Montag, 5. September 2011

Unser Prominenter Junge (Teil 2)


Doch das ist nun vorbei. Nach so vielen Jahren der Demütigung ist endlich auch Irenes Tag gekommen. Ihr Deckel hat sie gefunden. Den kann Marmara gern "raiiizend" finden, wie sie will. Es ist ihr Deckel! Ein leiser Zweifel, wie der Biss einer Kakerlake, durchzuckt Irene. Passt dieser Deckel denn wirklich zu ihr? Irgendwie will es ihr nicht recht gelingen, sich und Ihn als Paar vorzustellen. Was werden die anderen sagen? "So ein ungleiches Paar, das ist doch lächerlich! Was findet Er nur an ihr? Ach was, das ist sicher nichts weiter als einer Seiner exzentrischen Scherze. Er wird sie bald fallen lassen wie eine angefaulte Kartoffel. Ja, Marmara und Er, das wäre ein schönes Paar!..." Gequält stöhnt Irene auf. Das muss ein ganzes Kakerlakennest sein! Sie kneift sich mit voller Kraft in den Unterarm und schlägt die Falltür über den verbrecherischen Gedanken zu. Ein paar Hofschranzen haben sich auf ihren Schmerzenslaut hin umgedreht und starren sie an. In ihrem Gesicht klappt ein hölzernes Lächeln auf. Unser Prominenter Junge sieht es und streckt strahlend die Arme nach ihr aus:
"Ah, da ist ja meine spezielle Freundin! Komm her, lass dich umarmen!"
Und die spezielle Freundin macht, gar nicht mehr hölzern, ihre Aufwartung.

Später gibt es eine Privataudienz, ganz allein für Irene. Nun gut, eigentlich war es ihr Vorschlag, aber das spielt keine Rolle. Sie hat ein Geschenk für Ihn, ein ganz besonderes, ausgesucht mit größter Sorgfalt. Nicht, dass es dessen bedurft hätte – das hätte ja ausgesehen, als wolle sie Ihn kaufen. Du lieber Himmel, nein, Liebe lässt sich nicht kaufen. Er weiß, was Er ihr schuldig ist. Nennen wir es also ein Geschenk aus Liebe.
Überrascht nimmt Unser Prominenter Junge den Gutschein entgegen. Sein immer noch hübsches Gesicht (Hübscher denn je! denkt Irene), in dem die Augen vielleicht ein wenig zu sehr glitzern (aber das gefällt Irene ja so) strahlt in aufrichtiger Freude über die bevorstehende Wellnessgymnastik zu zweit. Irene schwebt darüber wie ein Heliumballon. Genauso hat sie es sich vorgestellt. Deshalb kann sie gar nicht anders, als einfach loszuplappern, noch bevor Er Sein "Aber das war doch nicht nötig" zu Ende gesprochen hat, und ihm die ganze Geschichte zu erzählen, wie sie den Gutschein zusammengestellt hat (sorgfältig!), wie ihr Besuch im Verlag verlaufen ist (ihrem Verlag! In ihrer Schussfahrt fällt ihr gar nicht auf, dass er dieses Besitzwort entweder überhört oder aber nicht für wert befunden hat, darauf zu reagieren – andererseits: Hätte er eine Chance dazu gehabt? Hätte er nicht.), wie ihr merkwürdiger Schlagabtausch mit der Lektorin verlaufen ist, Wort für Wort, bühnenreif wiedergegeben, so dass es sogar Unserem Prominenten Jungen ein amüsiertes Kichern entlockt, wie sie den Gutschein bestellt hat, wohl wissend, was sie wollte. Nur ihre Hausfrauenentschuldigung streicht sie aus dem Drehbuch, das war zu peinlich.
Unser Prominenter Junge weiß, was sich gehört. Er ist ganz Ohr, zeigt sich gespannt, zeigt sich interessiert, blinzelt schelmisch an den lustigeren Stellen, schmettert ein bewunderndes "Donnerwetter!" an den heroischen und schüttelt Irene zum Schluss überschwänglich beide Hände: "Das ist ja unglaublich interessant! Wirklich sehr lehrreich für mich! Ich bin dir überaus dankbar, Irene! Du bist eine tolle Frau!" und zwinkert verschwörerisch. Und dann umarmt er den ganzen Heliumballon, der endlich im Rausch des Triumphes aus dem Zimmer schwebt. Sie hat es immer gewusst: Er weiß nicht nur, was Er ihr schuldig ist, Er liebt sie! Ja, Er liebt sie!
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und alle je gewesenen und werdenden Zeiten begegnen sich für einen halben Tag in einem Punkt. Einen halben Tag lang weiß Irene, was Leben ist. Irgendwann landet der Heliumballon zwar wieder, und sie entdeckt mit leichter Beunruhigung die nächste Kakerlake in Beißstellung: Unser Prominenter Junge hat kein Wort darüber verloren, wann sie denn gemeinsam zur Wellnessgymnastik gehen wollen. Kurzentschlossen erschlägt Irene das Ungeziefer. Den schmierigen, braunen Fleck wäscht sie sofort ab. Er war einfach zu überwältigt, da denkt man nicht an Termine.

