Donnerstag, 29. September 2011

Es wird Gras drüber wachsen...

So viele Jahre hatten sie um ihre Liebe gekämpft. So viele Jahre, in denen ihre Körper hässlich und grau geworden waren und ihre Seelen müde. Was hielt sie noch zusammen?
Bequemlichkeit, dachte sie, ich bin für ihn doch nicht mehr als ein Möbelstück, unter das er seinen Dreck kehren kann. Wenn es plötzlich fehlte, würde sein eigener Dreck ihn ersticken.
Angst, dachte er, sie ist so hässlich geworden, dass kein Mann sich mehr für sie interessiert. Sie hat Angst, allein zu bleiben.
Nein, sie waren sich nicht fremd geworden, sondern zu vertraut. Die Zeit hatte sie gleich gemacht und ausgewaschen wie Strandgut. Ihre Körper hatten sich so sehr angeglichen, dass Fremde sie für Geschwister hielten. Wenn Geschwister gemeinsam alt werden, gleichen sie irgendwann geschlechtslosen, seltsam unmenschlichen Zwillingen.
Hin und wieder ertappte sie sich bei einem Gedanken, der ihr bei genauerem Hinsehen fremd erschien. Dann zog sie es vor, nicht so genau hinzusehen. Sie sprachen dieselbe Sprache, verwendeten dieselben Wendungen, regten sich über dieselben Ungerechtigkeiten auf, lachten über dieselben Witze und fuhren jedes Jahr gemeinsam in den Urlaub, immer an denselben Ort, den sie angeblich beide liebten. Wenn sie nach der Arbeit nach Hause kamen, kochten sie gemeinsam, setzten sich gemeinsam zu Tisch und erzählten sich beim Essen, was sie den Tag über erlebt hatten, immer in derselben Reihenfolge – einen Tag zuerst er, dann sie, am zweiten Tag andersherum, damit keiner sich benachteiligt fühle. Und wenn alles gesagt war, sahen sie fern, um zu vermeiden, dass jeder sich in seinem eigenen Schweigen verirrte.
Wie ihre Seelen, erkannten ihre Körper einander, weil sie identitätslos und damit identisch waren. Sie hatten schon fünf Jahre nicht mehr miteinander geschlafen. Manchmal starteten sie einen halbherzigen Versuch, bei dem am Ende dann doch wieder einer von ihnen einen Pornofilm einschalten musste.

"Wusstest du, dass es ein Tantra-Hotel gibt?" fragte sie ihn eines Tages, als er gerade den Fernseher einschalten wollte.
"Ach? Hat das was mit Sex zu tun?"
Doch das Bild hatte sich eingenistet.
"Was würden wir in diesem Hotel jetzt machen?" fragte er scherzhaft, als sich im Bett gerade jeder auf seine Seite drehen wollte, und sie wusste sofort, dass er nicht scherzte.
"Ich weiß nicht...", entgegnete sie matt. "Kann Sex eine eingeschlafene Beziehung retten?"
"Einen Versuch wäre es wert", murmelte er unsicher.

Eine Woche später hatten sie ihre Buchung. Es war ein letzter verzweifelter Rettungsversuch, der bereits jetzt Wunder gewirkt hatte. Sie hatten sich an ihre alten Freunde erinnert, hatten nach vielen Jahren wieder einen gemeinsamen Abend mit dem Ehepaar verbracht. Dieser Abend war für beide wie ein starker Windstoß gewesen, der eine lange nicht mehr benutzte Tür aufgestoßen hatte. Sie hatten herumgealbert, hatten beide verblüfft aus den Augenwinkeln das von neuer Lebenslust gerötete Gesicht des jeweils anderen wahrgenommen. Er hatte zum ersten Mal in seinem ganzen Leben mit ihr getanzt, und sie hatte am Ende sogar einen kleinen Schwips gehabt.
Eigentlich waren sie nicht sehr überrascht gewesen, als das befreundete Paar ebenfalls Interesse an dem Tantra-Hotel bekundet hatte. Am Ende dieses Abends beschlossen sie, den Versuch zu viert zu starten. Vielleicht sah er ja doch mehr in ihr als ein Möbelstück? Vielleicht war sie ja doch noch auf eine Weise attraktiv für andere Männer, die er gar nicht mehr wahrnahm?

Das Hotel lag am Rand eines weitläufigen Landschaftsparks, der auch einen chinesischen Garten beherbergte. Seine Gestaltung und Einrichtung sprach alle Sinne an. Es gab in pastellenen Tönen gehaltene, verspielte Sitzecken, in denen es nach frischem Gras und Maiglöckchen duftete und zartes Glockenspiel die leichte Luft durchperlte. Es gab leuchtend bunte, mit Rosenblättern ausgestreute Säle, die nach sonnenerhitztem Sand und Meer rochen und in denen man Flamenco erlernen oder sich zu mit Möwengeschrei unterlegtem Sirtaki in kollektiv schwitzenden Rausch tanzen konnte. Es gab Veranden in Goldgelb, Braun und Violett mit dem Duft nach Kastanien und Kartoffelfeuern, in denen man melancholische Folksongs oder gefasst-heitere Gitarrenstücke von Dowland und Purcell hören und auf Wunsch auch selbst erlernen konnte. Es gab dunkle Grotten, in denen nur vereinzelte Fackeln Licht spendeten, wo der Tango in Rot und Schwarz stöhnte und die Luft geschwängert war von Moschus und Patchouli.
Es gab so viel...
Es gab auch Anleitung, Seminare, Yoga-Stunden, psychologische Paar- und Gruppenberatungen, und beide Paare fanden, das Geld sei wirklich gut angelegt. Schon am dritten Tag bekamen sie tatsächlich wieder Lust aufeinander, ihre Körper entdeckten die Freude am Unterschied wieder, und nach einer Woche war der Sex fast so erfüllend wie vor vielen, vielen Jahren.

In der zweiten Woche war es immer noch schön. Da saßen beide Paare in der Lounge beim Essen, schwatzten und lachten. Bis sie etwas erzählen wollte, etwas, was ihr sehr am Herzen lag. Kaum hatte sie die ersten Worte ausgesprochen, stieß das Ehepaar einen freudigen Überraschungsruf aus und wandte sich mehreren Leuten zu, die gerade hereingekommen waren. Sie kannte diese Leute nicht und fand es unhöflich, dass sie sie einfach ignorierten wegen ein paar Leuten, die mit ihnen nichts zu tun hatten. Immerhin waren sie extra zu viert in dieses Hotel gekommen, um sich nur miteinander zu beschäftigen.
Ärgerlich wandte sie mich ab und wartete. Doch auch er hatte sich ihnen angeschlossen, und die Unterhaltung und das Gelächter dort drüben wollten nicht enden.

Da erinnerte sie sich.

Es war immer so gewesen. Von Anfang an. Er hatte sie nur wahrgenommen, wenn sie allein waren, und auf einmal wusste sie wieder, warum sie sich nach und nach von allen Freunden, aus jedem gesellschaftlichen Leben, von ihren Familien zurückgezogen hatten. Aber auch dann hatte er nicht sie gesehen, nicht Ludmila, sondern "seine Frau", die zufällig Ludmila hieß, und auch das wusste sie nun wieder: Sie hatte ihm gleich werden müssen, hatte er werden müssen, seine weibliche und später neutrale Kopie, um überhaupt mit ihm zusammen leben zu können. Sie hatte es so nicht gewollt, doch es hatte für sie nur die Alternative gegeben: Er oder die Welt. Und sie hatte ihn geliebt.
Sie wunderte sich etwas, dass, anders als Liebe, Schmerzen nicht verblassen. Es tat so weh, als habe es nie aufgehört, weh zu tun. Ausgeschlossen. Übersehen. Ignoriert. Missachtet.
Incommunicado.
Noch einmal versuchte sie, ihn auf sich aufmerksam zu machen, doch er wimmelte sie gereizt ab wie eine Fliege.

Sie verließ das Hotel und lief über den Bushalteplatz. Das Wetter war dunkel und stürmisch, der Wind jagte ihr winzige Eisnadeln ins Gesicht. Das tat gut. Es war eine Bewegung, eine, die über die elf Schritte vom Badezimmer zum Bett hinaus ging, aus dem Ungewussten ins Ungewisse. Sie hatte sich nur den Kopf durchlüften wollen und fand sich doch auf einmal vor dem Busfahrplan wieder. In der Ferne hörte sie die Fetzen einer Melodie. Sie horchte auf. Sie kannte den Text.

Everyone is going through changes
No one knows what’s going on
Everybody changes places
But the world still carries on

Love must always change to sorrow
And everyone must play the game
It’s here today and gone tomorrow
But the world goes on the same*)

Zusammen mit dem Kopf hatte der Sturm auch ihr Herz frei gefegt. Zum ersten Mal nach so vielen Jahren waren ihre Gefühle vollkommen klar, und sie wusste, was sie zu tun hatte.
Es gab zwei Buslinien, mit denen sie hätte fahren können, aber leider war es zu spät. Heute fuhr kein Bus mehr nach Hause. Die anderen hatten gar nicht bemerkt, dass sie verschwunden war. Sie ging zu ihm und sagte still: "Fahr mich bitte nach Hause. Du kannst dann wieder zu deinen Freunden zurückkommen."
Zu ihrer Überraschung folgte er ihr wirklich wortlos zum Auto. Unterwegs, als sie an den schlafenden Bussen vorbei liefen, sprach sie:
"Ich bin sehr, sehr müde. Ich bin des Lebens müde und möchte sterben, aber ich werde mich nicht umbringen. Ich werde schon irgendwann von selbst sterben. Und ich werde dich sofort verlassen. Ich gehe ohne dich weit fort. Das ist kein Racheakt, das geht einfach nicht mehr anders. Ich kann nicht mehr bei dir bleiben, wir lieben uns nicht mehr."
Ihre Stimme war leise und monoton und klang wirklich erschöpft.

Wieder erlebte sie eine Überraschung. Anstatt ihr eine Szene zu machen, blieb er zunächst ganz still. Dann, im Auto, sagte er unter Tränen, während immer dichteres Gras um ihn spross:
"Ich wäre so gern bei dir geblieben. Ich liebe dich immer noch, nur manchmal..."
Was er nur manchmal tun musste, verstand sie nicht mehr durch das hohe, dichte Gras, in dem er versunken war, und durch ihre und seine Tränen.



*) Alan Price, Changes, aus dem Film O Lucky Man

© Angela Nowicki, 16. September 2010

Dienstag, 27. September 2011

Angst

Warum möcht ich denn jetzt gehen, und woher kommt diese Angst,
diese Unruhe, das Zittern in den Händen?
Warum bin ich wie gelähmt? Warum krieg ich nichts zu Stande?
Ach, mit Schnaps kann ich mich nicht mal mehr betäuben!

Was bedroht mich?
Wer bedroht mich?
Ich spüre die Dämonen hier und seh sie nicht.

Weiter hoff ich auf den Anfang, auf den nächsten, mir geschenkten,
denn so viele schon hab ich kaputt getreten.
Weiter bin ich unersättlich, und kein Ende ist zu sehen.
Niemand zieht den Schlussstrich unter meine Pleite.

Was erhält mich?
Wer erhält mich?
In diesem Halb, in diesem schalen Dämmerlicht?

Nicht Abend und nicht Morgen, aber ständig Abend-Morgen -
und ich halt das aus!
Nicht oben und nicht unten, aber immer hoch und runter -
und ich halt das aus!
Kein Gott hat mich gesegnet und kein Teufel mich geholt,
und ich habe
Angst.

