Sonntag, 19. Februar 2017

Rotkäppchen

Auf der Suche nach Märchenreisen fand ich ein großes Gebäude, ähnlich einem weitläufigen Gymnasium, mit hier Treppen hoch und dort Treppen runter, verwinkelt und unüberschaubar. Man wies mich in den rechten Flügel. Dort thront ein futuristisch anmutendes Empfangspult unter einer Glaskuppel, rund und riesig, und reihum sitzen Beamte, die die Passierscheine zu den Märchen ausstellen - oder verweigern. Ein katzenartiges Wesen mit einem Blick, der mir das Herz in die Hose rutschen ließ, fragte ungeduldig, was ich wolle.
"Ich möchte gern ein Märchen besuchen", sagte ich schüchtern.
"Welches?"
Die Katze schien nicht viel Zeit zu haben und schon gar keine, um sie an mich zu verschwenden.
Ich überlegte kurz.
"Rotkäppchen."
Das war eins der Märchen, deren Bedeutung ich bisher nie so richtig erfassen konnte. Im Gegensatz zu Aschenputtel oder Dornröschen zum Beispiel.
Ohne weitere Fragen drückte mir die Katzenfrau einen Zettel in die Hand mit der Aufschrift Rotkäppchen und winkte mich zu einem der gläsernen Fahrstühle weg.

Der Fahrstuhl benahm sich zunächst ganz manierlich, will sagen: Er fuhr nach oben. Dann aber drehte er durch und sauste kreuz und quer durch das ganze Gebäude, nach vorn, nach links, nach unten, hinten, rechts und wieder hoch, als sei das Gebäude im Inneren um ein Vielfaches größer als außen. Schließlich spuckte er mich vor einer schwarzen Tür aus, und mir war sofort klar, dass der Zettel, den ich erhalten hatte, der Schlüssel war: Ich musste ihn in die Tür stecken, und sie öffnete sich.

So viel zur Anreise, die wohl für alle Märchen gleich bleiben wird.
Jetzt zu Rotkäppchen.

***

Eine erwachsene junge Dame, groß, schlank, rannte mit wehenden Kleidern und Haaren durch den Wald. Ich begriff, dass sie vor dem Wolf floh. Als der Wolf aber ins Bild kam, kam mir plötzlich die Gewissheit, dass er Rotkäppchen gar nichts Böses tun will, sondern ihr nur den Wald, "seinen" Wald zeigen, wie ein fürsorglicher Lehrer oder Freund. Rotkäppchen wehrte ihn ab, riss sich los, er lief aber immer hinterher, ganz so, als wolle er sie beschützen. Mal sah ich eine sehr alte Frau am Wegrand, die sich über etwas beugte und deren Gesicht sich beim Näherkommen in einen grinsenden Totenschädel verwandelte...

Und heute Nacht begriff ich das ganze Märchen!

Nicht der Wolf ist der Böse, tatsächlich! Nicht der Wolf will Rotkäppchen fressen und die Großmutter, sondern er will Rotkäppchen retten – VOR DER GROSSMUTTER! Die Großmutter frisst das Mädchen, wie alle Großmütter und Mütter und Ahnen uns, ihre Nachkommen, immer wieder aufgefressen haben und auffressen und auffressen werden, weil der Sippengeist daraus seine Nahrung bezieht und sich am Leben erhält! Saturn frisst seine Kinder, und wir alle trampeln wieder und wieder in endloser Verstrickung die angelegten Pfade zwischen unseren Vorfahren ab, die natürlich alles tun werden, damit wir "nicht vom Weg abkommen", das ist wohl wahr, denn das würde ihnen ja ein Opfer entführen, ihnen das Scheinleben entziehen, das nur unser Blut ihnen ermöglicht. Deshalb ermahnt die Mutter Rotkäppchen, nicht vom Weg abzukommen, damit es bloß nicht etwa auf die dumme Idee kommt, seine eigenen Wege zu gehen!

Der Wolf aber ist das wilde Tier in uns, eine animalische Kraft, die uns in unser eigenes Leben führen kann, wenn wir unsere dumme Angst vor ihr ablegen. Der Wolf will Rotkäppchen vom Weg abbringen, jawohl, nämlich vom ausgetrampelten Weg, der nicht ihrer ist. Er will ihr den Wald zeigen, die Tiefen ihrer eigenen Seele, will ihr Seelenführer sein, ihr Krafttier, ohne das sie freilich in diesen Tiefen umkommen könnte. Damit sie am Ende auf der anderen Seite des Waldes in die Welt hinausgehen und ihren eigenen Weg finden kann.
Angela Nowicki. Rotkäppchen. Digital Art. 22.02.2017.

Natürlich warnen uns unsere Mütter vor dem "bösen Wolf". Der würde ihnen ja ihr Kind entführen. Der würde es ja, Gott bewahre, zu einem selbstständigen und unabhängigen Menschen machen. Und damit ist beileibe nicht immer "der Mann" gemeint.

Ich frage mich sogar, ob nicht gar die Großmutter den Wolf gefressen hat - in Umkehrung zum Untertanengeist der Erzählung. Rotkäppchen ist dem Wolf davongelaufen, das brave, dumme Ding, aber im Bett der Hütte lag nicht der Wolf mit der Großmutter im Bauch, sondern es war das wahre Gesicht der Großmutter, das dem Mädel mit seinen "großen Ohren" und seinem "großen Maul" (die Verschlingende) Angst einjagte. Ob die jetzt den Wolf gefressen hat oder nicht, ist nicht von Bedeutung – auf jeden Fall aber hat sie das Rotkäppchen verschlungen.

Und den armen Wolf haben sie dafür zu Tode gestürzt, wie immer. Wo kämen wir auch hin, wenn uns die Sündenböcke ausgingen?