Samstag, 17. März 2012

Sisyphos

Wir alle sind Gefangene der Zeit.

Dieses idiotische Riesenbaby lauert uns am Tor des Großen Gartens auf, um jeden, der so leichtsinnig war, sich bis an die Grenzen der Ewigkeit vorzuwagen, einzufangen und unter triumphalem Gelächter zu den ungezählten anderen Figuren auf seiner Spielwiese zu schleppen.

Dort lässt uns der senile Tyrann in Reih und Glied antreten, heißt uns salutieren, essen, schlafen und kopulieren, heißt uns bis zum Umfallen Steine klopfen und daraus immer höhere Häuser bauen, die er, kaum dass sie stehen, hohnlachend mit einem Handstreich wieder zum Einstürzen bringt. Er lässt uns lieben und hassen, schaffen und vernichten, hinter bunten Fähnchen hermarschieren und uns gegenseitig die Köpfe einschlagen, bis er, atemlos vom hysterischen Kichern, den Schluckauf bekommt, dann wird er für gewöhnlich sentimental und räumt schon mal ein paar allzu hässliche Scherbenhaufen und ein paar gar zu verstümmelte Leichen vom Schlachtfeld, derweil wir, blicklos vor Scham, hastig unsere Wunden lecken und dankbar jedes Stück Vergessen an uns reißen, das er uns gleichgültig hinwirft. Wir vergessen gern und gründlich, denn wir ahnen, dass dies die am wenigsten schmerzhafte Möglichkeit ist, uns in unserem Kerker eine vage Illusion von Freiheit und Komfort zu erhalten. Und welcher Diktator ließe sich nicht am liebsten als der Einzig Wahre Wohltäter seiner gepeinigten, aber gehorsamen Untertanen feiern?

Und eigentlich wollen diese Sklavenseelen ja auch gar nicht wirklich frei sein. Was hieße Freiheit anderes, als sich selbst beherrschen zu müssen? Der alte Nietzsche bewahre uns vor dieser Anmaßung! Beware of the Jabberwocky, my son!

Um wie viel zufriedener könnten wir doch leben, wenn wir endlich auch diese verlogene Pose des Rebellen aufgäben und einfach nur das täten, was wir in Wahrheit wollen: uns beherrschen lassen. Die Unbelehrbaren mögen die Religionen und jede andere Art von Gläubigkeit verachten - es ist immer noch die ehrlichere Weise, sich dem Leben zu stellen, als all ihr lächerlicher Hochmut. Wer alle Herren dieser und jener Welt missachtet, bleibt dennoch bis an sein Ende ein Sklave der Zeit. Und die lässt sich nicht ungestraft missachten.

Dennoch gibt es unter uns immer wieder solche Narren, die wider bessere Vernunft glauben, nur sich selbst gehorchen zu müssen. Sie quälen sich Jahre, manchmal ein ganzes Leben lang damit ab, immer neue, immer besser Fluchtwege aus Alcatraz zu finden. Sie scheuern sich die Finger blutig am Mörtel der Zeit, sie schlagen sich die Köpfe wund an den Gittern, sie entwerfen abenteuerliche Pläne, um ihren Wärter zu überlisten, und alles, was sie damit erreichen, sind nur immer grausamere Foltern nach jedem weiteren Fluchtversuch.

Würden sie nur vergessen wollen - ihr Leiden könnte ein Ende haben! Aber sie verschmähen die zynische Mildtätigkeit, sie laufen Amok gegen das Unausweichliche, denn sie wissen: Vergessen bedeutet Tod, verloren für die Ewigkeit!

Lieber zermartern sie sich Nerven und Hirn, die ehernen Gesetze der Zeit zu ergründen, denn sie glauben, die Zeit einmal mit ihren eigenen Gesetzen überlisten zu können. Sie streben danach, sich die Zeit gefügig zu machen. Sie wollen die Zeit beherrschen. Sie setzen so viel Vertrauen in ihre eigene Intelligenz, diese Toren, doch ihre Augen sind blind für die einfache Wahrheit: Die Zeit selbst ist das höchste Gesetz.