© Angela Nowicki, 1986

Sonntag, 25. September 2011

Kapitel 6: Wrocław - Częstochowa

oder
Alles ist gut


Sonntag, 15. August 76

Kurz, nachdem Leszek seine Fahrkarte geholt hat, müssen wir aufbrechen. Im Zug schlafe und wache ich abwechselnd, schaue mir den Sonnenaufgang an und träume vom warmen Tag. Wo sind deine Schuhe, fragt Leszek. Ich muss lachen.
Als wir in Opole ankommen, fühl ich mich wieder mal wie durch den Wolf geleiert.
"Mir tut alles weh." Jetzt lacht Leszek.
Auf dem Stadtplan suchen wir erst mal die Straße nach Częstochowa. Es ist die Ozimska, und bis dorthin ist ein ansehnliches Stück noch zu laufen. Doch schließlich haben wir's geschafft, sind am Ende der Stadt angelangt und stellen uns kurz hinter einer Brücke auf. Trotz oder vielleicht wegen der frühen Morgenstunde hält kein Schwein. Leszek sitzt unter einem Baum und singt die ganze Zeit - er hat eine schöne Stimme. Ab und zu lässt er auf die Autos gemünzte Bemerkungen los, wie:
(pathetisch) "Wrocław!"
(verächtlich) "Syrena!" oder
(dramatisch mit leicht komischem Einschlag) "Jedzie takim trupem, a udaje że to samochód!"*)
Auch bei mir stellt sich mit den ersten brüchigen Tönen, die meine Gesangskehle hervorbringt, ganz allmählich wieder eine Trampstimmung ein. Schließlich nimmt uns doch einer mit, allerdings nur bis Ozimek. Dort stehen wir uns die Beine in den Bauch; die Straße ist alle halbe Stunde zwanzig Minuten lang blockiert von Kirchgängern und -fahrern.
Leszek fällt plötzlich ein, dass er hier eine Bekannte hat, die er schon vier Jahre nicht mehr gesehen hat - eigentlich würde er sie gern mal besuchen. Nach drei Stunden, so gegen zehn, hab ich die Schnauze voll. Fährt denn hier kein Bus nach Częstochowa? Er weiß es zwar auch nicht genau, vor allem nicht, wann und wo, aber eine ältere Frau gibt uns wieder Kraft: Durch sie erfahren wir erst mal, dass und wo einer fährt. Auf dem langen Weg in den Ort beschließt Leszek, gleich mal dieses Mädchen zu besuchen. Vielleicht gibt sie uns etwas Geld? Ich bin nicht sehr erbaut. Ich will schnellstens nach Częstochowa, und das sag ich ihm auch. Natürlich, komm, das dauert nicht lange, dann fahren wir gleich nach Częstochowa. Ich folge widerwillig.
Zufällig treffen wir Iwona mit ihrem Bruder vor ihrem Haus - sie fällt aus allen Wolken und freut sich wie eine Schneekönigin, Leszek wiederzusehen. Na ja, verständlich, nach vier Jahren! Sie bringt uns auch zum Bus, schenkt Leszek tatsächlich 200 Złoty und wartet mit uns noch die halbe Stunde, bis der Bus nach Lubliniec kommt, und sogar noch, bis er fährt. Ich bin leicht begeistert, als sie endlich aussteigt. Es war ziemlich nervenaufreibend für mich, in dieser Verfassung - übermüdet, gereizt, abwechselnd schwitzend und frierend und mit Blasen an den Füßen - einer Unterhaltung zuhören zu müssen, von der ich nichts verstehe.
Bis Lubliniec fahren wir lange. In Lubliniec warten wir noch mal so lange, bis der Bus nach Częstochowa kommt. Und diese Fahrt ist natürlich auch nicht kürzer als die vorhergehende.

Doch endlich: Częstochowa! Mein Herz beginnt, Sechzehntel zu klopfen. Da! Die ersten Hippies! An einer Ecke stand eine kleine Gruppe. Am Bahnhof steigen wir aus. Bis zum Kloster ist es noch weit zu laufen, die Sonne brennt, das Gepäck ist schwer - ich trage die ganze Zeit schon Leszeks Tasche mit - und: Es ist fast nirgends ein Durchkommen. Die Straßen, vor allem die Allee zum Heiligen Berg hoch, sind so gerammelt voll, wie ich es noch nie erlebt habe. Heute ist bzw. war Einzug der Wallfahrt. Man kann keinen Schritt normal gehen, laufend muss man sich durchboxen, -treten und -schieben. Nach einer Stunde (!) haben wir's bis auf den Platz vorm Großen Tor geschafft. Da beginnt es zu regnen. Innerhalb von zwei Minuten hat sich das anfängliche Nieseln zum richtigen Guss entwickelt. Viele geraten in Panik, am Großen Tor setzt ein Rein- und Rausgerenne ein. Da kommen wir jetzt nicht mehr durch. Leszek hat das ebenfalls richtig erkannt, als er vorschlägt, hier stehen zu bleiben und den Regen vorbei zu lassen. Wir stellen das Gepäck an die Mauer, ich gebe ihm meine Plane zum Umhängen und ziehe selbst die Parka an.
Ja, den Regen vorbei lassen! Wir hatten angenommen, das sei nur ein vorübergehender Schauer, als es aber nach einer Stunde immer noch wie aus Eimern gießt, hab ich's dicke. Mir klappern schon sämtliche Knochen, alles, aber auch alles, ist durchgeweicht und dazu noch barfuß! Ich sage zu Leszek, komm, wir versuchen reinzukommen, koste es, was es wolle. Es kostet ganz schön was. Mindestens Kraft und Nerven wie Drahtseile. Das ganze Innengelände des Klosters ist ein einziges Chaos. Am ersten Tor geht es ja noch, aber am zweiten ist ein Stau, weil mehr durch wollen, als das Tor fassen kann, und mindestens ebenso viel zurück. Wenn man nicht Acht gibt, besteht ernsthaft die Gefahr, zertreten zu werden. Eine halbe Stunde lang kommen wir nicht mehr vorwärts. Langsam krieg ich auch mit, dass wir und alle, die rein wollen, im Unrecht sind: Das ist ein Ausgang.
Leszek ruft mich. Komm, meint er, bloß raus, das ist doch sinnlos. Da hat er Recht. Wir kämpfen uns zurück, runter vom Berg, da ist ein Café mit überdachtem Vorplatz. Es hat zwar zu, aber unter dem Dach sind wir erst mal vorm Regen geschützt, der auch allmählich nachlässt. Wir reißen uns die nassen Umhänge vom Leib, breiten das Geklitsche notdürftig aus, und ich friere wie ein Weltmeister. Die anderen Massen, die hier unterstehen, sind alle noch schön trocken, ich beneide sie. Unversehens wird mir entsetzlich schlecht, ich kriege richtige Unterleibskrämpfe, krümme mich und stöhne. Leszek schlägt vor, zu seinem Bekannten hier zu gehen. Ich frage, wohnt er weit? Ja, am anderen Ende der Stadt. Das ist mir zu viel. Ich sage, mir ist schlecht, ich kann überhaupt nicht mehr, geh nur alleine, ich finde mich schon irgendwohin. Nach einer Weile zieht er ab: Cześć, vielleicht sehen wir uns irgendwo mal wieder!

Ich habe schon ein paar Typen drüben rumlaufen gesehen, einige sahen sogar aus wie Deutsche. Mir ist eine wunderbare Idee gekommen: die Sankt-Josef-Kapelle! Dort fand doch ab und zu mal die Hippie-Messe statt. Vielleicht haben sie sie auch jetzt wegen des Regens geöffnet, und es sind ein paar Leute dort. Gedacht, getan. Zitternd, bibbernd und triefend laufe ich hoch. Mein Herz macht einen Freudensprung: Vor der Kapelle stehen die Leute! Die Kapelle ist wirklich offen! Ich gehe rein. Drin sind sämtliche Bänke vollgerammelt - mit Hippies! Es ist schön warm. Ich lasse mein Gepäck fallen, lehne mich neben die Tür und schaue mir das Ganze andächtig an. Endlich! Jetzt kann mein Festival losgehen.

Einer erzählt und gibt Anweisungen. Die Leute singen. Ich schaue nach bekannten Gesichtern aus. Eine ganze Weile entdecke ich niemanden. Da läuft plötzlich einer vor mir vorüber zur Tür: Michał!
Ich schreie: "Michał!"
Er dreht sich um, sieht mich, schreit los: "Neila!"
Wir sind vor Freude wie aus dem Häuschen, umarmen uns, lachen, singen und tanzen. Dann schleppt er mich mit hinter zu seinen Leuten. Ich erzähle ihm das Malheur mit dem Regen. Sofort packen wir alles aus, legen und hängen es zum Trocknen auf. Er gibt mir ein trockenes Handtuch, und ich trockne mich ab. Aber du bist ja barfuß! Ja, sag ich, und erkläre ihm das. Er wiederum erklärt mich für völlig verrückt, auch seine Freunde lachen. Einer konstatiert kategorisch, das Wichtigste sei, dass ich erst mal Schuhe hätte, und drückt mir auch gleich ein Paar alte blaue Turnschuhe in die Hand. Sie sind mir zwar viel zu groß, aber ich freue mich. Na, bin ich nicht wie ein Vater zu dir? Ja, sage ich, und Michał meint, er sei Vater und Mutter zugleich. Nun berichtet er erst mal, was in den Tagen hier so los gewesen ist. Drei Hare-Krishna-Tage; er ist ganz begeistert, und ich ärgere mich ein bisschen, dass ich heute erst gekommen bin. Und das Größte: Helmut und Wolf sind da, unsere beiden Freunde aus Rothenburg! Ich denke, ich höre nicht richtig. Helmut und Wolf, sagst du? Helmut und Wolf?! Ich werd nicht wieder! Und Helmut hat mir in Rothenburg noch ganz traurig gesagt, das sei das erste Jahr, in dem er nicht in Częstochowa sein werde. Und Cygan und Zawisza sollte ich grüßen! Und jetzt sind sie hier! Wo sind sie jetzt überhaupt? Sie wollten in die Stadt, sie werden im Laufe des Abends schon noch hierher kommen.

Nach einer Zeit gehen Michał und ich mal raus, um eine zu rauchen. Ich verteile meine sämtlichen Karo, die ich noch habe. Als wir wieder reinkommen, sehe ich Jacek da sitzen, mit dem ich voriges Jahr von hier nach Warschau getrampt bin. Ich stürme auf ihn zu: "Hej, Jacek!"
Er scheint nicht ganz zu wissen, wo er mich hinstecken soll, guckt mich groß an und überlegt angestrengt.
"Er kennt mich nicht mehr!" rufe ich.
Doch langsam scheint es bei ihm zu dämmern: "Doch, warte mal... letztes Jahr sind wir zusammen nach Warschau getrampt, stimmt’s?"
Der Groschen ist gefallen.
"Neila, stimmt‘s?"
Ja! Wir drücken uns die Hand, dann schiebt mich Michał schon weiter. Es dauert nicht lange, da ist die Versammlung hier drin beendet. Langsam drängt alles nach draußen. Um Michał und mich versammeln sich so nach und nach alle Wrocławer. Sie wollen heute Abend schon wieder nach Hause fahren, mit dem Zug. Erst soll aber noch eine Messe sein, auf einer Wiese hinter dem Kloster. Ich erfahre, dass die Hippies dieses Jahr aus dem Kloster vertrieben worden sind. Die Bullen hatten den Priestern ein Ultimatum gestellt. Angedroht waren Wasserwerfer und Tränengas...
Plötzlich sehe ich Wolf. Ich rase los wie eine Verrückte, schreie, auch er schreit, wir fallen uns um den Hals, wirbeln herum und können uns gar nicht wieder fassen. Ein deutsches Mädchen ist mit ihm, sie und ihre Freundin haben sie in Prag aufgegabelt. Sie kommen aus - Merseburg! Ich grinse. Aber wo ist Helmut? Weiß nicht, sagt Wolf, ich suche ihn grade. So zieht er weiter und hält nach Helmut Ausschau.

*) Fährt so eine Schrottkiste und tut, als wär’s ein Auto!

Kapitel 5: Deutsch-polnische Hochzeitspläne

oder
Die Gerade ist eine deutsche Erfindung


Die "Freunde" waren eine amorphe Truppe bunter Wrocławer Hippies, die, so kam es Neila vor, nur auf sie gewartet zu haben schienen, um auch ihr Leben so bunt wie möglich zu machen. Es waren Studenten, Schüler, Arbeiter, Arbeitslose, aber eine Stammbelegschaft war immer zur Stelle, um Neila die Stadt zu zeigen, mit ihr zu feiern, sie überallhin zu schleppen, wo es etwas Interessantes zu erfahren gab. Zunächst aber war ihr Problem das Interessanteste, und die Fantasie schlug mehrere Tage lang hohe Wellen, wie man eine flüchtige Deutsche am besten offiziell in Polen sesshaft mache.
"Du musst heiraten", konstatierte Zenek trocken.
Das aktuelle Gruppengebilde nickte tiefsinnig und atmete hörbar auf. Na klar, das ist die Lösung. Da wäre sie nicht die Erste und auch nicht die Letzte.
Heiraten. Na gut. Aber gehört dazu nicht irgendwie ein Mann?
"Wir finden schon einen, keine Sorge", beruhigte sie Zenek.
Neila glaubte ihm aufs Wort.

