der erste Vorbote einer inneren Seenot, die erste Welle, die das Seelendeck überspülte, die schnell weggewischt wurde und für heiteren Gesprächsstoff am Abend sorgte, nach der jedoch nie wieder Ruhe einkehrte, der weitere Wellen folgten, die nicht mehr lustig waren, bis hin zum endgültigen seelischen Schiffbruch.

Doch noch war alles bunt und laut und unbeschwert. Vor allem laut. Neila war es nicht gewöhnt, täglich von früh bis spät in Gesellschaft zu sein. Sie war eigentlich kein Gruppenmensch, sie brauchte viel Ruhe und viel Zeit für sich allein. Spätestens, als sie nach einem weiteren Tag zu fiebern begann, wurde sie abends zunehmend still, zog sich die Tarnkappe über die Ohren und verkroch sich in sich selbst. Sie hatte nicht mit der röntgenbegabten Mütterlichkeit ihrer Gastgeber gerechnet. Henas und Ewa waren zu Besuch gekommen. Henas ein Wikinger wie aus dem Geschichtsbuch, mit zusammengekniffenen, blitzenden Augen und einer großen Liebe zum Bier, Ewa eine Schönheit in Indianerkleidern und Perlenketten. Die beiden waren die Seele der Wrocławer Hippies, jeder kannte und mochte sie, es war, als ob ein beständiges Strahlen von ihnen ausgehe – wo sie auftauchten, wurde es hell und warm. Ewa hatte Medizin für Neila mitgebracht, Henas brachte ein Thermometer, Zbyszek schleppte ihren Rucksack aus Michałs Haus an, dessen Eltern nun endlich die Wahrheit über Neilas Besuch erfahren hatten und verständlicherweise sauer waren. Neila war den Leuten so dankbar, doch die Gespräche und das Lachen zerrten mittlerweile derart an ihren Nerven, dass sie Henas‘ und Ewas Strahlen gern gegen eine dunkle Höhle vertauscht hätte. Wenigstens für heute Abend. Doch nichts da. Die Tarnkappe schien defekt zu sein, alle paar Minuten wandte Ewa sich ihr in ehrlicher Fürsorge zu: "Was ist los mit dir? Geht’s dir nicht gut? Warum bist du so still?"
Neila stammelte etwas zusammen, was kein Mensch verstand und was alle nur umso besorgter machte. Sie konnte doch nicht sagen: "Lasst mich in Ruhe, wenigstens einen Abend" – oder? Es musste etwas geschehen. War nicht eine Hochzeit geplant? Sie begriff, dass die Gerade als kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine deutsche Erfindung ist. Sie wurde sehr deutsch. Sie drängte darauf, sofort Nägel mit Köpfen zu machen.

Vorbei die blauen Wolken, versperrt die fantasievollen Mäander. Kein sanftes Gleiten mehr durch zeitlose Räume, kein "Jakoś to będzie – irgendwie wird’s schon werden". Es wird werden, aber nicht irgendwie, sondern so: Neila schleppte Zbyszek zum Konsulat der DDR. Stellte ihn als ihren künftigen Ehemann vor, für den sie ihre Heimat schweren Herzens verlassen müsse, und verlangte eine sofortige ständige Aufenthaltsgenehmigung für die Volksrepublik Polen.
Die Bürokratie aber ist die Schwester der Geraden. Natürlich werden Sie heiraten. Umsiedeln? Aber natürlich, selbstverständlich. Dazu brauchen Sie nur... Und es folgte der Laufzettel für mindestens einen Monat Behördengänge – in der DDR.

Die Hochzeit wurde abgeblasen. Neila geht nicht zurück. Der Kandidat trug’s mit Fassung.

Mittwoch, 21. September 2011

Mundtot machen - in eigener Sache (schon wieder)

Da ich die Geschichte schon wieder völlig neu strukturiert habe (irgendwie sollte da schon ein roter Faden rein, selbst wenn er wilde Schlaufen schlägt, gell) und langsam keinem Leser mehr zumuten möchte, alle drei Wochen von vorn anzufangen, habe ich mir jetzt Folgendes ausgedacht:

Die Geschichte bekommt eine eigene Kategorie - "Mundtot machen" natürlich -, in der das nach und nach wachsende und sich doch immer wieder wandelnde Buch allein zu finden ist, und jedes Kapitel bzw. Unterkapitel bekommt dort seinen eigenen Titel. So sieht der Leser gleich, was er noch nicht gelesen hat, und kann es nachholen, wie er mag.

