Eine dreiviertel Stunde wohl warte ich dann auf einer kalten Bahnsteigbank auf den Zug nach Wrocław. Das erste Mal macht es sich etwas unangenehm bemerkbar, dass ich barfuß bin. Mit fortschreitender Nacht wird das immer schlimmer. Das nächste Mal nehm ich doch Schuhe mit, wenigstens ein Paar Sandalen!
Bis Görlitz muss ich stehen - vor dem Klo. Zwei Polen stecken laufend den Kopf durch die Tür, um mich anzustarren. Endlich bekomme ich einen Platz. Mir gegenüber sitzt ein polnischer Herr, auf der Bank nebenan wohl eine Bekannte von ihm oder was weiß ich, auch Polin, und eine ältere Riesendame von uns. Ein bisschen Herzklopfen vor der Grenzkontrolle hab ich doch. Mein Urlaub ist morgen zu Ende. Aber alles ist ganz schnell und harmlos vorbei. Ein Blick in den Ausweis, das übliche Hinhalten zum polnischen Grenzbullen - "Bitte sehr!" - und den Ausweis zurück.
Ich bin sehr erleichtert: Jetzt fängt der Urlaub endlich an, der eigentliche Urlaub. Es wird herrlicher werden als je zuvor - Częstochowa, Jasna Góra, die Freunde, bekannte und unbekannte, alte und neue, das Fest der Hippiegeneration - ein Urlaub voller wechselnder Farben, voller Licht, das die Schatten leuchten macht. Ein Urlaub voll von Düften, seltsamen und wunderbaren Tönen und Klängen, von Wiesen und platzend vollen Straßen, staubigen Wegen und schillernden Wassern, voll von Lachen und guten Worten, gefüllt insgesamt von einem übermächtigen Gefühl der Zusammengehörigkeit und schließlich auch voller Verzweiflung über die Unvollkommenheit, die immer noch besteht, voll noch unerfüllter Wünsche und guter Vorsätze - Polen... ich träume...
Die Riesendame nebenan benimmt sich unheimlich blöd. Mit süßlich grinsenden, angeschmierten Lippen flötet sie in breitem Sächsisch dem Grenzbullen ihre persönlichen Beziehungen zu irgendwelchen hohen Tieren vor und die Vorgeschichte dieser Polenreise, was den überhaupt nicht interessiert. Sie ist unglaublich verunsichert, vielleicht denkt sie, der Bulle könnte sie einsperren, wenn er über sie nicht genau Bescheid weiß.
Zgorzelec. Erste Station. Ich ziehe mir die Strümpfe an und strecke mich auf der Bank aus. Als ich aufwache, fahren wir in Wrocław ein, und ich habe wahnsinnige Nackenschmerzen. Alles verrenkt - kein Wunder! Als ich meine Sachen zusammenpacke, richte ich meine ersten polnischen Worte an meinen Gegenüber. Ich will wissen, ob der Zug nicht vielleicht doch über Częstochowa fährt; ich habe vorher irgendwas aufgeschnappt:
"Ten pociąg nie jedzie przez Częstochowę, prawda?"
Er verneint, angenehm überrascht, und bückt sich sogar noch nach meiner runtergefallenen Flöte. Wieder barfuß, frierend, verschlafen und dennoch reichlich müde, dränge ich mich mit der Masse anderer Reisender hinaus auf den Bahnsteig.
Unten in der Bahnhofshalle spült mich die erste Freude um: Man ist in Polen, man sitzt auf dem Erdboden, vorrangig als Jugendlicher! Ein lang entbehrtes Bild. Als ich nach genauem Studium des Fahrplanes und gefasstem Entschluss, mit dem nächsten Zug halb vier nach Opole zu fahren und von dort aus, da es dann endlich hell ist, weiterzutrampen, vor dem Fahrkartenschalter stehe, fällt mir erschrocken ein, dass ich ja überhaupt noch kein polnisches Geld bei mir habe.