Zu Recht. Der Kandidat hieß Zbyszek und wurde bereits am nächsten Tag vorstellig. Er war klein, trug Bart und Brille und arbeitete in einer Bibliothek. Neila blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, wand sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. Sie saßen zu sechst in einem Café, und vier Gesichter starrten sie angespannt an. Nein, fünf, Zbyszek natürlich auch. Heiraten...
"Und du willst dich darauf einlassen?" fragte Neila, sich bei der leisen Hoffnung ertappend, dem Kandidaten werde plötzlich klar, worauf er sich da einlassen würde.
"Warum nicht? Ist kein Problem, mach dir mal keine Gedanken, alles bestens!" schmetterte der Kandidat mitleidlos mitten in ihre leise Hoffnung hinein. Die wurde umgehend begraben.
"Ja, dann... ja, warum nicht?"
Mindestens vier Gesichter entspannten sich zu einem breiten Lächeln.
"Ist ja egal, nicht?" Den winzigen Querschläger konnte Neila sich nicht verkneifen.
Der Kandidat parierte ihn ungerührt: "Klar. Kein Problem."
"Das muss gefeiert werden!" beschloss das aktuelle Gruppengebilde.

Und es wurde gefeiert, so was sagt ein Pole nicht zum Spaß. Am selben Abend noch trafen sich in der abgewohnten Uraltbauwohnung bei Zbyszek Apostoł, Poli, Zenek, Michał und zwei Jolkas. Eine davon war die Freundin von Zbyszeks Bruder Adaś und wohnte hier. Es wurde eine große Fete, immerhin war eine Verlobung zu feiern. Jolka Eins kochte, Zbyszek schnitt Wurst, Käse und Gurke auf, jeder hatte etwas mitgebracht, es gab Bier und billigen Wein, es gab Blues, Rock und Jazz, und es gab Geschichten, Witze, Erlebnisse, philosophische Dispute und künstlerische Diskussionen bis zum frühen Morgen.

So hätte es wohl endlos weitergehen können. Jeden Abend brachte irgendjemand etwas zu trinken mit, gute Musik, ein gutes Buch und vor allem eine unverwüstliche gute Laune. Jeden Tag schleppte jemand Neila in die Kneipe oder zu einer Schiffstour auf der Oder. Jeden Tag lud jemand anderes sie zu sich ein, machte sie mit immer neuen, immer gleich herzlichen Freunden bekannt. Zeitmangel schien hier ein Fremdwort zu sein; die Leute schienen nie arbeiten zu müssen, nie Termine zu haben, keine wichtigen Erledigungen, keine Pflichten.

Nur Jolka Eins war anders. Sie war kein Hippiemädchen, gegen eine solche Unterstellung hätte sie sich wohl lachend verwahrt. Sie war eine ganz normale junge Frau, die ihre Zukunft vermutlich in einer ruhigen Ehe mit zwei, drei Kindern, an Herd und Kochtopf sah. Aber das waren keine Sehnsüchte, dazu schien Jolka viel zu pragmatisch zu sein. Sie war Adams Freundin, also wohnte sie bei ihm, und wenn diese Wohnung täglich von fünfzig Chaoten heimgesucht wurde, dann kochte sie eben für alle, räumte ihnen kommentarlos den Dreck hinterher und feierte mit ihnen, wenn es sich so ergab. Sie schimpfte nie, sie weigerte sich nie, aber es war auch nichts Unterwürfiges an ihrem Tun. Sie war einfach da und tat, was getan werden musste, immer gut gelaunt, immer beschäftigt.
Aus irgendeinem Grund begann Neila, sich Jolka gegenüber schuldig zu fühlen, jeden Tag ein bisschen mehr. Sie konnte ihr nicht helfen, sie konnte weder kochen, noch war sie der Typ, der sich in jedem Haushalt zurechtfindet, und sie wollte es im Grunde auch gar nicht. Neila hätte selbst nicht sagen können, was es war, was ihr dieses Unbehagen verschaffte, doch es war der erste Vorbote einer inneren Seenot, die erste Welle, die das Seelendeck überspülte, die schnell weggewischt wurde und für heiteren Gesprächsstoff am Abend sorgte, nach der jedoch nie wieder Ruhe einkehrte, der weitere Wellen folgten, die nicht mehr lustig waren, bis hin zum endgültigen seelischen Schiffbruch.

Doch noch war alles bunt und laut und unbeschwert. Vor allem laut. Neila war es nicht gewöhnt, täglich von früh bis spät in Gesellschaft zu sein. Sie war eigentlich kein Gruppenmensch, sie brauchte viel Ruhe und viel Zeit für sich allein. Spätestens, als sie nach einem weiteren Tag zu fiebern begann, wurde sie abends zunehmend still, zog sich die Tarnkappe über die Ohren und verkroch sich in sich selbst. Sie hatte nicht mit der röntgenbegabten Mütterlichkeit ihrer Gastgeber gerechnet. Henas und Ewa waren zu Besuch gekommen. Henas ein Wikinger wie aus dem Geschichtsbuch, mit zusammengekniffenen, blitzenden Augen und einer großen Liebe zum Bier, Ewa eine Schönheit in Indianerkleidern und Perlenketten. Die beiden waren die Seele der Wrocławer Hippies, jeder kannte und mochte sie, es war, als ob ein beständiges Strahlen von ihnen ausgehe – wo sie auftauchten, wurde es hell und warm. Ewa hatte Medizin für Neila mitgebracht, Henas brachte ein Thermometer, Zbyszek schleppte ihren Rucksack aus Michałs Haus an, dessen Eltern nun endlich die Wahrheit über Neilas Besuch erfahren hatten und verständlicherweise sauer waren. Neila war den Leuten so dankbar, doch die Gespräche und das Lachen zerrten mittlerweile derart an ihren Nerven, dass sie Henas‘ und Ewas Strahlen gern gegen eine dunkle Höhle vertauscht hätte. Wenigstens für heute Abend. Doch nichts da. Die Tarnkappe schien defekt zu sein, alle paar Minuten wandte Ewa sich ihr in ehrlicher Fürsorge zu: "Was ist los mit dir? Geht’s dir nicht gut? Warum bist du so still?"
Neila stammelte etwas zusammen, was kein Mensch verstand und was alle nur umso besorgter machte. Sie konnte doch nicht sagen: "Lasst mich in Ruhe, wenigstens einen Abend" – oder? Es musste etwas geschehen. War nicht eine Hochzeit geplant? Sie begriff, dass die Gerade als kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine deutsche Erfindung ist. Sie wurde sehr deutsch. Sie drängte darauf, sofort Nägel mit Köpfen zu machen.

Vorbei die blauen Wolken, versperrt die fantasievollen Mäander. Kein sanftes Gleiten mehr durch zeitlose Räume, kein "Jakoś to będzie – irgendwie wird’s schon werden". Es wird werden, aber nicht irgendwie, sondern so: Neila schleppte Zbyszek zum Konsulat der DDR. Stellte ihn als ihren künftigen Ehemann vor, für den sie ihre Heimat schweren Herzens verlassen müsse, und verlangte eine sofortige ständige Aufenthaltsgenehmigung für die Volksrepublik Polen.
Die Bürokratie aber ist die Schwester der Geraden. Natürlich werden Sie heiraten. Umsiedeln? Aber natürlich, selbstverständlich. Dazu brauchen Sie nur... Und es folgte der Laufzettel für mindestens einen Monat Behördengänge – in der DDR.

Die Hochzeit wurde abgeblasen. Neila geht nicht zurück. Der Kandidat trug’s mit Fassung.

Mittwoch, 21. September 2011

Mundtot machen - in eigener Sache (schon wieder)

Da ich die Geschichte schon wieder völlig neu strukturiert habe (irgendwie sollte da schon ein roter Faden rein, selbst wenn er wilde Schlaufen schlägt, gell) und langsam keinem Leser mehr zumuten möchte, alle drei Wochen von vorn anzufangen, habe ich mir jetzt Folgendes ausgedacht:

Die Geschichte bekommt eine eigene Kategorie - "Mundtot machen" natürlich -, in der das nach und nach wachsende und sich doch immer wieder wandelnde Buch allein zu finden ist, und jedes Kapitel bzw. Unterkapitel bekommt dort seinen eigenen Titel. So sieht der Leser gleich, was er noch nicht gelesen hat, und kann es nachholen, wie er mag.

Dienstag, 20. September 2011

Unser Prominenter Junge (Teil 3)


Irene steht im Badezimmer und lässt Wasser in die Wanne. Das Wasser läuft langsam. Träge streift sie ihr blassgrünes Musselinkleid ab. Wieder gibt es einen kleinen Stich: ‚Er hat noch gar nichts dazu gesagt. Er hat es noch nicht einmal gesehen.‘ Er ist noch gar nicht zur Besinnung gekommen! protestiert Irene. Wie sollte Er es sehen, wenn Er in den zwei halben Tagen, die Er daheim ist, pausenlos von allen bestürmt wurde: der Hausstaat, ihr Geschenk, die Fernsehfritzen...
Während sie so, in trotzige Gedanken versunken, auf ihr Bad wartet, stürmt Marmara herein, ruft: "Wie schön! Genau das brauche ich jetzt", springt in die Wanne und taucht unter. Eine ungeheure Wut schießt in Irene hoch. Sie wartet hier seit einer halben Stunde auf ihr Bad, sie hat sich alles sorgfältig zurecht gemacht - und die kommt einfach rein und stiehlt ihr praktisch die Früchte ihrer Arbeit! Sie will Marmara zur Rede stellen. Zunächst mit ihrem Dolchblick, sie denkt, den wird die Kröte schon verstehen, aber die taucht immer wieder unter und öffnet ihre Augen überhaupt nicht. Kann ja sein, dass sie das Bad wirklich braucht, aber das hier ist MEINS!
Irene dreht sich um, um sich die Zähne zu putzen, da fällt ihr das Zahnputzzeug aus der Hand. Plötzlich brüllt sie aus Leibeskräften los, dass es wahrscheinlich noch in den Nachbarhäusern zu hören ist. Marmara springt erschrocken aus der Wanne und fragt, was los sei, da hört man im Nebenzimmer jemanden leise, aber scharf fluchen. Irene erschrickt: Ihr fällt ein, dass Unser Prominenter Junge sich schlafen legen wollte, und sie brüllt hier wie eine Kuh beim Kalben! Er hört gar nicht wieder auf zu fluchen, doch während sie beide noch nackt und starr und mit aufgerissenen Augen im Badezimmer stehen, bemerkt Marmara, dass sein Fluchen sich irgendwie seltsam anhört. Sie kichert, schleicht sich auf Zehenspitzen hinaus und öffnet leise die Tür zum Nebenzimmer - und da hört Irene es auch: Er flucht, aber nicht wegen ihres Gebrülls, sondern er erzählt sich selbst eine komische Geschichte. Nun kichern sie beide.
Aber was ist das für eine Geschichte? Irene ist es, als habe sie ihren und Marmaras Namen gehört. Jetzt läuft auch sie zur Tür, doch sofort schließt Marmara sie ebenso leise, wie sie sie geöffnet hat, und schiebt Irene ins Badezimmer zurück. "Willst du, dass Er uns nackt sieht?" zischt sie, während sie die Badezimmertür ins Schloss zieht. Sie weist auf die volle Wanne: "Ich bin fertig, kannst baden."
Mechanisch steigt Irene in die Wanne. Sie ist so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht auf die Idee kommt, von Marmara frisches Wasser zu verlangen.

