Donnerstag, 29. September 2011

Es wird Gras drüber wachsen...

So viele Jahre hatten sie um ihre Liebe gekämpft. So viele Jahre, in denen ihre Körper hässlich und grau geworden waren und ihre Seelen müde. Was hielt sie noch zusammen?
Bequemlichkeit, dachte sie, ich bin für ihn doch nicht mehr als ein Möbelstück, unter das er seinen Dreck kehren kann. Wenn es plötzlich fehlte, würde sein eigener Dreck ihn ersticken.
Angst, dachte er, sie ist so hässlich geworden, dass kein Mann sich mehr für sie interessiert. Sie hat Angst, allein zu bleiben.
Nein, sie waren sich nicht fremd geworden, sondern zu vertraut. Die Zeit hatte sie gleich gemacht und ausgewaschen wie Strandgut. Ihre Körper hatten sich so sehr angeglichen, dass Fremde sie für Geschwister hielten. Wenn Geschwister gemeinsam alt werden, gleichen sie irgendwann geschlechtslosen, seltsam unmenschlichen Zwillingen.
Hin und wieder ertappte sie sich bei einem Gedanken, der ihr bei genauerem Hinsehen fremd erschien. Dann zog sie es vor, nicht so genau hinzusehen. Sie sprachen dieselbe Sprache, verwendeten dieselben Wendungen, regten sich über dieselben Ungerechtigkeiten auf, lachten über dieselben Witze und fuhren jedes Jahr gemeinsam in den Urlaub, immer an denselben Ort, den sie angeblich beide liebten. Wenn sie nach der Arbeit nach Hause kamen, kochten sie gemeinsam, setzten sich gemeinsam zu Tisch und erzählten sich beim Essen, was sie den Tag über erlebt hatten, immer in derselben Reihenfolge – einen Tag zuerst er, dann sie, am zweiten Tag andersherum, damit keiner sich benachteiligt fühle. Und wenn alles gesagt war, sahen sie fern, um zu vermeiden, dass jeder sich in seinem eigenen Schweigen verirrte.
Wie ihre Seelen, erkannten ihre Körper einander, weil sie identitätslos und damit identisch waren. Sie hatten schon fünf Jahre nicht mehr miteinander geschlafen. Manchmal starteten sie einen halbherzigen Versuch, bei dem am Ende dann doch wieder einer von ihnen einen Pornofilm einschalten musste.

"Wusstest du, dass es ein Tantra-Hotel gibt?" fragte sie ihn eines Tages, als er gerade den Fernseher einschalten wollte.
"Ach? Hat das was mit Sex zu tun?"
Doch das Bild hatte sich eingenistet.
"Was würden wir in diesem Hotel jetzt machen?" fragte er scherzhaft, als sich im Bett gerade jeder auf seine Seite drehen wollte, und sie wusste sofort, dass er nicht scherzte.
"Ich weiß nicht...", entgegnete sie matt. "Kann Sex eine eingeschlafene Beziehung retten?"
"Einen Versuch wäre es wert", murmelte er unsicher.

Eine Woche später hatten sie ihre Buchung. Es war ein letzter verzweifelter Rettungsversuch, der bereits jetzt Wunder gewirkt hatte. Sie hatten sich an ihre alten Freunde erinnert, hatten nach vielen Jahren wieder einen gemeinsamen Abend mit dem Ehepaar verbracht. Dieser Abend war für beide wie ein starker Windstoß gewesen, der eine lange nicht mehr benutzte Tür aufgestoßen hatte. Sie hatten herumgealbert, hatten beide verblüfft aus den Augenwinkeln das von neuer Lebenslust gerötete Gesicht des jeweils anderen wahrgenommen. Er hatte zum ersten Mal in seinem ganzen Leben mit ihr getanzt, und sie hatte am Ende sogar einen kleinen Schwips gehabt.
Eigentlich waren sie nicht sehr überrascht gewesen, als das befreundete Paar ebenfalls Interesse an dem Tantra-Hotel bekundet hatte. Am Ende dieses Abends beschlossen sie, den Versuch zu viert zu starten. Vielleicht sah er ja doch mehr in ihr als ein Möbelstück? Vielleicht war sie ja doch noch auf eine Weise attraktiv für andere Männer, die er gar nicht mehr wahrnahm?

Das Hotel lag am Rand eines weitläufigen Landschaftsparks, der auch einen chinesischen Garten beherbergte. Seine Gestaltung und Einrichtung sprach alle Sinne an. Es gab in pastellenen Tönen gehaltene, verspielte Sitzecken, in denen es nach frischem Gras und Maiglöckchen duftete und zartes Glockenspiel die leichte Luft durchperlte. Es gab leuchtend bunte, mit Rosenblättern ausgestreute Säle, die nach sonnenerhitztem Sand und Meer rochen und in denen man Flamenco erlernen oder sich zu mit Möwengeschrei unterlegtem Sirtaki in kollektiv schwitzenden Rausch tanzen konnte. Es gab Veranden in Goldgelb, Braun und Violett mit dem Duft nach Kastanien und Kartoffelfeuern, in denen man melancholische Folksongs oder gefasst-heitere Gitarrenstücke von Dowland und Purcell hören und auf Wunsch auch selbst erlernen konnte. Es gab dunkle Grotten, in denen nur vereinzelte Fackeln Licht spendeten, wo der Tango in Rot und Schwarz stöhnte und die Luft geschwängert war von Moschus und Patchouli.
Es gab so viel...
Es gab auch Anleitung, Seminare, Yoga-Stunden, psychologische Paar- und Gruppenberatungen, und beide Paare fanden, das Geld sei wirklich gut angelegt. Schon am dritten Tag bekamen sie tatsächlich wieder Lust aufeinander, ihre Körper entdeckten die Freude am Unterschied wieder, und nach einer Woche war der Sex fast so erfüllend wie vor vielen, vielen Jahren.