Dienstag, 20. September 2011

Unser Prominenter Junge (Teil 3)


Irene steht im Badezimmer und lässt Wasser in die Wanne. Das Wasser läuft langsam. Träge streift sie ihr blassgrünes Musselinkleid ab. Wieder gibt es einen kleinen Stich: ‚Er hat noch gar nichts dazu gesagt. Er hat es noch nicht einmal gesehen.‘ Er ist noch gar nicht zur Besinnung gekommen! protestiert Irene. Wie sollte Er es sehen, wenn Er in den zwei halben Tagen, die Er daheim ist, pausenlos von allen bestürmt wurde: der Hausstaat, ihr Geschenk, die Fernsehfritzen...
Während sie so, in trotzige Gedanken versunken, auf ihr Bad wartet, stürmt Marmara herein, ruft: "Wie schön! Genau das brauche ich jetzt", springt in die Wanne und taucht unter. Eine ungeheure Wut schießt in Irene hoch. Sie wartet hier seit einer halben Stunde auf ihr Bad, sie hat sich alles sorgfältig zurecht gemacht - und die kommt einfach rein und stiehlt ihr praktisch die Früchte ihrer Arbeit! Sie will Marmara zur Rede stellen. Zunächst mit ihrem Dolchblick, sie denkt, den wird die Kröte schon verstehen, aber die taucht immer wieder unter und öffnet ihre Augen überhaupt nicht. Kann ja sein, dass sie das Bad wirklich braucht, aber das hier ist MEINS!
Irene dreht sich um, um sich die Zähne zu putzen, da fällt ihr das Zahnputzzeug aus der Hand. Plötzlich brüllt sie aus Leibeskräften los, dass es wahrscheinlich noch in den Nachbarhäusern zu hören ist. Marmara springt erschrocken aus der Wanne und fragt, was los sei, da hört man im Nebenzimmer jemanden leise, aber scharf fluchen. Irene erschrickt: Ihr fällt ein, dass Unser Prominenter Junge sich schlafen legen wollte, und sie brüllt hier wie eine Kuh beim Kalben! Er hört gar nicht wieder auf zu fluchen, doch während sie beide noch nackt und starr und mit aufgerissenen Augen im Badezimmer stehen, bemerkt Marmara, dass sein Fluchen sich irgendwie seltsam anhört. Sie kichert, schleicht sich auf Zehenspitzen hinaus und öffnet leise die Tür zum Nebenzimmer - und da hört Irene es auch: Er flucht, aber nicht wegen ihres Gebrülls, sondern er erzählt sich selbst eine komische Geschichte. Nun kichern sie beide.
Aber was ist das für eine Geschichte? Irene ist es, als habe sie ihren und Marmaras Namen gehört. Jetzt läuft auch sie zur Tür, doch sofort schließt Marmara sie ebenso leise, wie sie sie geöffnet hat, und schiebt Irene ins Badezimmer zurück. "Willst du, dass Er uns nackt sieht?" zischt sie, während sie die Badezimmertür ins Schloss zieht. Sie weist auf die volle Wanne: "Ich bin fertig, kannst baden."
Mechanisch steigt Irene in die Wanne. Sie ist so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht auf die Idee kommt, von Marmara frisches Wasser zu verlangen.