Am dritten Tag nimmt Unser Prominenter Junge die Gelegenheit wahr, sich von Irene behandeln zu lassen. Wozu hat man eine Zahnärztin im Haus? Zahnarzthelferin Marmara assistiert. Noch immer war keine Rede von der gemeinsamen Wellnessgymnastik, doch Irene hat sich fest vorgenommen, die Gelegenheit zu nutzen, ihn gleich nach der Behandlung daraufhin anzusprechen. Vielleicht absichtlich, der Umstand, dass Marmara anwesend ist, kommt ihr entgegen. Dennoch hat sie jede Vorstellung von deren Reaktion, die sich ihr aufdrängen wollte, bis jetzt abgeblockt. Sie will sich gar nichts vorstellen, sie will nur noch ins Ziel. Das Schlimmste, was sie sich vorstellen kann, ist ein Marathonläufer, der kurz vor dem Ziel zusammenbricht.
Als Unser Prominenter Junge vom Behandlungsstuhl steigt, klopft es an der Tür. Irene hat sich gerade die Hände eingeseift, Marmara räumt die Instrumente weg. Die alte Missie steckt ihren runden Kopf herein und zwinkert: "Da steht ein Verehrer draußen, soll ich ihn reinlassen?"
Erstaunt hebt Irene den Kopf, spült schnell die Seife von ihren Händen. "Ja, soll reinkommen...", sagt sie unsicher. Marmara ist plötzlich verschwunden, Unser Prominenter Junge bleibt auf halbem Weg zur Tür stehen.
In der Tür steht Jürgen Drews. Irene traut ihren Augen nicht. Während sie sich reflexhaft die Hände abtrocknet, denkt es in ihr mindestens vier Gedanken parallel: dass Unser Prominenter Junge immer ein Fan von Jürgen war, er war sein Vorbild, er ist ihm nie begegnet, jetzt ist er hier, das ist er doch, ist das ein Traum?
"Marmara!" ruft Irene, etwas hysterisch lachend.
"Hallo!" sagt Jürgen Drews.
"Oh", murmelt Unser Prominenter Junge mit versteinertem Blick. "Hallo..."
Marmara steht in der Tür zum Labor, fix und fertig angezogen, kein rosa Kittel mehr, keine Gesundheitsschuhe. Sie strahlt. Sie strahlt Jürgen Drews an. Erwartungsvoll, schießt es Irene durch den Kopf. Was ist das hier?
"Hallo, Herr Drews... na, so was...", stammelt Unser Prominenter Junge, der langsam seine Fassung wiederfindet.
Irenes Blick wandert im Dreieck. Sie sieht den Prominenten Jungen vor ehrlicher Überraschung strahlen, wie ihn noch nie gesehen hat, noch nie so unverstellt und bloß. Sie sieht Marmara vor Erwartung strahlen, und beide strahlen in dieselbe Richtung. Sie sieht Jürgen Drews zurückstrahlen mit professioneller Natürlichkeit, wie es sich für ihn gehört und für einen Eingeweihten, der weiß, was das hier ist oder werden soll. Sie hört, wie Worte gewechselt werden, verblüffte, artige, überschwängliche, kichernde und gespielt begeisterte, und dann sieht sie, wie Jürgen Drews vor ihrem ebenfalls prominenten Gast niederkniet und zu singen beginnt. Er singt "Ein Bett im Kornfeld", und er singt es toll und tausendmal geübt, wie tausendmal zum ersten Mal, mit bühnenreifer Gestik, mit dem faltigen Gesicht des ewig Sechzehnjährigen. Just lovely!
Irene spürt nicht, dass ihr Herz bereits im Hals schlägt, sie spürt nicht das metallische Ziehen im Steißbein und nicht die Eiswürfel im Blut, sie denkt nur: ‚So prominent ist Unser Junge...?‘ und weiß im gleichen Augenblick, dass es nicht darum geht, so prominent ist dieser Junge nicht, war er nie, es geht um etwas ganz anderes. Es geht um Deckel, die nicht zu ihr gehören, nie gehört haben und nie gehören werden, es geht um Schmerzen, die nie aufhören werden, solange geräumige und billige Schränke fliegen zu können glauben wie Heliumballons, es geht um Schulden, die es gar nicht gibt, nicht geben kann, natürlich nicht, denkt Irene, unschuldige Schuld und heilige Unschuld, denn darum geht es: Es geht darum, dass ein durchgehaltener Marathon noch weniger wert ist als ein aufgegebener, wenn man nicht als Erster ins Ziel einläuft. Es geht darum, dass zwei schuldig Unschuldige gleich zur Tür hinausspazieren werden, Arm in Arm, zur Wellnessgymnastik zu zweit, mit der sie, sie, sie! sich unschuldig schuldig gemacht hat, schuldig eines logischen Verbrechens an ihrem Herzen, denn es geht am Anfang und am Ende und hinter und vor allem immer nur um den Rhythmus ihres Herzens, der ewig ist und groß.

© Angela Nowicki, 13. September 2010-2011

Sonntag, 18. September 2011

Die Erhebung

Ich stand lange, lange in der weltfernen Berglandschaft und nahm sie ganz in mich auf. Vollkommene Ruhe. Vollkommene Schönheit.

Als ich mich umwandte, betrat ich sogleich den kreuzgangähnlichen Eingang zur Felskathedrale. Die große Halle war von Licht durchflutet. Ich rief meine Schildkröte Hulda, und sie kam auch gleich, löste sich aber immer wieder auf und erschien, als hätte ich nicht genug Kraft, sie zu halten. Andere Bilder gerieten dazwischen, ein Meer... Ich wollte das nicht. Ich begrüßte Hulda und fragte sie, was sie meine: Waren die vorbewusst werdenden Bilder der letzten Reise der Beginn eines visuellen Entdeckungsprozesses, oder war das alles, was ich brauchte? Soll ich nochmals ins Unbewusste tauchen? Wo Hulda stand, sah ich dicht gekräuselte goldene Energiewellen schubweise über den Boden fluten.
"Das ist kosmische Energie", sagte Hulda in meinem Gehirn.
Ich sah deutlich, wie die kleine Schildkröte wieder in einer Aureole von einem starken Lichtstrahl nach oben gezogen wurde und ich hinterher. Während des ganzen Aufstiegs sah ich Huldas runden Panzer vor mir.

Draußen lautete die erste Botschaft, das Beste sei, erst einmal meine Chakras ordentlich aufzubauen. Aber wenn ich wolle, könne ich natürlich noch einmal ins Unbewusste abtauchen. Der Abstieg bzw. Absturz war dieses Mal lange nicht so deutlich wie vor einer Woche. Ich merkte gar nicht richtig, wie ich im Meer landete, da schwamm ich schon unter Wasser.

Wieder geriet ich an die Grenze zwischen Un- und Vorbewusstem. Heute war sie viel dünner, und der vorbewusste Raum war hell erleuchtet: Das war das Licht des Bewusstseins, das ihn fast ganz ausleuchtete, nur ein schmaler vertikaler, sich in Kurven nach unten windender Spalt blieb dunkel. Ich hörte Huldas Botschaft, sie könne mir allerdings nicht versprechen, dass heute etwas aus dem Unbewussten auftauchen werde.

In der Tat blieb lange alles leer. Dann wurde ich weggesogen.
"Lass es geschehen!" sagte Hulda. "Versuche nicht, Bilder zu erkennen, schaue einfach nur!"
Es war, als bliebe ich unbeweglich an der Grenze des Unbewussten, während ich gleichzeitig passiv durch Welten gezogen wurde.
Viele Bilder erkannte ich tatsächlich nicht.

Einmal geriet ich in ein Zimmer vor ein Bett, darin lag ein indisch aussehendes Mädchen. Sie war ganz grazil und hatte langes, dichtes, schwarzes Haar. Ich hatte das Gefühl, mich selbst in einer vergangenen Inkarnation zu sehen. Das Mädchen stand auf und lief aus dem Zimmer, als suche sie ihre Eltern. Sie wurde immer kleiner und verschwand, und ich blickte auf eine dunkelrot leuchtende indische Landschaft in der Abendsonne.

Später erkannte ich eine dickliche, ältere Frau, die auf einer Bank saß, vielleicht an einer Busstation, denn es saßen viele Leute um sie herum. Ich sah ihren kräftigen, kurzen Arm, als sie sich nach vorn beugte, um nach ihrer Einkaufstasche zu greifen. Urplötzlich fühlte ich mich so intensiv vertraut mit dieser Frau, dass mir fast die Tränen kamen. Als sei sie einmal meine Mutter gewesen.

Nach weiteren unkenntlichen Bildern erschien ein endlos weites Meer vor meinen Augen. Diese Vision war so deutlich, dass mich ein regelrechter Energieschock durchflutete. Das Meer hatte eine unbeschreibliche Farbe - Oktarin? Ich sah die letzten Sekunden eines furiosen Sonnenuntergangs, und dann glänzte das Meer unter einem rot-orangen Himmel.

Und dann... dann wurde ich in einen riesigen Trichter nach oben hineingezogen, der war von einem solchen leuchtenden Blau, wie ich es in meinem Leben noch nicht gesehen habe. Blau, das in Violett überging. In dieses Violett wurde ich hineingezogen. Ich sah die Erde unter mir, stieg immer höher. Ich sah den Planeten unter mir entschwinden, und die Kontinente leuchteten türkis. Ich wusste: Jetzt bin ich in meiner Seele.
Nach einer Weile fluteten unter mir wieder die dicht gekräuselten, goldenen Energiewellen wie in der Kathedrale.
"Das sind die Elemente", vernahm ich.
Also Wasser, denn es folgten ein orangerot loderndes Feuer und danach übereinander geschobene vertikale Schichten in verschiedenen Blautönen, die sich horizontal durch den Raum schoben. Das war Luft.
Und Erde? Da fragte mich meine Seele... nein, eigentlich fragte sie nicht; es war wie ein gegenseitiges Zunicken, dass ich selbstverständlich wieder zur Erde zurückkehre. Als sei es so abgesprochen. Im selben Moment fuhr ich wie eine Furie in einen Sarg aus roten Ziegeln ein, der sich jedoch sogleich erweiterte und in eine ziegelrote Landschaft überging, die wiederum in orangefarbene Wasserwogen mündete. Daraus führte ein hellgrüner Weg, der später rosa wurde, durch eine gelbe Landschaft.
Ich wusste auf einmal und verstand wortlos: Durch meine inneren Bilder und meine kosmische Nabelschnur war ich zu meiner Seele gekommen, und nun inkarnierte ich ein weiteres Mal. Unsere Wurzeln in dieser Erde sind im Vergleich zum Ganzen ein Sarg, doch ein lebendiger Sarg, der sich durch unsere Gabe der sinnlichen Wahrnehmung und des Fühlens öffnet und uns die Schönheit der Erde erfahren lässt. Der Weg durch all diese Wirren aus Macht und Ohnmacht, Ego und Schicksal aber ist die Liebe.

Was ich dort sah und erlebte, war eine Erhebung – ein unbeschreibliches, feierliches Gefühl, als sei mein ganzes Leben zusammen mit der Welt, wie ich sie sah, geheiligt worden.

Weitere Bilder wirbelten um mich herum, doch ich hatte genug gesehen.
"Ich bin raus", sagte ich laut. "Ich möchte zurück."
Es gab keinen Rückweg. Nach kurzer Zeit waren die Welten einfach verschwunden, und ich fand mich an der Grenze zu meinem Unbewussten wieder. Ich wusste, ich hatte mich während der ganzen Zeit nicht von der Stelle bewegt.

Der Aufstieg ging recht schnell, und ohne dass ich recht wusste, wie mir geschah, befand ich mich mit Hulda wieder in der Kathedrale. Ich sah sie nach mir mit ihrer Aureole in dem Lichtkegel absteigen. Ich wollte es mir mit ihr bequem machen, um zu verschnaufen und die eben erhaltenen Eindrücke im Gespräch zu verarbeiten, doch Hulda zeigte sich seltsam ungeduldig und jagte mich nahezu hinaus. Es gelang mir kaum, mich von ihr zu verabschieden. Ich hörte sie nur sagen, ich solle DAS jetzt aber erst einmal gründlich verarbeiten, bevor ich zur nächsten Reise käme.

© Angela Nowicki, 12. Juli 2010

Donnerstag, 15. September 2011

Kapitel 4: Keine Extrawurst für meine Tochter

oder
Warum Neila nie studiert hat


Als sie Michał im Brüder- und Pflegeheim Martinshof in Rothenburg an der Neiße kennen gelernt hatte, hatte sie dort schon längst nicht mehr gearbeitet. Neila war eine von nur zwei Schülern ihres Jahrgangs an ihrer Erweiterten Oberschule gewesen, die sich nicht für ein Studium beworben hatten. "Ich bin alt genug, um nicht mehr in den Kindergarten zu gehen", war ihre Antwort, wenn sie nach dem Grund gefragt wurde. In Wahrheit jedoch war sie nur zu eigensinnig, um Kompromisse zu machen.

