Sonntag, 6. November 2011

Mein Lebensbaum, zweite Reise

Ich brachte mich mit Wechselatmung rein in die Reise, aber ich sah wieder nichts, nur solche LSD-Blitze, wie:
ein winziges Ehepärchen neben einem Sonnenschirmchen am Rand meines Bergplateaus.

Hulda war eigentlich schon zu sehen, als ich noch wechselatmete und sich vor meinen Augen draußen auf dem Berg Blätter und Blüten materialisierten und wieder verschwanden. Sie führte mich dann in die Unterwelt, aber auch das ging ziemlich speedy heute: ssst – waren wir durch und in der Halle. Dieses Mal sagte ich, keine Leber, mein Schatz! Guck mal, ich hab dir Löwenzahnblätter mitgebracht. Sieh da, sie schmeckten ihr auch, sie fraß sogar ziemlich lange und verlangte Nachschlag. Durch denselben Gang wieder raus, dasselbe Plateau.

Heute blieb der Baum mehr oder weniger in der gleichen Form, aber berauschend war der Anblick trotzdem nicht. Er war wesentlich kleiner als gestern, aber trotzdem bestimmt noch dreißig Meter hoch oder höher, aber er hatte fast gar keine Krone. Fast dreißig Meter schnurgerader Stamm, noch dazu ein sehr dünner, und ganz oben im Himmel eine kleine Krone.
Ich fragte: "Knickt der denn nicht bei jedem Windchen ab?"
"Kann eine Jungfrau abknicken?" gegenfragte Hulda.
Gut gekontert.
Sah aus wie ein Nadelbaum, Föhre oder so was, der Stamm fasste sich auch so an, aber später wurde es dann wieder ein Laubbaum, was weiß ich. Ich eierte blind durch die Gegend, hatte Mühe, das Bild zu halten, suchte nach den Wurzeln. Ach, die waren schon da, aber... Aber der Boden drunter war unterhöhlt.

Da sah ich zum ersten Mal etwas deutlich: einen Eingang in eine dunkle Höhle zwischen den Wurzeln. Und zum ersten Mal sagte auch Hulda etwas Vernünftiges: Ich solle da jetzt nicht reinkriechen.

Ok, ich dachte, wenn man einen Baum hat, sollte man ihn vielleicht gießen, oder? Wo ist hier Wasser, Hulda? Musst du graben. Hm, und womit? Es war, als verleiere Hulda die Augen. Na ja, was denn, soll ich etwa mit den Händen graben? Ich grub mit den Händen. Der Boden war wunderlicherweise auch unheimlich locker, wie Torf. Da war dann irgendwann Wasser. Wo finde ich ein Gefäß, Hulda, um das Wasser zu schöpfen? Keine Antwort ist auch eine Antwort. Ich schaute mich ewig im Kreis um, ganz sicher, dass mir gleich ein Eimer entgegenlaufen würde oder eine Blechbüchse, war aber nix. Als ich zurück blickte, war das Erdloch über einen Bewässerungsgraben mit der Wurzelzone verbunden. Super! Aber alles sackte sofort wieder in sich zusammen, und irgendwas – Hulda wohl eher nicht – sagte mir, dass mein Baum doch dafür Wurzeln habe. Wozu willst du Vollpfosten einen Baum gießen?

Na ja, und dann sah ich wieder gar nichts mehr, und wieder war es anstrengend, und überhaupt hatte ich das Gefühl, viel zu aktionistisch zu sein, als ob ich selber schon am Rad drehe – warum setze ich mich nicht einfach mal neben meinen Baum und bin still? Aber das ging auch nicht. Ging eben nicht. Ich wollte zurück, und dann sah ich gar nichts mehr, und Hulda mühte sich zwar, mir einen Abschiedskuss zu geben, kriegte das aber nicht ganz gebacken – und ich war draußen. Augen auf war eine Erleichterung!

© Angela Nowicki, 1. August 2010