Kein verzweifeltes Aufbäumen, kein noch so klug durchdachter Plan der Gefangenen kann ihr etwas anhaben. Wer sich ihr widersetzt, wird dafür bezahlen. Und ist es denn so schlimm, was sie von uns verlangt: wieder und wieder aufzubauen, damit sie wieder und wieder zerstören kann? Den Stein den Berg hinauf zu schleppen, damit sie ihn jauchzend wieder hinunter rollen kann? Worüber sind wir so erbittert? Wer sagt, dass der Stein auf den Gipfel gehört?

Es ist ein Spiel! Also seid keine Spielverderber und lauft wieder hinunter, damit der Stein rollen kann!

Ah! Euch genügt das nicht! Ihr meint, das Leben müsse, wenn schon keinen Sinn, so doch ein Ziel haben? Ihr giert nach Dauer, nach Beständigkeit, nach Unsterblichkeit gar? Nun, so müht euch doch, den Stein festzuhalten! Ihr, die ihr in zwei Welten lebt: du verhinderter Philosoph mit einem Haushalt, einer Frau und drei Kindern! du potenzieller Landschaftsarchitekt, den die Geldsorgen ans Fließband fesseln! und du, verkannter Maler, mit dem unstillbaren Verlangen nach Geselligkeit und Schnaps - wenn ihr es nicht ertragen könnt, Verlierer zu sein, dann hört zunächst einmal auf, euch selbst zu bemitleiden! Es wird niemandem je einfallen zu zählen, wie viel Schritte ihr getan, wie viele Gedanken ihr gedacht, wie viel Kraft ihr aufgewendet habt. Was zählt - wenn denn überhaupt etwas zählt -, sind vollendete Werke und nicht die Zahl der Leichen, auf denen sie errichtet wurden.

Seid ihr bereit, zu morden für euer so hoch gepriesenes Ziel? Bereit, Liebe und Familie, Bequemlichkeit und Wohlstand, Lust und Zerstreuung hinzugeben für diese eine törichte Leidenschaft?

Nein, weicht nicht aus! Erzählt uns nicht, es sei alles nur eine Frage der Organisation (oder der sozialen Gerechtigkeit) - denn es ist eine Frage der Zeit! Eine Zeitlang mag euch das Organisieren gelingen, ihr meint, Zeit zu gewinnen - aber die nächste kleine Schwäche - eine verzeihliche Nachlässigkeit nur - und schon rollt der Stein wieder, das Spiel geht weiter, the show must go on.

Es hatte nie aufgehört. Ihr hattet nicht einmal den Schatten einer Chance.

Nein, lasst diese wichtigtuerische Geschäftigkeit! Sie passt nicht zu euch, und sie führt nur umso sicherer in die tödliche Falle. Der einzige Weg in die Freiheit führt durch den Verzicht, die totale Verweigerung: Weigert euch konsequent, die Spielregeln einzuhalten, und versucht, euer eigenes Spiel zu spielen!

Zittert ihr nicht vor diesem Anspruch? Seid ihr tatsächlich fest entschlossen, die Hälfte eures Lebens zu opfern für die zweifelhafte Aussicht auf den Eintritt ins "Reich der Unsterblichen"? Wie groß wird eure Verzweiflung erst sein, wenn ihr erkennen müsst, dass das Opfer wertlos war, weil ihr mittelmäßiger seid, als euer Ehrgeiz wahrhaben wollte?

Vielleicht geraten euch ja eure Kinder besser als eure Bücher, werden eure bescheidenen Ersparnisse immer noch ansehnlicher sein als die von euch angelegten Gärten, wird eure Lebenslust mehr bewegen als eure Bilder? Ein halbes Leben habt ihr weggeworfen, um schließlich mitansehen zu müssen, wie euch die andere Hälfte von selbst durch die Finger rinnt. Die Zeit ist darüber hinweg gegangen.

Was ihr auch tut, woran ihr eure Hoffnung auch hängt - es gibt keinen verlässlichen Weg ans andere Ufer. Viele schon haben versucht, mit ihrer Kunst, ihrer Weisheit oder auch ihrer Liebe die rettende Brücke nach drüben zu schlagen.

Und viele werden es versuchen.

© Angela Nowicki, 1983