Damals hatte sie davon geträumt, Musik zu machen, und deshalb sogar mit 16 noch angefangen, Klavierunterricht zu nehmen, denn Klavier war Pflichtfach bei jedem Musikstudium. Sie hatte nur fünf Jahre lang Violinunterricht gehabt und konnte ein bisschen Blockflöte und Gitarre spielen. Die jüngferliche Klavierlehrerin an der Musikschule war mit jedem Schüler oberhalb des Grundschulalters überfordert. Sie hatte sie bis zum Erbrechen stramme Pionierlieder üben lassen, doch das Üben war gleich das nächste Problem. Zu Hause hatten sie kein Klavier. Der Zufall wollte es, dass die Nachbarn unter ihnen, ein ältliches Geschwisterpaar, ihr Uraltinstrument verkauften. Niemand wusste, wann es zum letzten Mal gestimmt worden war. Das gute Stück plärrte wie eine Stummfilmbegleitung aus den Zwanziger Jahren und hatte auch schon ein paar stumme Tasten. Neila führte es jedem, der sie besuchte, mit höchstem Vergnügen wie eine Jahrmarktsattraktion vor, doch Üben machte auf dem Ding einfach keinen Spaß, ganz abgesehen davon, dass Neila zwei Jahre nach der Scheidung ihrer Eltern andere Leidenschaften hatte, als auf einem plärrenden und verstimmten Klavier Pionierlieder zu üben. Deep Purple und Omega hören, zum Beispiel. Oder bunte Flicken auf ihre allererste Schweizer Feincordjeans zu nähen, als die nach einem Jahr schon dünne Stellen bekam, weil sie in der ersten Nacht darin geschlafen (sie war etwas zu eng gewesen, größere Größen gab es nicht mehr, aber eine echte Cordjeans musste man einfach haben) und sie von da an jeden Tag getragen hatte, und so und ohne FDJ-Bluse zum Kleinen Abitur zu marschieren, wo die Diskussion über ihren "Gammler-Aufzug" dann fast länger dauerte als die Prüfung selbst. Oder Jack London lesen.
"Darf ich Ihnen einen guten Rat geben?" fragte ihre Klavierlehrerin nach einem verquälten halben Unterrichtsjahr säuerlich. "Sparen Sie das Geld für etwas Besseres. Sie kommen sowieso nicht durch die Jahresprüfung. Sie sind völlig unbegabt."

Da hatte ihr Violinlehrer aber vor vier Jahren noch eine ander Meinung von ihrer musikalischen Begabung gehabt, als er sie an die Spezialmusikschule in Leipzig schicken wollte, dachte Neila. Aber da war sie auch noch eine brave Pionierin gewesen, in einer Zeit, als niemand auch nur im Traum daran gedacht hätte, dass ihre Eltern sich scheiden lassen könnten. Und Neila allein bei ihrem strengen Vater bleiben würde, der die Spezialmusikschule damals abgelehnt hatte. Nicht nur die, er war weitere drei Jahre zuvor schon nicht einverstanden gewesen, Neila - auf Drängen ihrer Lehrer - ein Schuljahr überspringen zu lassen, und auch nicht damit, sie an die so genannte "Begabtenschule" zu schicken, die Schule mit erweitertem Russischunterricht.
"Keine Extrawurst für meine Tochter. Sie soll ganz normal aufwachsen, wie alle anderen Kinder", hatte der studierte Arbeitersohn entgegnet.

Nichts zeigte deutlicher, wie wenig ihr eigener Vater sie kannte, denn unter diesen "ganz normalen" Kindern und Erwachsenen hatte Neila von klein auf und bis weit in ihr erwachsenes Leben hinein gelitten. Sie war schon im Kindergarten zur Außenseiterin geworden, und nachdem sie sich zwölf Jahre lang vergeblich gemüht hatte, "dazu zu gehören", nahm sie die ihr aufgezwungene Rolle endlich bereitwillig und rebellisch an.

Deshalb hatte sie es abgelehnt zu studieren, denn wenn es Musik nicht sein konnte, dann eben gar nichts. Was sie statt dessen jedoch tun sollte, wusste sie nicht. Die "Szene", in der sie sich damals bewegte, und auch mehrere Jungs aus der Kommune, in der sie lebte, seit sie an ihrem 18. Geburtstag die Tür ihres Vaterhauses für immer hinter sich zu gemacht hatte, hatten gerade die Sozialarbeit für sich entdeckt. Immer mehr zog es in die diakonischen Einrichtungen der evangelischen Kirche.
"Ich gebe dir zwei Ratschläge", sagte Peter eines Abends in der "Kommune", einer Dreizimmerbaracke, in der, außer dem Hauptmieter Jürgen, drei Jungs und Neila mehr oder weniger illegal hausten. "Neinstedt ist voll, aber du könntest mit uns nach Rothenburg gehen. Du kannst dort in der Pflege anfangen und eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin machen. Das gibt dir Halt, und du bist dabei nicht allein, sondern wohnst mit uns allen im Brüderhaus."
Neila war immer so gewesen... Auch dieses Mal schlug die emotionale Welle spontan nach oben aus, und sie stürzte sich kopfüber hinein.
"Und der zweite Ratschlag?"
"Trinke nie mehr als ein Glas Wein am Abend."
Peter war ein moralischer Philosoph und offensichtlich auch ein exzellenter Beobachter. Neila spendierte den Zurückbleibenden eine Flasche Stierblut und ging nach Rothenburg. Aber zuerst trampte sie nach Ungarn und nach Polen.

Dienstag, 13. September 2011

Annäherung der Tiere

Ein kleines Haus in Südengland. Durch die Terrassentür im Living Room blickt man hinaus auf die Wiese im Garten und an dessen Ende auf das nächste kleine Haus. Dahinter bezeichnet ein schmaler blauer Streifen die uferlose Ferne.
"Jetzt sind wir hier", sagt Neila zu Leo und Barbara. "Ich glaube immer noch, ich träume."
Draußen schlägt der Hund an.
"Ha! Ein Einbrecher", ruft Leo und lacht, und die beiden Frauen stimmen ein. "Der soll nur kommen", kichert Barbara. "Bei unserem Hund kommt der nicht rein."
Neila aber sieht keinen Hund draußen. Sie drückt ihre Nase an der Glastür platt: weit und breit kein Hund. Sie denkt: ‚Ja, wenn es kein Hund ist, der bellt, dann sind wir es wohl.‘ Gleich stimmt sie in das Gebell ein, mit besonderem Eifer, denn es soll ja kräftig sein und gehört werden.
Als sie jedoch noch einmal nach links zur Hauswand schaut, bleibt ihr Blick an etwas hängen, das sehr wohl wie ein Tier aussieht. Sie blickt angestrengt hinüber. Es ist kein Hund, aber es ist ein Tier. Es ist nicht richtig zu sehen, weil es zum Teil von der Hauswand verdeckt wird, doch dann erkennt Neila das Hinterteil eines Kälbchens.
"Hey, kommt mal her!" ruft sie aufgeregt. "Jemand hat uns ein Kälbchen vor die Tür gelegt!"
Barbara kommt sofort gerannt, Leo schlurft hinterher. Neila hat die Terrassentür geöffnet, und nun stehen alle im Garten um ein Kälbchen herum, das wer weiß woher kommt, und sind sprachlos.
Barbara findet als Erste die Sprache wieder: "Vielleicht ist es krank?"
Das bringt die drei in Bewegung. Leo greift sofort zu und hilft dem Kälbchen auf die Füße. Sie führen es ins Haus. Das Maul des Kälbchens steckt in einer Papptüte. Neila erschrickt, und auch Barbara macht ein besorgtes Gesicht und sagt: "Tierquälerei." Doch dann sehen sie durch den Spalt an der Seite der Tüte sein rosa Maul, das ganz zufrieden und fröhlich mit ihnen zu sprechen beginnt.
"Wenn ich mich etwas hinlegen dürfte?", sagt das Kälbchenmaul. "Auf der Wiese war es eigentlich ganz angenehm. Dort könnte ich mich ausruhen, bis ich wieder ganz gesund bin, und Gras habe ich auch, nur ab und zu ein Schälchen Wasser wäre wirklich freundlich."
Im Übrigen spricht es natürlich englisch.
Neila, Leo und Barbara führen das Kälbchen wunschgemäß wieder zurück auf die Wiese, in die kühle englische Sonne, damit es sich auskurieren kann, und auch ein Schälchen Wasser findet sich. Wieder im Haus, setzen sie sich zusammen und beraten, und am Ende der Beratung beschließen sie, das Kälbchen zu behalten, denn Kälbchen sind schöne Tiere, und vielleicht könnte es ihnen einst sogar Milch geben.

Am Nachmittag ist Neila auf dem Heimweg vom Theater. Sie steht gerade mit Bobby, einem Freund aus ihrer Theatergruppe, an der Bushaltestelle, als ein Mann ein Pferd an ihnen vorüber führt. Als er näher kommt, macht sich das Pferd plötzlich los und kommt, wie von einem Magneten angezogen, direkt auf Neila zu. Sie ist zunächst etwas verwirrt, doch das Pferd bleibt bei ihr stehen. Es macht den Anschein, als fühle es sich zu ihr gehörig. Der Mann ist längst weitergegangen, er hat sich nicht einmal umgeschaut.
Es ist ein schlankes Pferd mit dunkelbraunem, glänzenden Fell und heller Mähne, ein wunderschönes Pferd, kräftig und gesund. Bobby fragt, was sie mit dem Pferd jetzt machen wolle.
"Wenn es meint, dass es zu mir gehört, dann soll es auch bei mir bleiben", beschließt Neila. Am Ende freut sie sich und findet das Ganze völlig in Ordnung.

Nun sind sie erst zwei Wochen in England und haben neben dem kleinen Häuschen mit dem Blick auf die uferlose, blaue Ferne schon ein Kälbchen und ein Pferd, und nun fragt Neila ihre Familie, ob sie sich noch eine Kuh kaufen wollen. Das jedoch lehnen alle ab, und auch Neila findet schließlich, das sei zu viel. Sie wollen immerhin keinen Bauernhof anlegen und täglich mit den Hühnern aufstehen, um die Tiere zu füttern. Eine kurze Zeit lang stellt sie sich diese Situation vor, und ihr wird klar, dass sie nie ein Tier schlachten würden. Wozu dann also die Kuh? So viel Milch brauchen sie ja gar nicht.

© Angela Nowicki, 16. September 2010

Sonntag, 11. September 2011

HD: Die Schaltkreise, Teil 2


Die Schaltkreisgruppe des Individuums

Aus dem Stamm heraus entwickelt sich das Individuum nicht "vom Ich zum Wir", sondern vom weitgehend unbewussten Wir zum bewussten ICH. Das lässt sich auch an der menschlichen Individualentwicklung nachvollziehen: Das Ich-Bewusstsein entwickelt sich erst gegen Ende der ersten drei Lebensjahre; vorher erlebt sich das Kleinkind als noch nicht getrennt von seiner Umwelt und seinen Bezugspersonen und spricht von sich in der dritten Person. Das Interesse des Individuums sind die Selbstfindung und die Selbstverwirklichung. Das hat nichts mit Egoismus zu tun, denn das Individuum erwächst ja aus dem Stamm, hat also bereits eine gemeinschaftliche Entwicklungsphase hinter sich. Es ist in der Lage, Rücksicht auf andere Individuen zu nehmen und sie durch sein Vorbild zu bestärken. Es hat allerdings nicht die Aufgabe, für andere da zu sein, sondern in erster Linie für sich selbst, allerdings ohne anderen zu schaden, nach dem Motto: "Freiheit ist immer auch die Freiheit der anders Denkenden." Deshalb ist sein Schlüsselwort nicht Selbstbestärkung, wie in der allerersten Stufe der Integrationskanäle, sondern Bestärkung anderer, weil es andere durch seinen individuellen Ausdruck darin bestärkt, ihren eigenen individuellen Ausdruck zu suchen und auszuleben. Der wahre Individualist sagt: "Seht her, Menschen, all das könnt ihr tun und noch mehr, wenn ihr euch aus dem Joch der Herde befreit und euer Selbst würdigt!"
Die Schaltkreisgruppe des Individuums besteht aus
dem Schaltkreis des Wissens mit den Kanälen
61/24 (Kopf-Ajna) - Gewahrsein, ein Design des Denkers
43/23 (Ajna-Kehle) - Strukturierung, ein Design der Individualität (Genie oder Wahnsinn)
8/1 (Kehle-Selbst) - Inspiration, ein Design des schöpferischen Rollenvorbilds
2/14 (Selbst-Sakral) - Metrum, ein Design des Schlüsselverwalters
3/60 (Sakral-Wurzel) - Mutation, ein Design der impulsiven Entwicklung
38/28 (Wurzel-Milz) - Kampf, ein Design des Eigensinns
57/20 (Milz-Kehle) - Geistesblitz, ein Design durchdringender Bewusstheit
39/55 (Wurzel-Solarplexus) - Gefühlsausdruck, ein Design der Launenhaftigkeit
22/12 (Solarplexus-Kehle) - Offenheit, ein Design der Geselligkeit
dem Schaltkreis der Zentrierung mit den Kanälen
51/25 (Herz-Selbst) - Einweihung, ein Design des Drangs, Erster zu sein
10/34 (Selbst-Sakral) - Erforschung, ein Design, den eigenen Überzeugungen zu folgen
Das Besondere an der Schaltkreisgruppe des Individuums ist, dass sie als einzige Schaltkreisgruppe alle neun Zentren miteinander verbindet. Auch dies ist für mich ein Hinweis darauf, dass das Individuum das evolutionäre Bindeglied zwischen dem Stamm und dem Kollektiv ist: Es hat ein Ego, aber auch ein Selbst und einen Verstand. Beim Wissen dreht sich alles um Selbsterkenntnis und bei der Zentrierung um Selbstfindung und Selbstverwirklichung.