Am nächsten Tag hat die Welt doch noch etwas von ihrem berühmten Gast. Das Fernsehen ist da. Der Star nach acht Jahren zum ersten Mal wieder in seiner Heimat, das bringt Einschaltquoten. Irene fragt sich, wer den Fernsehsender eingeladen haben könnte. Unser Prominenter Junge selbst? Verfolgt er damit etwa eine bestimmte Absicht? Ihr ganzer Körper steht unter Strom, als sie in den Salon geht, wo die Fernsehleute ihr Equipment aufgebaut haben. Angst sitzt im Steißbein, das weiß sie schon lange. Aber sitzt dort auch Vorfreude? Sind Angst und Vorfreude etwa dasselbe? Unser Prominenter Junge könnte vielleicht etwas darüber sagen, wer würde sich mit Lampenfieber besser auskennen als er? Vorläufig warten sie auf ihn. Irene fällt auf, dass Marmara auch noch nicht da ist. Sie erinnert sich, sie in den letzten Stunden nirgendwo gesehen zu haben. Ihre Seele hat sich im Steißbein versammelt.
Zuerst huscht Marmara in den Salon und hockt sich auf ein Sitzkissen neben dem Diwan, der für den hohen Gast reserviert ist. Wenige Sekunden später erscheint Er selbst. Alle hören mit hochroten Ohren und unterdrücktem, aufgeregtem Lachen noch einmal die ganze Geschichte wie zum ersten Mal: Wie er schon immer wusste, dass er einmal ein Star sein wird. Wie er Schule, Freunde und Vergnügen vernachlässigt habe, um sich ganz seiner Berufung zu widmen. (Hier übertreibt er, denkt Irene. Sie hat ein gutes Gedächtnis.) Wie er sein Heim und seine Mitbewohner verließ, um die Welt zu erobern. Wie er die ersten Rückschläge und Enttäuschungen erlitt – nicht viele natürlich! (Irene weiß es besser. Sie hat wirklich ein gutes Gedächtnis.)
An dieser Stelle fragt der Reporter, ob es jemanden gab, der ihn in diesen schweren Stunden unterstützt habe. Irene horcht auf. Oh ja, es gab immer Menschen, die an ihn geglaubt haben, von seiner Mission überzeugt waren. Irene hat auf einmal ein taubes Gefühl im Steißbein. Allen voran die schöne Marmara – Er winkt, Marmara setzt sich neben Ihn, Er legt Seinen linken Arm um sie. Eiskalt. Lähmung ist eiskalt, erfährt Irene. Als habe ihr jemand mit Hochdruck Eiswürfel in den Blutkreislauf gepresst. Kein Gefühl, ihr Steißbein spürt sie gar nicht mehr. Ein Raunen geht durch den Salon: Ist sie nicht wunderschön? Und sie hat...? Oder unsere treue Seele Irene – Er winkt, Irene stakt, ohne zu wissen wie, zum Diwan, fällt eckig neben Ihm nieder, während sie an nichts anderes denkt, als dass ihre vereisten Beine brechen könnten. Er legt Seinen rechten Arm um sie. Jemand – Irene hört alles nur noch wie aus weiter Ferne und versteht es nicht – fragt, ob es eine Frau in Seinem Leben gebe. Wenn er darauf geantwortet hat, hat Irene nichts gehört, sie sieht ihn ja nicht, sie versteht ja nichts, sie denkt immer nur: ‚Abgelehnt. Aussortiert.‘ Das ist der wahre Rhythmus ihres Herzens: Abgelehnt. Aussortiert. Abgelehnt. Aussortiert...