An der gegenüberliegenden Wand sehe ich eine Gruppe Tramper zwischen Rucksäcken auf dem Boden sitzen, einer hat eine Gitarre. Ich hocke mich zu ihnen und frage, zunächst mal auf Deutsch, ob sie mir Geld tauschen können. Es sind Polen, und der eine steigt auch interessiert auf ein Gespräch mit mir ein. Er sieht ganz niedlich aus und kokettiert ein bisschen rum. Ich krieg es fertig, 20 Mark zu tauschen, eins zu sechs, also 120 Złoty. Die Fahrkarte nach Opole kostet nur etwas über 20. Dann unterhalte ich mich die ganze Zeit mit dem niedlichen Polen, Leszek, wobei ich etwas geschockt mitkriege, dass er ein Krüppel ist: Lähmung (teilweise) der Beine. Die Krücken hatte ich anfangs nur für einen Gag gehalten.
Leszek erzählt mir, dass sie nach Silberberg wollen. Als ich ihm sage, was mein Ziel ist, wird er stutzig. Częstochowa? Er grinst: "Was ist denn in Częstochowa? Jasna Góra, das Kloster, ja?" Als ich bejahe, grinst er noch mehr: Er weiß Bescheid.
"Ich fahre zum Hippietreffen."
"Ich weiß, ich weiß..."
1972 sei er dort gewesen. Das Ganze sei es nicht wert hinzufahren, meint er. 1972 waren noch Tausende von Leuten da. Von Jahr zu Jahr sind es immer weniger geworden. Ich erzähle ihm vom vorigen Jahr und wie viele Leute wieder dort waren. Er wird nachdenklich. Plötzlich sagt er:
"Gdybym miał forsę, pojechałbym z tobą."
Wenn er genug Geld hätte, würde er mitkommen. Mensch, sag ich, wo fehlt's denn an Geld, ich hab noch fast 100 Złoty. Das erste Mal geht er nicht drauf ein. Aber nach einer Weile kommen wir auf das Thema zurück. Er schwankt noch ein bisschen, dann steht sein Entschluss fest: "Jadę z tobą. – Ich komme mit."
Fajnie! Ich freue mich. Bin ich wenigstens nicht mehr allein auf Tramp. Seine Freunde lachen und schütteln verständnislos die Köpfe: "Was willst du denn dort? Du kleiner Hippie!"
Aber sie nehmen es als selbstverständlich hin, dass jeder seiner eigenen Wege geht.
Doch es ist ja schon längst wieder ein neuer Tag angebrochen...
Bis Görlitz muss ich stehen - vor dem Klo. Zwei Polen stecken laufend den Kopf durch die Tür, um mich anzustarren. Endlich bekomme ich einen Platz. Mir gegenüber sitzt ein polnischer Herr, auf der Bank nebenan wohl eine Bekannte von ihm oder was weiß ich, auch Polin, und eine ältere Riesendame von uns. Ein bisschen Herzklopfen vor der Grenzkontrolle hab ich doch. Mein Urlaub ist morgen zu Ende. Aber alles ist ganz schnell und harmlos vorbei. Ein Blick in den Ausweis, das übliche Hinhalten zum polnischen Grenzbullen - "Bitte sehr!" - und den Ausweis zurück.
Ich bin sehr erleichtert: Jetzt fängt der Urlaub endlich an, der eigentliche Urlaub. Es wird herrlicher werden als je zuvor - Częstochowa, Jasna Góra, die Freunde, bekannte und unbekannte, alte und neue, das Fest der Hippiegeneration - ein Urlaub voller wechselnder Farben, voller Licht, das die Schatten leuchten macht. Ein Urlaub voll von Düften, seltsamen und wunderbaren Tönen und Klängen, von Wiesen und platzend vollen Straßen, staubigen Wegen und schillernden Wassern, voll von Lachen und guten Worten, gefüllt insgesamt von einem übermächtigen Gefühl der Zusammengehörigkeit und schließlich auch voller Verzweiflung über die Unvollkommenheit, die immer noch besteht, voll noch unerfüllter Wünsche und guter Vorsätze - Polen... ich träume...
Die Riesendame nebenan benimmt sich unheimlich blöd. Mit süßlich grinsenden, angeschmierten Lippen flötet sie in breitem Sächsisch dem Grenzbullen ihre persönlichen Beziehungen zu irgendwelchen hohen Tieren vor und die Vorgeschichte dieser Polenreise, was den überhaupt nicht interessiert. Sie ist unglaublich verunsichert, vielleicht denkt sie, der Bulle könnte sie einsperren, wenn er über sie nicht genau Bescheid weiß.