Die Schaltkreisgruppe des Kollektivs

Wenn der Mensch sich selbst gefunden und verwirklicht hat, ist er in der Lage, sich wieder mit anderen zusammenzuschließen, aber dieses Mal nicht mehr in egoistischer Abhängigkeit, sondern in einer Gemeinschaft der Freien. Das Kollektiv ist keine materiell orientierte Interessengruppe, wie der Stamm, sondern eine Gruppe oder Gesellschaft, die aus Individuen besteht, die sich freiwillig für das Gemeinwohl in die Pflicht nehmen lassen, ohne ihre Individualität aufzugeben. Es ist das Ganze, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Im Kollektiv geht es ums Teilen und Tauschen, Mit-teilen und Aus-tauschen. Vom Stammes-Attribut der Unterstützung unterscheidet sich das Teilen darin, dass es auf gleichberechtigter Basis, auf Augenhöhe, und freiwillig geschieht und dass es nicht zwingend eine Gegenleistung nach sich zieht, denn sonst wäre es ja nicht freiwillig. Wenn man von einem Stammesmenschen ein Geschenk erhält, so sollte man sich bei passender Gelegenheit besser revanchieren. Egal, was er sagt - im Stamm wird immer eine gleichwertige Gegenleistung erwartet, und schon ist man unfreiwillig in der Pflicht. Der kollektive Mensch gibt aus seiner inneren Fülle, ohne dafür etwas zu erwarten, und nimmt in Würde, ohne sich zum Geben verpflichtet zu fühlen. Letztlich geht es auch hier wieder um ein WIR, allerdings ein höheres Wir, das das Ich nicht mehr unterdrückt, weil es ohne Ich gar nicht denkbar wäre.
Irgendwie klingt das alles noch ziemlich utopisch. Vielleicht liegt es daran, dass wir in der Menschheitsentwicklung noch nicht beim Kollektiv angelangt sind. Wir haben gerade den Stamm überwunden und stecken derzeit mitten in der Individualisierung, zu sehen u.a. am Untergang der Großfamilien und der Familie als "Keimzelle der Gesellschaft", dem Bedeutungsverlust der Institution Kirche, dem explodierenden Egoismus (wenn mich überhaupt etwas an der Werbung fasziniert, so ist es ihre Rolle als Seismograf gesellschaftlicher Entwicklungen!) und seiner "Spaßgesellschaft". Egoismus im Sinne von Ich-Bezogenheit ist ein ganz natürlicher Kompensationsmechanismus auf die jahrtausendelange Verleugnung des Ich: Das Pendel muss erst genauso weit nach der anderen Seite ausschwingen, bevor es sich allmählich "einpendelt".
Die Schaltkreisgruppe des Kollektivs besteht aus
dem Schaltkreis der Abstraktion mit den Kanälen
64/47 (Kopf-Ajna) - Abstraktes Denken, ein Design der geistigen Aktivität und Klarheit
11/56 (Ajna-Kehle) - Neugier, ein Design des Suchers
33/13 (Kehle-Selbst) - Der verlorene Sohn, ein Design des Zeugen
46/29 (Selbst-Sakral) - Entdeckung, ein Design, Erfolg zu haben, wo andere versagen
42/53 (Sakral-Wurzel) - Reifung, ein Design der zyklischen Entwicklung
41/30 (Wurzel-Solarplexus) - Erkennen, ein Design der gebündelten Energie
36/35 (Solarplexus-Kehle) - Vielseitigkeit, ein Design des Hans-Dampf-in-allen-Gassen
dem Schaltkreis der Logik mit den Kanälen
63/4 (Kopf-Ajna) - Logisches Denken, ein Design der geistigen Leichtigkeit mit Zweifeln
17/62 (Ajna-Kehle) - Akzeptanz, ein Design der Nachfolge
31/7 (Kehle-Selbst) - Dominanz, ein Design der Führerschaft
15/5 (Selbst-Sakral) - Rhythmus, ein Design des Mitschwingens
9/52 (Sakral-Wurzel) - Konzentration, ein Design gerichteter Aufmerksamkeit
58/18 (Wurzel-Milz) - Urteil, ein Design der Unzufriedenheit
48/16 (Milz-Kehle) - Wellenlänge, ein Design des Talents
Das Besondere am Kollektiv ist, wie man sich schon denken kann, das Fehlen des Stammes-Ego. "Selbstlosigkeit" ist allerdings ein irreführender Begriff; das, was damit umgangssprachlich gemeint ist, müsste eigentlich "Ichlosigkeit" oder eben "Egolosigkeit" heißen. Bei der Abstraktion geht es um Erfahrungen und bei der Logik um Vorstellungen. Erfahrungen beziehen sich immer auf die Vergangenheit, die hier bewahrt und gedeutet wird (Erinnerung, Geschichte, Literatur usw.), während Vorstellungen sich immer auf die Zukunft beziehen, die hier geplant wird (Prognose, Technik, Informatik usw.).

© Angela Nowicki, 11. September 2011

Samstag, 10. September 2011

Schweigen

Nur Schweigen ist in mir
Sonst nichts
Das Dröhnen des Tages
Die Angst
Der Schmerz
Verstummen vor meiner Haut Glätte
Erreichen nicht mehr mein Herz
Und es bleibt Schweigen
Sonst nichts

© Angela Nowicki, 1981

Donnerstag, 8. September 2011

Kapitel 3: Wrocław

oder
Es gibt Dinge, die man Eltern nicht erzählen darf


Am Abend kam Neila in Wrocław an. Irgendwo am Stadtrand. Sie hatte keine Ahnung, wo Michał wohnte. Er hatte ihr in Rothenburg zum Abschied seine Adresse gegeben: "Wenn du mal wieder nach Wrocław kommst, erwarte ich deinen Besuch!" Das war weniger eine Einladung gewesen als ein Befehl. Jetzt fragte sie eine Passantin, die mit zwei Einkaufstaschen an ihr vorbeihastete, nach der Rawska. Damals verständigte sich Neila noch in einer abenteuerlichen Mischung aus Polnisch und Russisch, mit der sie aber gut durchkam.
"Oje, das ist ja am anderen Ende der Stadt!" jammerte die Frau mitfühlend. "Da müssen Sie mit der Straßenbahn..."
Offensichtlich dachte die Frau, es sei mühseliger, Neila den komplizierten Weg zu erklären, als sie einfach ein Stück zu begleiten. Dieses Phänomen war ihr auch in Ungarn schon mehrmals untergekommen: Du fragst wildfremde Leute, die mit Sicherheit nicht ausgerechnet auf dich gewartet haben, nach dem Weg - und sie lassen alles stehen und liegen und begleiten dich persönlich durch die halbe oder sogar die ganze Stadt und warten manchmal sogar noch, bis man dir an deinem Zielort die Tür geöffnet hat. Die Polin jetzt, dem Eindruck nach eine gewöhnliche Hausfrau (Mantel und Strickkappe - diese unsäglichen polnischen Strickkappen!), entschied sich für die halbe Stadt, was weit genug war, und setzte Neila schließlich zufrieden in die letzte Straßenbahn auf ihrer Route, nicht, ohne ihr vorher noch eingeschärft zu haben, an der wievielten Haltestelle sie auszusteigen habe.
"Und dort fragen Sie noch mal jemanden, ja?"
Neila versprach es ihr und bedankte sich herzlich.

Zehn Uhr abends klingelte sie an der Gartentür des schicken Einfamilienhauses in einer stillen Siedlung. Eine Minute später lag sie sich mit Michał in den Armen. Er freute sich über ihren Besuch, als sei sie der kommende Papst, aber das war bei den polnischen Hippies so üblich. Sie steigerten noch einmal, was nicht mehr steigerungsfähig erschien: die berühmte polnische Gastfreundschaft.
Freudestrahlend stellte Michał sie seinen Eltern vor, zwei wohlhabenden Architekten. Es war Neila durchaus peinlich, von der versammelten Familie gleich zum Abendbrottisch gedrängt und begeistert ausgefragt zu werden ("Wo ist meine Tarnkappe?"). Immerhin war sie auf der Flucht, und Eltern mögen noch so lieb sein - es gibt Dinge, die darf man ihnen nicht erzählen. Und wenn sie dann noch so rührend um ihren unbekannten Gast besorgt sind, fühlt es sich schon mal ungut an, sie belügen zu müssen.

Erst in Michałs Zimmer, das ihr von der ganzen Familie wie selbstverständlich zur Verfügung gestellt wurde, während Michał selbst sich ebenso selbstverständlich ausquartierte, konnte Neila ihre kurze, aber bereits einigermaßen komplizierte Geschichte loswerden. Michał staunte Bauklötzer. So radikal waren nicht mal die meisten polnischen Hippies, dass sie einfach ins Ungewisse hinein abhauten. Aber die hatten auch kein Reiseverbot - eine Sache, die Neila in Polen noch häufiger genauer erklären musste, denn die Polen konnten zwar auch nicht einfach in der Welt herumreisen, aber nur, weil sie entweder nicht genug Geld hatten oder von der ausländischen Botschaft kein Visum bekamen (weil sie nicht genug Geld hatten). Dass der eigene Staat einen einsperren konnte, selbst wenn es um den "verfaulten Westen" ging, das wollte ihnen nicht in den Kopf. Kunststück.

Nachdem Michał begriffen hatte, was für Neila auf dem Spiel stand, beruhigte er sie jedoch.
"Keine Sorge, wir finden eine Lösung für dich. Morgen treffen wir uns erst mal mit den Freunden."
Die Anspannung eines Tages fiel von Neila ab, als sie, endlich allein, ans Fenster trat und ihren Blick über Mond und Dächer gleiten ließ.

Sie war angekommen.

Montag, 5. September 2011

Unser Prominenter Junge (Teil 2)


Doch das ist nun vorbei. Nach so vielen Jahren der Demütigung ist endlich auch Irenes Tag gekommen. Ihr Deckel hat sie gefunden. Den kann Marmara gern "raiiizend" finden, wie sie will. Es ist ihr Deckel! Ein leiser Zweifel, wie der Biss einer Kakerlake, durchzuckt Irene. Passt dieser Deckel denn wirklich zu ihr? Irgendwie will es ihr nicht recht gelingen, sich und Ihn als Paar vorzustellen. Was werden die anderen sagen? "So ein ungleiches Paar, das ist doch lächerlich! Was findet Er nur an ihr? Ach was, das ist sicher nichts weiter als einer Seiner exzentrischen Scherze. Er wird sie bald fallen lassen wie eine angefaulte Kartoffel. Ja, Marmara und Er, das wäre ein schönes Paar!..." Gequält stöhnt Irene auf. Das muss ein ganzes Kakerlakennest sein! Sie kneift sich mit voller Kraft in den Unterarm und schlägt die Falltür über den verbrecherischen Gedanken zu. Ein paar Hofschranzen haben sich auf ihren Schmerzenslaut hin umgedreht und starren sie an. In ihrem Gesicht klappt ein hölzernes Lächeln auf. Unser Prominenter Junge sieht es und streckt strahlend die Arme nach ihr aus:
"Ah, da ist ja meine spezielle Freundin! Komm her, lass dich umarmen!"
Und die spezielle Freundin macht, gar nicht mehr hölzern, ihre Aufwartung.