In der zweiten Woche war es immer noch schön. Da saßen beide Paare in der Lounge beim Essen, schwatzten und lachten. Bis sie etwas erzählen wollte, etwas, was ihr sehr am Herzen lag. Kaum hatte sie die ersten Worte ausgesprochen, stieß das Ehepaar einen freudigen Überraschungsruf aus und wandte sich mehreren Leuten zu, die gerade hereingekommen waren. Sie kannte diese Leute nicht und fand es unhöflich, dass sie sie einfach ignorierten wegen ein paar Leuten, die mit ihnen nichts zu tun hatten. Immerhin waren sie extra zu viert in dieses Hotel gekommen, um sich nur miteinander zu beschäftigen.
Ärgerlich wandte sie mich ab und wartete. Doch auch er hatte sich ihnen angeschlossen, und die Unterhaltung und das Gelächter dort drüben wollten nicht enden.

Da erinnerte sie sich.

Es war immer so gewesen. Von Anfang an. Er hatte sie nur wahrgenommen, wenn sie allein waren, und auf einmal wusste sie wieder, warum sie sich nach und nach von allen Freunden, aus jedem gesellschaftlichen Leben, von ihren Familien zurückgezogen hatten. Aber auch dann hatte er nicht sie gesehen, nicht Ludmila, sondern "seine Frau", die zufällig Ludmila hieß, und auch das wusste sie nun wieder: Sie hatte ihm gleich werden müssen, hatte er werden müssen, seine weibliche und später neutrale Kopie, um überhaupt mit ihm zusammen leben zu können. Sie hatte es so nicht gewollt, doch es hatte für sie nur die Alternative gegeben: Er oder die Welt. Und sie hatte ihn geliebt.
Sie wunderte sich etwas, dass, anders als Liebe, Schmerzen nicht verblassen. Es tat so weh, als habe es nie aufgehört, weh zu tun. Ausgeschlossen. Übersehen. Ignoriert. Missachtet.
Incommunicado.
Noch einmal versuchte sie, ihn auf sich aufmerksam zu machen, doch er wimmelte sie gereizt ab wie eine Fliege.

Sie verließ das Hotel und lief über den Bushalteplatz. Das Wetter war dunkel und stürmisch, der Wind jagte ihr winzige Eisnadeln ins Gesicht. Das tat gut. Es war eine Bewegung, eine, die über die elf Schritte vom Badezimmer zum Bett hinaus ging, aus dem Ungewussten ins Ungewisse. Sie hatte sich nur den Kopf durchlüften wollen und fand sich doch auf einmal vor dem Busfahrplan wieder. In der Ferne hörte sie die Fetzen einer Melodie. Sie horchte auf. Sie kannte den Text.

Everyone is going through changes
No one knows what’s going on
Everybody changes places
But the world still carries on

Love must always change to sorrow
And everyone must play the game
It’s here today and gone tomorrow
But the world goes on the same*)

Zusammen mit dem Kopf hatte der Sturm auch ihr Herz frei gefegt. Zum ersten Mal nach so vielen Jahren waren ihre Gefühle vollkommen klar, und sie wusste, was sie zu tun hatte.
Es gab zwei Buslinien, mit denen sie hätte fahren können, aber leider war es zu spät. Heute fuhr kein Bus mehr nach Hause. Die anderen hatten gar nicht bemerkt, dass sie verschwunden war. Sie ging zu ihm und sagte still: "Fahr mich bitte nach Hause. Du kannst dann wieder zu deinen Freunden zurückkommen."
Zu ihrer Überraschung folgte er ihr wirklich wortlos zum Auto. Unterwegs, als sie an den schlafenden Bussen vorbei liefen, sprach sie:
"Ich bin sehr, sehr müde. Ich bin des Lebens müde und möchte sterben, aber ich werde mich nicht umbringen. Ich werde schon irgendwann von selbst sterben. Und ich werde dich sofort verlassen. Ich gehe ohne dich weit fort. Das ist kein Racheakt, das geht einfach nicht mehr anders. Ich kann nicht mehr bei dir bleiben, wir lieben uns nicht mehr."
Ihre Stimme war leise und monoton und klang wirklich erschöpft.

Wieder erlebte sie eine Überraschung. Anstatt ihr eine Szene zu machen, blieb er zunächst ganz still. Dann, im Auto, sagte er unter Tränen, während immer dichteres Gras um ihn spross:
"Ich wäre so gern bei dir geblieben. Ich liebe dich immer noch, nur manchmal..."
Was er nur manchmal tun musste, verstand sie nicht mehr durch das hohe, dichte Gras, in dem er versunken war, und durch ihre und seine Tränen.



*) Alan Price, Changes, aus dem Film O Lucky Man

© Angela Nowicki, 16. September 2010

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