Zgorzelec. Erste Station. Ich ziehe mir die Strümpfe an und strecke mich auf der Bank aus. Als ich aufwache, fahren wir in Wrocław ein, und ich habe wahnsinnige Nackenschmerzen. Alles verrenkt - kein Wunder! Als ich meine Sachen zusammenpacke, richte ich meine ersten polnischen Worte an meinen Gegenüber. Ich will wissen, ob der Zug nicht vielleicht doch über Częstochowa fährt; ich habe vorher irgendwas aufgeschnappt:
"Ten pociąg nie jedzie przez Częstochowę, prawda?"
Er verneint, angenehm überrascht, und bückt sich sogar noch nach meiner runtergefallenen Flöte. Wieder barfuß, frierend, verschlafen und dennoch reichlich müde, dränge ich mich mit der Masse anderer Reisender hinaus auf den Bahnsteig.
Unten in der Bahnhofshalle spült mich die erste Freude um: Man ist in Polen, man sitzt auf dem Erdboden, vorrangig als Jugendlicher! Ein lang entbehrtes Bild. Als ich nach genauem Studium des Fahrplanes und gefasstem Entschluss, mit dem nächsten Zug halb vier nach Opole zu fahren und von dort aus, da es dann endlich hell ist, weiterzutrampen, vor dem Fahrkartenschalter stehe, fällt mir erschrocken ein, dass ich ja überhaupt noch kein polnisches Geld bei mir habe.
An der gegenüberliegenden Wand sehe ich eine Gruppe Tramper zwischen Rucksäcken auf dem Boden sitzen, einer hat eine Gitarre. Ich hocke mich zu ihnen und frage, zunächst mal auf Deutsch, ob sie mir Geld tauschen können. Es sind Polen, und der eine steigt auch interessiert auf ein Gespräch mit mir ein. Er sieht ganz niedlich aus und kokettiert ein bisschen rum. Ich krieg es fertig, 20 Mark zu tauschen, eins zu sechs, also 120 Złoty. Die Fahrkarte nach Opole kostet nur etwas über 20. Dann unterhalte ich mich die ganze Zeit mit dem niedlichen Polen, Leszek, wobei ich etwas geschockt mitkriege, dass er ein Krüppel ist: Lähmung (teilweise) der Beine. Die Krücken hatte ich anfangs nur für einen Gag gehalten.
Leszek erzählt mir, dass sie nach Silberberg wollen. Als ich ihm sage, was mein Ziel ist, wird er stutzig. Częstochowa? Er grinst: "Was ist denn in Częstochowa? Jasna Góra, das Kloster, ja?" Als ich bejahe, grinst er noch mehr: Er weiß Bescheid.
"Ich fahre zum Hippietreffen."
"Ich weiß, ich weiß..."
1972 sei er dort gewesen. Das Ganze sei es nicht wert hinzufahren, meint er. 1972 waren noch Tausende von Leuten da. Von Jahr zu Jahr sind es immer weniger geworden. Ich erzähle ihm vom vorigen Jahr und wie viele Leute wieder dort waren. Er wird nachdenklich. Plötzlich sagt er:
"Gdybym miał forsę, pojechałbym z tobą."
Wenn er genug Geld hätte, würde er mitkommen. Mensch, sag ich, wo fehlt's denn an Geld, ich hab noch fast 100 Złoty. Das erste Mal geht er nicht drauf ein. Aber nach einer Weile kommen wir auf das Thema zurück. Er schwankt noch ein bisschen, dann steht sein Entschluss fest: "Jadę z tobą. – Ich komme mit."
Fajnie! Ich freue mich. Bin ich wenigstens nicht mehr allein auf Tramp. Seine Freunde lachen und schütteln verständnislos die Köpfe: "Was willst du denn dort? Du kleiner Hippie!"
Aber sie nehmen es als selbstverständlich hin, dass jeder seiner eigenen Wege geht.
Doch es ist ja schon längst wieder ein neuer Tag angebrochen...
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