Später gibt es eine Privataudienz, ganz allein für Irene. Nun gut, eigentlich war es ihr Vorschlag, aber das spielt keine Rolle. Sie hat ein Geschenk für Ihn, ein ganz besonderes, ausgesucht mit größter Sorgfalt. Nicht, dass es dessen bedurft hätte – das hätte ja ausgesehen, als wolle sie Ihn kaufen. Du lieber Himmel, nein, Liebe lässt sich nicht kaufen. Er weiß, was Er ihr schuldig ist. Nennen wir es also ein Geschenk aus Liebe.
Überrascht nimmt Unser Prominenter Junge den Gutschein entgegen. Sein immer noch hübsches Gesicht (Hübscher denn je! denkt Irene), in dem die Augen vielleicht ein wenig zu sehr glitzern (aber das gefällt Irene ja so) strahlt in aufrichtiger Freude über die bevorstehende Wellnessgymnastik zu zweit. Irene schwebt darüber wie ein Heliumballon. Genauso hat sie es sich vorgestellt. Deshalb kann sie gar nicht anders, als einfach loszuplappern, noch bevor Er Sein "Aber das war doch nicht nötig" zu Ende gesprochen hat, und ihm die ganze Geschichte zu erzählen, wie sie den Gutschein zusammengestellt hat (sorgfältig!), wie ihr Besuch im Verlag verlaufen ist (ihrem Verlag! In ihrer Schussfahrt fällt ihr gar nicht auf, dass er dieses Besitzwort entweder überhört oder aber nicht für wert befunden hat, darauf zu reagieren – andererseits: Hätte er eine Chance dazu gehabt? Hätte er nicht.), wie ihr merkwürdiger Schlagabtausch mit der Lektorin verlaufen ist, Wort für Wort, bühnenreif wiedergegeben, so dass es sogar Unserem Prominenten Jungen ein amüsiertes Kichern entlockt, wie sie den Gutschein bestellt hat, wohl wissend, was sie wollte. Nur ihre Hausfrauenentschuldigung streicht sie aus dem Drehbuch, das war zu peinlich.
Unser Prominenter Junge weiß, was sich gehört. Er ist ganz Ohr, zeigt sich gespannt, zeigt sich interessiert, blinzelt schelmisch an den lustigeren Stellen, schmettert ein bewunderndes "Donnerwetter!" an den heroischen und schüttelt Irene zum Schluss überschwänglich beide Hände: "Das ist ja unglaublich interessant! Wirklich sehr lehrreich für mich! Ich bin dir überaus dankbar, Irene! Du bist eine tolle Frau!" und zwinkert verschwörerisch. Und dann umarmt er den ganzen Heliumballon, der endlich im Rausch des Triumphes aus dem Zimmer schwebt. Sie hat es immer gewusst: Er weiß nicht nur, was Er ihr schuldig ist, Er liebt sie! Ja, Er liebt sie!
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und alle je gewesenen und werdenden Zeiten begegnen sich für einen halben Tag in einem Punkt. Einen halben Tag lang weiß Irene, was Leben ist. Irgendwann landet der Heliumballon zwar wieder, und sie entdeckt mit leichter Beunruhigung die nächste Kakerlake in Beißstellung: Unser Prominenter Junge hat kein Wort darüber verloren, wann sie denn gemeinsam zur Wellnessgymnastik gehen wollen. Kurzentschlossen erschlägt Irene das Ungeziefer. Den schmierigen, braunen Fleck wäscht sie sofort ab. Er war einfach zu überwältigt, da denkt man nicht an Termine.

Am nächsten Tag hat die Welt doch noch etwas von ihrem berühmten Gast. Das Fernsehen ist da. Der Star nach acht Jahren zum ersten Mal wieder in seiner Heimat, das bringt Einschaltquoten. Irene fragt sich, wer den Fernsehsender eingeladen haben könnte. Unser Prominenter Junge selbst? Verfolgt er damit etwa eine bestimmte Absicht? Ihr ganzer Körper steht unter Strom, als sie in den Salon geht, wo die Fernsehleute ihr Equipment aufgebaut haben. Angst sitzt im Steißbein, das weiß sie schon lange. Aber sitzt dort auch Vorfreude? Sind Angst und Vorfreude etwa dasselbe? Unser Prominenter Junge könnte vielleicht etwas darüber sagen, wer würde sich mit Lampenfieber besser auskennen als er? Vorläufig warten sie auf ihn. Irene fällt auf, dass Marmara auch noch nicht da ist. Sie erinnert sich, sie in den letzten Stunden nirgendwo gesehen zu haben. Ihre Seele hat sich im Steißbein versammelt.
Zuerst huscht Marmara in den Salon und hockt sich auf ein Sitzkissen neben dem Diwan, der für den hohen Gast reserviert ist. Wenige Sekunden später erscheint Er selbst. Alle hören mit hochroten Ohren und unterdrücktem, aufgeregtem Lachen noch einmal die ganze Geschichte wie zum ersten Mal: Wie er schon immer wusste, dass er einmal ein Star sein wird. Wie er Schule, Freunde und Vergnügen vernachlässigt habe, um sich ganz seiner Berufung zu widmen. (Hier übertreibt er, denkt Irene. Sie hat ein gutes Gedächtnis.) Wie er sein Heim und seine Mitbewohner verließ, um die Welt zu erobern. Wie er die ersten Rückschläge und Enttäuschungen erlitt – nicht viele natürlich! (Irene weiß es besser. Sie hat wirklich ein gutes Gedächtnis.)
An dieser Stelle fragt der Reporter, ob es jemanden gab, der ihn in diesen schweren Stunden unterstützt habe. Irene horcht auf. Oh ja, es gab immer Menschen, die an ihn geglaubt haben, von seiner Mission überzeugt waren. Irene hat auf einmal ein taubes Gefühl im Steißbein. Allen voran die schöne Marmara – Er winkt, Marmara setzt sich neben Ihn, Er legt Seinen linken Arm um sie. Eiskalt. Lähmung ist eiskalt, erfährt Irene. Als habe ihr jemand mit Hochdruck Eiswürfel in den Blutkreislauf gepresst. Kein Gefühl, ihr Steißbein spürt sie gar nicht mehr. Ein Raunen geht durch den Salon: Ist sie nicht wunderschön? Und sie hat...? Oder unsere treue Seele Irene – Er winkt, Irene stakt, ohne zu wissen wie, zum Diwan, fällt eckig neben Ihm nieder, während sie an nichts anderes denkt, als dass ihre vereisten Beine brechen könnten. Er legt Seinen rechten Arm um sie. Jemand – Irene hört alles nur noch wie aus weiter Ferne und versteht es nicht – fragt, ob es eine Frau in Seinem Leben gebe. Wenn er darauf geantwortet hat, hat Irene nichts gehört, sie sieht ihn ja nicht, sie versteht ja nichts, sie denkt immer nur: ‚Abgelehnt. Aussortiert.‘ Das ist der wahre Rhythmus ihres Herzens: Abgelehnt. Aussortiert. Abgelehnt. Aussortiert...

Es ist alles so schnell gegangen. Jetzt sind die Fernsehfritzen wieder fort, und Irene findet sich in ihrem Zimmer auf dem Boden wieder. Was war das? Moment... Da war dieses metallische Ziehen im Steißbein... Und dann saß Marmara neben Unserem Prominenten Jungen. Neben ihrem Prominenten Jungen, ihrem, Irenes! ‚Meiner!‘ denkt Irene kreischend. Aber ihre Gedanken laufen endlich wieder. Sie hatten sich nur verhakt. ‚Mein gott‘, denkt es wieder in normalem Tonfall, ‚was für ein aufruhr! Du bist ja hysterisch, mädel. Dann saß sie eben neben ihm, soll sie doch, sie gehört doch zum hausstaat. Sie saß doch nicht allein dort, du hast ja an seiner anderen seite geklebt, und er hat auch um dich seinen arm gelegt. Oder?‘ Ja, nur... Soll sie sitzen, darum geht es gar nicht, da war aber noch etwas anderes. ‚Und was?‘
Da war, dass Marmara eine Verräterin ist! Er hat sie zu sich gerufen, als Er gefragt wurde, wer Ihm beigestanden habe. Das heißt, auch sie hat offenbar all die Jahre Kontakt zu Ihm gehabt, und damit nicht genug, auch sie hat Ihm offenbar all die Jahre geholfen! War seine Mutter, Freundin und Ratgeberin? Und jetzt... Nein, das kann nicht sein! Er hat Marmara mir gegenüber nie erwähnt! Und auch Marmara hat mir nie etwas gesagt! Das kann einfach nicht sein! Und Er hat sie als Erste gerufen! Das kann doch nur heißen, dass sie noch mehr für Ihn getan hat als ich. Oder? Dass Er weiß, was Er ihr schuldig ist, nicht mir. Oder? Nein, nein, nein, so nicht, das ergibt keinen Sinn, ich bin doch nicht blöd, ich weiß doch, was ich spüre, das ist doch keine Einbildung, nein, nein, das hat alles eine ganz logische Erklärung. Logik ist meine Stärke.
‚Dann lass mal hören.‘
Wie ist das bei der Siegerehrung? Es geht von unten nach oben. Ha! Zuerst wird die Bronzemedaille verliehen, dann Silber und ganz zum Schluss erst Gold, das oberste Siegertreppchen, damit der Sieger den ungeteilten Applaus genießen kann. Mich hat er zuletzt genannt, weil ich die Erste bin. Logisch, oder?
Ihr Verstand verzieht die Lippen zu einem ironischen Grinsen: ‚Und? Hast du den ungeteilten Applaus genossen? Aber egal. Ist trotzdem logisch. Doch logik kann absolut fehlerfrei und dennoch falsch sein.‘
Das stammt nicht von dir.
Irene hat auf einmal das Gefühl, als seien ihr die Kakerlaken ins Hirn gekrochen.
‚Nein, haben wir irgendwo gelesen. Ist aber gut. Hast du denn gehört, was er gesagt hat, während ihr beide da schmachtend in seinen armen hingt?‘
"Er" und "Seinen"! Das wird groß geschrieben!
‚Du weißt, dass ich von großschreibung nichts halte. Also, hast du was gehört?‘
Ach, ich war doch so weggetreten. Der Schreck saß mir doch in allen Gliedern. Eiskalt übrigens, wusstest du, dass Schreck ein Sack Eiswürfel ist und Lähmung verursacht? ‚Tut er das? Du hast also nichts gehört. Ich allerdings schon. Willst du wissen...‘
"Ich sollte ein Bad nehmen. Ich bin noch ganz ausgekühlt. Jawohl, ich nehme jetzt ein Bad!" Resolut steht Irene auf, lässt ihren ironisch grinsenden Kakerlakenverstand links liegen und geht ins Badezimmer.

Samstag, 3. September 2011

HD: Die Schaltkreise, Teil 1

Die neun Zentren in der Körpergrafik des Human Design sind durch insgesamt 36 Kanäle miteinander verbunden, durch die die Lebenskraft fließt, geprägt und modifiziert wird. Diese 36 Kanäle werden in drei Schaltkreisgruppen eingeteilt, die aus jeweils zwei Schaltkreisen bestehen. Eine Ausnahme bilden die vier Integrationskanäle, die keiner Schaltkreisgruppe zugeordnet werden. Die Kanäle werden nach den beiden Toren benannt, die sie miteinander verbinden: Kanal 1/8 z.B. verbindet Tor 1 im G-Zentrum mit Tor 8 im Kehlzentrum.

Jedem Element im Human Design ist außerdem ein Schlüsselwort zugeordnet, dass dessen Funktion prägnant umreißt und beim Studium hilft, sich alle Elemente thematisch gut einzuprägen. Auch bei der Deutung ist die Arbeit mit Schlüsselworten äußerst hilfreich. Bevor ich die Schaltkreise vorstelle, hier noch einmal im Überblick die Schlüsselworte für die Zentren, über die ich ja bereits ausführlich geschrieben habe:

  • Wurzelzentrum: Motor & Druckzentrum – existenzieller Druck, Trieb, Stress
  • Sakralzentrum: Motor – Lebenskraft, Energie, Ausdauer, Sexualität
  • Milzzentrum: Wahrnehmungszentrum – Instinkt, Intuition, Geschmack, Gehör, Geruch
  • Solarplexuszentrum: Motor & Wahrnehmungszentrum – Emotionen, Gefühle, Stimmungen, Sehnsüchte
  • Herzzentrum: Motor – Willenskraft, Ego, Selbstwertgefühl
  • G-Zentrum: Kompass – Selbst, Identität, Richtung, Liebe
  • Kehlzentrum: Ausdrucks- & Steuerzentrale – Kommunikation, Manifestation
  • Ajnazentrum: Wahrnehmungszentrum – Denken, Begriffsbildung
  • Kopfzentrum: Druckzentrum – geistiger Druck, Inspiration
Ajna- und Kopfzentrum bilden zusammen den Verstand.

Die drei Schaltkreisgruppen und ihre Schlüsselworte sind
  • die Schaltkreisgruppe des Stammes: gegenseitige Unterstützung
  • die Schaltkreisgruppe des Individuums: Bestärkung anderer
  • die Schaltkreisgruppe des Kollektivs: Teilen
  • Bei den Integrationskanälen geht es um die Selbstbestärkung.