Am dritten Tag nimmt Unser Prominenter Junge die Gelegenheit wahr, sich von Irene behandeln zu lassen. Wozu hat man eine Zahnärztin im Haus? Zahnarzthelferin Marmara assistiert. Noch immer war keine Rede von der gemeinsamen Wellnessgymnastik, doch Irene hat sich fest vorgenommen, die Gelegenheit zu nutzen, ihn gleich nach der Behandlung daraufhin anzusprechen. Vielleicht absichtlich, der Umstand, dass Marmara anwesend ist, kommt ihr entgegen. Dennoch hat sie jede Vorstellung von deren Reaktion, die sich ihr aufdrängen wollte, bis jetzt abgeblockt. Sie will sich gar nichts vorstellen, sie will nur noch ins Ziel. Das Schlimmste, was sie sich vorstellen kann, ist ein Marathonläufer, der kurz vor dem Ziel zusammenbricht.
Als Unser Prominenter Junge vom Behandlungsstuhl steigt, klopft es an der Tür. Irene hat sich gerade die Hände eingeseift, Marmara räumt die Instrumente weg. Die alte Missie steckt ihren runden Kopf herein und zwinkert: "Da steht ein Verehrer draußen, soll ich ihn reinlassen?"
Erstaunt hebt Irene den Kopf, spült schnell die Seife von ihren Händen. "Ja, soll reinkommen...", sagt sie unsicher. Marmara ist plötzlich verschwunden, Unser Prominenter Junge bleibt auf halbem Weg zur Tür stehen.
In der Tür steht Jürgen Drews. Irene traut ihren Augen nicht. Während sie sich reflexhaft die Hände abtrocknet, denkt es in ihr mindestens vier Gedanken parallel: dass Unser Prominenter Junge immer ein Fan von Jürgen war, er war sein Vorbild, er ist ihm nie begegnet, jetzt ist er hier, das ist er doch, ist das ein Traum?
"Marmara!" ruft Irene, etwas hysterisch lachend.
"Hallo!" sagt Jürgen Drews.
"Oh", murmelt Unser Prominenter Junge mit versteinertem Blick. "Hallo..."
Marmara steht in der Tür zum Labor, fix und fertig angezogen, kein rosa Kittel mehr, keine Gesundheitsschuhe. Sie strahlt. Sie strahlt Jürgen Drews an. Erwartungsvoll, schießt es Irene durch den Kopf. Was ist das hier?
"Hallo, Herr Drews... na, so was...", stammelt Unser Prominenter Junge, der langsam seine Fassung wiederfindet.
Irenes Blick wandert im Dreieck. Sie sieht den Prominenten Jungen vor ehrlicher Überraschung strahlen, wie ihn noch nie gesehen hat, noch nie so unverstellt und bloß. Sie sieht Marmara vor Erwartung strahlen, und beide strahlen in dieselbe Richtung. Sie sieht Jürgen Drews zurückstrahlen mit professioneller Natürlichkeit, wie es sich für ihn gehört und für einen Eingeweihten, der weiß, was das hier ist oder werden soll. Sie hört, wie Worte gewechselt werden, verblüffte, artige, überschwängliche, kichernde und gespielt begeisterte, und dann sieht sie, wie Jürgen Drews vor ihrem ebenfalls prominenten Gast niederkniet und zu singen beginnt. Er singt "Ein Bett im Kornfeld", und er singt es toll und tausendmal geübt, wie tausendmal zum ersten Mal, mit bühnenreifer Gestik, mit dem faltigen Gesicht des ewig Sechzehnjährigen. Just lovely!
Irene spürt nicht, dass ihr Herz bereits im Hals schlägt, sie spürt nicht das metallische Ziehen im Steißbein und nicht die Eiswürfel im Blut, sie denkt nur: ‚So prominent ist Unser Junge...?‘ und weiß im gleichen Augenblick, dass es nicht darum geht, so prominent ist dieser Junge nicht, war er nie, es geht um etwas ganz anderes. Es geht um Deckel, die nicht zu ihr gehören, nie gehört haben und nie gehören werden, es geht um Schmerzen, die nie aufhören werden, solange geräumige und billige Schränke fliegen zu können glauben wie Heliumballons, es geht um Schulden, die es gar nicht gibt, nicht geben kann, natürlich nicht, denkt Irene, unschuldige Schuld und heilige Unschuld, denn darum geht es: Es geht darum, dass ein durchgehaltener Marathon noch weniger wert ist als ein aufgegebener, wenn man nicht als Erster ins Ziel einläuft. Es geht darum, dass zwei schuldig Unschuldige gleich zur Tür hinausspazieren werden, Arm in Arm, zur Wellnessgymnastik zu zweit, mit der sie, sie, sie! sich unschuldig schuldig gemacht hat, schuldig eines logischen Verbrechens an ihrem Herzen, denn es geht am Anfang und am Ende und hinter und vor allem immer nur um den Rhythmus ihres Herzens, der ewig ist und groß.

© Angela Nowicki, 13. September 2010-2011