Es ist alles so schnell gegangen. Jetzt sind die Fernsehfritzen wieder fort, und Irene findet sich in ihrem Zimmer auf dem Boden wieder. Was war das? Moment... Da war dieses metallische Ziehen im Steißbein... Und dann saß Marmara neben Unserem Prominenten Jungen. Neben ihrem Prominenten Jungen, ihrem, Irenes! ‚Meiner!‘ denkt Irene kreischend. Aber ihre Gedanken laufen endlich wieder. Sie hatten sich nur verhakt. ‚Mein gott‘, denkt es wieder in normalem Tonfall, ‚was für ein aufruhr! Du bist ja hysterisch, mädel. Dann saß sie eben neben ihm, soll sie doch, sie gehört doch zum hausstaat. Sie saß doch nicht allein dort, du hast ja an seiner anderen seite geklebt, und er hat auch um dich seinen arm gelegt. Oder?‘ Ja, nur... Soll sie sitzen, darum geht es gar nicht, da war aber noch etwas anderes. ‚Und was?‘
Da war, dass Marmara eine Verräterin ist! Er hat sie zu sich gerufen, als Er gefragt wurde, wer Ihm beigestanden habe. Das heißt, auch sie hat offenbar all die Jahre Kontakt zu Ihm gehabt, und damit nicht genug, auch sie hat Ihm offenbar all die Jahre geholfen! War seine Mutter, Freundin und Ratgeberin? Und jetzt... Nein, das kann nicht sein! Er hat Marmara mir gegenüber nie erwähnt! Und auch Marmara hat mir nie etwas gesagt! Das kann einfach nicht sein! Und Er hat sie als Erste gerufen! Das kann doch nur heißen, dass sie noch mehr für Ihn getan hat als ich. Oder? Dass Er weiß, was Er ihr schuldig ist, nicht mir. Oder? Nein, nein, nein, so nicht, das ergibt keinen Sinn, ich bin doch nicht blöd, ich weiß doch, was ich spüre, das ist doch keine Einbildung, nein, nein, das hat alles eine ganz logische Erklärung. Logik ist meine Stärke.
‚Dann lass mal hören.‘
Wie ist das bei der Siegerehrung? Es geht von unten nach oben. Ha! Zuerst wird die Bronzemedaille verliehen, dann Silber und ganz zum Schluss erst Gold, das oberste Siegertreppchen, damit der Sieger den ungeteilten Applaus genießen kann. Mich hat er zuletzt genannt, weil ich die Erste bin. Logisch, oder?
Ihr Verstand verzieht die Lippen zu einem ironischen Grinsen: ‚Und? Hast du den ungeteilten Applaus genossen? Aber egal. Ist trotzdem logisch. Doch logik kann absolut fehlerfrei und dennoch falsch sein.‘
Das stammt nicht von dir.
Irene hat auf einmal das Gefühl, als seien ihr die Kakerlaken ins Hirn gekrochen.
‚Nein, haben wir irgendwo gelesen. Ist aber gut. Hast du denn gehört, was er gesagt hat, während ihr beide da schmachtend in seinen armen hingt?‘
"Er" und "Seinen"! Das wird groß geschrieben!
‚Du weißt, dass ich von großschreibung nichts halte. Also, hast du was gehört?‘
Ach, ich war doch so weggetreten. Der Schreck saß mir doch in allen Gliedern. Eiskalt übrigens, wusstest du, dass Schreck ein Sack Eiswürfel ist und Lähmung verursacht? ‚Tut er das? Du hast also nichts gehört. Ich allerdings schon. Willst du wissen...‘
"Ich sollte ein Bad nehmen. Ich bin noch ganz ausgekühlt. Jawohl, ich nehme jetzt ein Bad!" Resolut steht Irene auf, lässt ihren ironisch grinsenden Kakerlakenverstand links liegen und geht ins Badezimmer.

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