Dienstag, 4. März 2014

Das kalte Herz

Abenteuer einer künftigen Schauspielerin

Auf der Suche nach einem Ziel für meinen Künstlertreff war ich schließlich beim Weltecho gelandet, das jetzt vorn auf der Annaberger Straße ist, also zentrumsnah. Schon die Website gefiel mir – endlich mal ein klarer Überblick und sogar mit Eintrittspreisen. Und wie ich sah, ist das nicht mehr bloß ein Kino, sondern hat auch eine Galerie und ein Theater und mehr. Dieses Theater führte am Mittwoch 20 Uhr im Café „Das kalte Herz“ auf – also, es passte alles, und endlich mal ein Stück, das mich interessierte.
Den ganzen Tag stand ich unter Druck, ob ich da hin soll – oder doch nicht – ich muss ja nicht – aber mein Brunnen muss dringend gefüllt werden…
Du weißt schon: abends im Dunkeln… allein… dort war ich noch nie, weiß nicht, wo und was genau das ist und erst recht nicht wie… krieg ich beim Busfahrer Kurzfahrscheine? … es ist ein weites Stück zu laufen von der Haltestelle Reichsstraße… fahre ich aber zur Zenti, muss ich eine Haltestelle mit der Straßenbahn fahren – schaffe ich das? Und überhaupt – wie werde ich mich dort fühlen mutterseelenallein?
Was mich letztlich zur Tat motivierte, war der Gedanke: „Es ist ein Abenteuer!“ Mein Kind will doch so gern Abenteuer erleben. Allein die mit dem Wort „Abenteuer“ verbundene Vorstellung trieb mich raus. Und dann klappte alles wie am Schnürchen.

Ich war fünf Minuten zu früh am Bus. Eine übergewichtige Blinde oder blinde Übergewichtige hatte mit ihrer schlanken, sehenden Begleiterin schon gewartet, als ich noch eine auf dem Balkon rauchte. Der Busfahrer verkaufte mir reibungslos einen Kurzfahrschein. Im Bus eine ältere und eine alte Frau, ins Geschnatter vertieft, und eine junge Proll-Familie mit auch noch junger und attraktiver Mutter, die den wirklich süßen zweijährigen Enkel auf dem Schoß hielt, der dauernd hustete. Aber er war fröhlich, weil sein Papa mit ihm schäkerte, und wiederholte nach einem Blaulicht draußen: „Tatüü-tataa, die Feuawehr da!“ So wurden wir durch die geschäftige Nacht gezogen.
Ich lief vor der Deutschen Bank an der Chemnitz entlang, darauf hatte ich mich gefreut, und war in noch nicht mal zehn Minuten schon da. Allerdings war da kein Eingang; erst beim Zurücklaufen sah ich an einer Tür das Schild: „Eingang im Hof“. Ok, und wo ist der Hof? Über den kleinen Parkplatz zur Chemnitz, dann links und noch mal…