DIE INTEGRATIONSKANÄLE

Für mich ist dies eine Art evolutionärer Pyramide: Ganz unten steht der Einzelkämpfer, das unbewusste ICH, das sich in noch keine Gruppe integriert hat, sondern allein um sein persönliches Überleben kämpft: das Raubtier, der Jäger. Hier regiert der bloße Instinkt: "Fressen und gefressen werden". Die Integrationskanäle kennen noch keinerlei humanitäre Rücksichten: "Jeder ist sich selbst der Nächste." Deshalb geht es hier ausschließlich um Selbstbestärkung. Wer einen definierten Integrationskanal hat, trägt eine stark ausgeprägte Selbstbezogenheit in sich – und genau das ist richtig für diesen Menschen! Natürlich modifizieren die übrigen definierten Kanäle und aktivierten Tore das Ganze noch sehr, aber hier, in den Integrationskanälen, hat der Mensch nicht nur die Veranlagung, sondern auch die Aufgabe, sich ausschließlich um sich selbst und sein Fortkommen zu kümmern. Zu dieser kleinen, archaischen Gruppe gehören die Kanäle
  • 20/10 (Kehle-Selbst) - Erwachen, ein Design der Verpflichtung an höhere Prinzipien
  • 20/34 (Kehle-Sakral) - Charisma, ein Design, wo Gedanken zu Taten werden müssen
  • 10/57 (Selbst-Milz) - Die vollendete Form, ein Design des Überlebens
  • 34/57 (Sakral-Milz) - Macht, ein Design des Archetyps
Interessant an den Integrationskanälen ist, dass sie nur vier Zentren miteinander verbinden. Der Einzelkämpfer hat keine Emotionen, kein Ego und keinen Verstand. Wenn man Ego als Sicherheitsstreben definiert, ist das noch einleuchtend; was ich allerdings nicht ganz verstehe, ist, wo der existenzielle Druck bleibt, der Kampf-, Flucht- oder Totstellreflex (Wurzel), für mich eigentlich der Inbegriff der animalischen Ebene, der diese Integrationskanäle ja zugeordnet werden. Es sei denn, ich habe hier etwas gründlich falsch verstanden. Was ich aber wieder verstehe, ist die einzige Stimme, die der Einzelkämpfer hat, und die sagt schlicht: "Ich bin." (Tor 20 im Kehlzentrum, Die Betrachtung, der Anblick) Außerdem ist dies die einzige Kanalgruppe in der Körpergrafik, die vier Tore gleichzeitig miteinander verbindet, was die Undifferenziertheit symbolisieren könnte, die hier noch herrscht.

DIE SCHALTKREISGRUPPE DES STAMMES

Irgendwann bemerkt der Einzelkämpfer, dass es viel leichter ist, in einer Gruppe zu überleben. Er schließt sich mit anderen zum Stamm (Sippe, Familie, Gemeinschaft) zusammen: das Herdentier, der Sammler. Im Stamm identifiziert sich jeder mit einem noch weitgehend unbewusst gestalteten WIR, nämlich dem Wir seiner Stammesgruppe. Das gemeinsame Interesse des Stammes ist das Überleben der Art und des Ego, das am effektivsten durch den Zusammenschluss in der Herde abgesichert werden kann. Der Stamm steht und fällt mit der gegenseitigen Unterstützung und Hilfe nach dem Motto: "Eine Hand wäscht die andere." "Wie du mir, so ich dir." (oder auch: "Auge um Auge, Zahn um Zahn.") Individualität bedroht grundsätzlich den Erhalt dieses Gemeinwohls und wird deshalb ausgegrenzt oder sogar bekämpft.

Die Schaltkreisgruppe des Stammes besteht aus
- dem Schaltkreis des Ego mit den Kanälen
  • 54/32 (Wurzel-Milz) – Umwandlung, ein Design des Getriebenseins
  • 44/26 (Milz-Herz) – Hingabe, ein Design des Unternehmers und Vermittlers
  • 19/49 (Wurzel-Solarplexus) - Synthese, ein Design der Feinfühligkeit
  • 37/40 (Solarplexus-Herz) - Gemeinschaft, ein Design des Teils, der ein Ganzes sucht
  • 21/45 (Herz-Kehle) - Geld, ein Design des Materialisten
- dem Schaltkreis des Schutzes mit den Kanälen
  • 6/59 (Solarplexus-Sakral) - Paarung, ein Design der Fruchtbarkeit
  • 27/50 (Sakral-Milz) - Erhaltung, ein Design der Pflege

Interessant am Schaltkreis des Stammes ist, dass er kein Selbst und keinen Verstand hat: G-, Ajna- und Kopfzentrum sind nicht mit einbezogen. Und er hat nur einen Kanal, der ins Kehlzentrum einmündet, d.h. der Stamm hat nur eine Artikulations- und Manifestationsmöglichkeit, und die lautet: "Ich habe." (Tor 45 Die Sammlung). Beim Ego dreht sich letztlich alles um den materiellen Besitz, der das Überleben absichern soll, und bei der Erhaltung dreht sich alles um Fortpflanzung und Brutpflege, die der Erhaltung der Art dienen.

© Angela Nowicki, 3. September 2011

Donnerstag, 1. September 2011

Reise an die Grenze des Unbewussten

In der Berglandschaft, in der ich am Ende meiner letzten Seelenreise gelandet war, muss ich mich nur umdrehen, um wieder den Kathedralengang in den Felsen hinein zu betreten. In der großen Halle ist heute eine kreisrunde Öffnung in den Himmel geöffnet, durch die ein heller Lichtstrahl einfällt. Er endet auf dem Boden in einer Art Welle, als sei es ein Wasserstrahl, und diese Welle breitet sich in Ringen über den ganzen Boden aus. Dort wartet schon Hulda, meine Schildkröte, und sagt:
"Du bist gekommen."
Sie weiß, was ich will. Ich suche frühkindliche Erinnerungen, um meinen Glaubenssatz besser auflösen zu können, der mich am Leben hindert.
Hulda kriecht in den Lichtstrahl, wird von ihm ein Stück emporgehoben und erstrahlt in einer Aureole. Sie bietet mir an, mich auf sie zu setzen. Als mir dies schließlich gelingt, werden wir durch den Lichtstrahl nach oben gezogen und aus der Halle hinaus.

Wir stehen in einem Gebirge. Am Himmel taucht ein großer schwarzer Vogel auf, der langsam nach links hinter den Horizont verschwindet. Vor mir öffnet sich ein unendlich tiefer, dunkler Abgrund. Ich bekomme Angst. Muss ich da rein? Ja, das musst du wohl, teilt mir Hulda telepathisch mit. Aber doch nicht etwa springen? Ich versuche es mit Klettern. Das geht eine Weile gut, doch natürlich stürze ich bald ab. Ich falle und falle in Schwindel erregende, bodenlose Tiefen... erst mit dem Gesicht nach unten, dann kehrt sich die Perspektive um, und ich sehe den Felsrand oben in der Unendlichkeit verschwinden, und dann sehe ich nur noch vorbeirasende Felswände vor mir.

Ich lande im Wasser. Tiefes Wasser. Sofort taucht ein Arm aus dem Wasser auf, der einem Ungeheuer zu gehören scheint: schuppig mit einer klauenartigen Hand und langen, spitzen Fingernägeln. Die Hand bewegt sich auf mich zu.
"Muss ich jetzt wirklich da runter?" frage ich Hulda ängstlich.
Natürlich, gibt mir Hulda zu verstehen. Wenn du Angst hast, lassen wir’s.
Nein, ich will es nicht lassen. Ich tauche.

Lange schwimme ich unter Wasser umher, durch Felsspalten hindurch und an Öffnungen vorbei. Auf einmal hänge ich mit dem Gesicht vor einer wolkenähnlichen Schicht fest. Darunter ist es dunkel, darüber heller Raum. Ich erinnere mich an die Wolken der letzten Reise:
"Das sind Träume, oder?"
Nein, hier gibt es keine Träume. Das ist die Grenzschicht deines Unbewussten, die es vom Vorbewussten trennt.
So dünn ist die? Ich staune ein bisschen.
Wollen wir mal sehen, was aufsteigen will?
Ganz langsam, in Zeitlupe, tauchen nacheinander verschiedene Gebilde aus dem Unbewussten auf. Das heißt, im Unbewussten sehe ich sie noch gar nicht; ich nehme sie erst wahr, wenn sie die Wolkenschicht nach oben ausbeulen, sich dann ablösen und im helleren Raum nach oben steigen.
Und dann fängt es an.

Zuerst sehe ich eine Glaskugel, in der ein Kleinkind auf dem Boden krabbelt. Ich erkenne mich selbst. Ich sehe es ganz deutlich: den Strampler, die blonden Haare, das neugierige Gesicht, die auf etwas ungeheuer Interessantes fixierten Augen. Es krabbelt irgendetwas hinterher.
Dann tauchen nacheinander mehrere Hände auf – Hände von Frauen, Männern, Kleinkindern.
Von einer Frauenhand gleitet der Bildausschnitt zur Hals- und Brustpartie einer Frau. An dem spitzen Ausschnitt und dem rechteckigen hellen Kragen erkenne ich meine Mutter als junge Frau. Sie entblößt ihr Dekolleté, und ich suche ihre Brüste, aber es sind keine da, höchstens ein paar degenerierte Ansätze.
Dann sehe ich eine Männerhand auf einer geöffneten Zeitung. Ich spüre die Atmosphäre unserer Wohnung, in der ich meine ersten vier Lebensjahre verbrachte.
Ich sehe auch Säuglinge auf Wickeltischen oder in Kinderbettchen, mal einzeln, mal in einer langen Reihe. Alle sind mit einer quadratischen, hellen Decke zugedeckt.
Als Nächstes taucht eine große dunkle Masse aus den Wolken auf. Es ist eine Menschenmenge, zig Gesichter im Halbkreis. Ich weiß, dass das meine Ahnen sind. Aus der Menge löst sich eine große, schlanke Männergestalt, sehr aufrecht und prinzipienfest. Ich erwarte, meinen Großvater zu sehen, doch ich erkenne den Mann nicht.

"Hulda? Bist du da?"
Ich bekomme Angst, ohne Krafttier hier stecken geblieben zu sein.
Gemächlich materialisiert sich die Gestalt einer Schildkröte im Raum des Vorbewussten.

Nachdem lange Zeit nichts Erkennbares mehr passiert ist, öffnet sich weiter oben im Vorbewussten ein rechteckiges Fensterchen. Ich stehe schräg davor, so dass ich nicht direkt hineinblicken kann. Am geöffneten Türchen vorbei sehe ich, dass im Inneren ein helles Feuer lodert.
"Geh dort nicht rein!" höre ich Huldas warnende Stimme.
Trotzdem wage ich einen Blick, darauf bedacht, dem Fenster nicht zu nahe zu kommen. Mitten im Feuer entsteht ein ganz scharfes Bild eines mit einer quadratischen, hellen Decke zugedeckten Säuglings auf dem Wickeltisch, der in dem Moment, in dem er ganz deutlich Gestalt angenommen hat, in einer Aureole nach unten gezogen wird.
Nein, er fällt nicht, und, nein, er schwebt auch nicht. Es ist, als würde er von etwas nach unten angesogen, und er verschwindet im Nichts.

Ich will zurück, das reicht für heute. Ich schwimme zurück und tauche auf. Wie soll ich denn jetzt wieder aus dem Abgrund nach oben kommen? Klettern?
Natürlich: Es öffnet sich der Himmel und schickt ein Lichtseil nach unten. Zusammen mit Hulda werde ich langsam nach oben gezogen. Langsam? Ich habe das Gefühl, regelrecht gerissen zu werden, doch ich lange ewig nicht oben an. Und als ich glaube, oben zu sein, sehe ich den Abgrund nicht mehr, jedenfalls nicht von oben, sondern mir ist, als werde ich immer noch drin hochgezogen.
Endlich jedoch werde ich auf Hulda durch den Lichtstrahl wieder in die große Felshalle hinab gelassen. Ich will mich gerade von der Reise etwas erholen und noch ein paar Worte mit Hulda sprechen, da fängt mein blöder Wecker an zu piepsen...

Ich muss mich in größter Eile von Hulda verabschieden, kopflos nach draußen stürmen, und dann öffne ich schon die Augen und klopfe mich hastig ab, ohne mich vergewissert zu haben, wo ich gelandet bin, nur um das Funkvieh endlich auszuschalten.

© Angela Nowicki, 4. Juli 2010