Ein Bild wie aus dem alten Paris… oder einem Fellini-Film? öffnete sich links: eine alte Fabrik, ein alter Fabrikhof, hier und da zwei Fenster bunt erleuchtet, Türen und Fenster, jede anders, mit totem Efeu überwuchert und hoch oben aufgespannt sechs – oder acht? – flache Vollmonde – große Lampenscheiben, liegend, die (fast) alle in warmem Gelb leuchteten. Einer ging schon vor mir rein, ein Dicker kam raus zum Rauchen.
Als ich, gezogen von einem schwarzen Zylinderhut, ins Café steuerte, stand vor mir schon eine schwarzhaarige Frau mit Rucksack, ebenso klein wie ich, vielleicht ebenso alt wie ich, und der stattliche Gaukler in Frack und Zylinder schrie: „Hereinspaziert! Hereinspaziert!“ Er schlug der Frau vor, um den Eintritt zu würfeln: Gewinnt der Gast, hat er freien Eintritt – verliert er, zahlt er das Doppelte. Nämlich 10 Euro. Das erschreckte mich etwas, aber nächstes Mal werde ich es riskieren. Natürlich quatschte ich den Typen gleich an und erfuhr, dass er und seine Kollegin professionelle Schauspieler seien – er habe in Hannover gelernt, sie in Tschechien, und nur sie beide führten das Stück auf im Rahmen des Weltecho. Als ich sagte, ich suche nämlich ein Laientheater, meinte er, darüber können wir ja hinterher reden.
Seine Kollegin, ein in jeder Beziehung „Mordsweib“ – groß, kräftig, schwarzhaarig, mit einer Stimme, die noch in Tschechien zu hören sein dürfte, und einem entsprechenden Temperament –, stand die ganze Zeit auf dem durch zusammengenagelte Bretter abgesperrten „Spielfeld“ (man muss eher sagen, sie thronte), zupfte an einer Geigensaite und sang mit abwesendem Blick endlos immer das gleiche, melancholische tschechische Lied vor sich hin.
Als es endlich losging, führte der Marktschreier die sieben Zuschauer-Männlein mit Megaphongeschrei durch die Absperrung (die er zu diesem Zweck dramatisch zerhackte) – und es ging los. Mit nichts als sich selbst und einem Haufen Krimskrams, den man am Weg auflesen kann, boten die beiden eine selbst kreierte Spielfreude dar, dass es eine Lust war. Der einzige Luxus waren zwei junge Beleuchter am Mischpult hinter uns, ein kleiner Kostümfundus und die Barfrau, die bei Bedarf die Bühne reichlich mit „Bier“ und „Schnaps“ versorgte. (Also, das Bier sah echt aus, aber der Typ rief zum Schluss: „So, und jetzt gibt’s richtiges Bier!“)
Sie bezogen das Publikum mit ein – sie hatten wirklich alles an Improvisationskunst ausgereizt: Der Schwarzwald erstand durch ein paar Farnblätter auf dem Polylux, als Goldtaler dienten in Goldpapier eingewickelte Schokotaler... Eingeleitet wurde das Märchen durch Narration von beiden, unterbrochen von Fragen an einzelne Leute im Publikum: „Welchen Wald mögen Sie am meisten? Was machen Sie gern im Wald?“ Ich wurde beim Pilzesammeln geschnappt und sollte „nachher am Tresen“ unsere Pilzflecken preisgeben. Zum Glück hatter es nachher vergessen. ;)
Mit am schönsten fand ich die Szene, als Peter den Schatzhauser rief und die Tschechin, mit Fellohren und Nagezähnen als Eichhörnchen verkleidet, hinter der orange beleuchteten Projektionswand mit den Farnen zu psychedelischer Musik einen exzentrischen Tanz aufführte, während sich ihr Kollege unten unter Qualen in alles mögliche Getier verwandelte. Also, man kann mit wenig Mitteln so viel darstellen im Theater! Mich würde mal interessieren, wie sie ein sprechendes Pferd auf die Bühne gebracht hätten.
Die drei männlichen Zuschauer mussten zweimal als Glasbläser und Tanzbodenkönig auf die Bühne, und zum Schluss war ich dran: Bekam eine Pappkrone und wurde vom Peter als seine Braut derb über die Bühne geschleift und beschimpft.
Das war das Ende. Sie haben dem Peter sein Herz nicht wiedergegeben, und das entspricht der Realität viel besser als das offizielle Märchen. Sieh dir die Oberschwaben doch an: Sie sind groß, breitschultrig, geschäftstüchtig, rackern sich für ihr Geld zu Tode – und sie haben ein Herz aus Stein.

Danach unterhielt ich mich noch eine Weile mit dem Schauspieler, Michael-Paul Milow. Er ließ sich meine Mailadresse geben, um mich auf den Verteiler zu setzen, informierte mich über eine geplante Impro im April und erzählte mir, er sei acht Jahre lang am Schauspielhaus angestellt gewesen, bis ein neuer Intendant eine neue Truppe mitgebracht habe. Jetzt arbeiten er und seine Kollegin Heda Bayer freischaffend fürs Weltecho, vor allem in der Jugendarbeit, denn dafür gibt es wenigstens Fördergelder. Da wurde mir klar: Solange ich keine eigene Truppe aufbauen kann, muss ich mich mit solchen alternativen (= versifften) Locations (klar, Chemnitz bietet massenhaft Fabrikruinen umsonst) und mit der Kinder- und Jugendarbeit zufrieden geben, denn dort kommt das Geld her. Für erwachsene Kunstprojekte gibt’s normalerweise keine Fördergelder. Das zweite fällt mir schwer; ich habe eigentlich die Schnauze voll von der Jugendarbeit.

Erstaunlicherweise war ich zwanzig nach neun wieder draußen, und der Bus fuhr 21:27 von der Reichsstraße. So glatt ist lange nichts gelaufen. Ein kurzer, anregender Spaziergang über den Falkeplatz, ich war ganz leicht und elastisch, und dreiviertel zehn war ich drham. Was habe ich gemacht? Erst mal gegessen! Im Theater, ich weiß nicht woher, hatte mich der Geruch von polnischer Wurst angeweht, und ich hatte einen ungeheuren Appetit darauf bekommen. Aber Bockwurst tat’s auch.