Freitag, 22. November 2013

Quatsch mit Soße


"Der Weg des Künstlers" von Julia Cameron, erschienen 1996 bei Knaur. Ich empfehle dieses Buch allen, die sich danach sehnen, schöpferisch zu sein, Kunst zu schaffen, Künstler zu sein, ob sie es nun sind oder nicht. Sie sind es nicht, weil... sie gerade eine schöpferische Blockade haben... an ihren Talenten zweifeln... nicht glauben, dass sie als Künstler glücklich oder erfolgreich sein könnten... im Alltagsmist ersaufen, so dass sie keine Zeit oder keine Energie oder beides mehr finden, um sich der Verwirklichung ihres Traums zu widmen... der Verhinderungen gibt es so viele, und es ist durchaus ein Irrtum zu glauben, eine innere Berufung finde von allein und unter allen Umständen ihren Weg. Ihr diesen Weg zu bahnen, hat Frau Cameron diesen zwölfwöchigen Kurs entwickelt. Wer sich ihm ernsthaft widmet - ob allein oder in der Gruppe -, wird schon bald feststellen, dass sein inneres Kind erwacht und spielen, spielen, spielen will. Kunst ist Spiel, und Spiel ist der Humus der Kunst.

Nun bin ich gestern bei meinen Wochenaufgaben stecken geblieben. Woche 2, Aufgabe 7, der "Lebenskuchen". Ich zitiere:
Zeichnen Sie einen Kreis. Teilen Sie ihn in sechs Kuchenstücke ein. Bezeichnen Sie ein Stück mit Spiritualität, ein weiteres mit Übung, ein drittes mit Spiel und fahren Sie mit Arbeit, Freunde und Romantik/Abenteuer fort.
Tragen Sie so viele Punkte in jedes Stück ein, wie in dem entsprechenden Bereich in Ihrem Leben Erfüllung finden (am äußeren Rand bedeutet er große Erfüllung, im inneren Kreis weniger große Erfüllung). Verbinden Sie die Punkte miteinander. Das wird Ihnen zeigen, wo Ihr Schwerpunkt liegt.
Wie jetzt? "So viele Punkte, wie in dem entsprechenden Bereich Erfüllung finden" - also in jeden Bereich mehrere Punkte - sagen wir: Arbeit findet 70 Prozent Erfüllung, trage ich ins Arbeitsstück also... wie viel? na gut, von mir aus sieben Punkte ein. Ja? - Nein. Denn da steht weiter: "Am äußeren Rand bedeutet er große Erfüllung..." Er - wer? Der Punkt? Mal abgesehen vom falschen Rückbezug (im Hauptsatz haben wir viele Punkte, in der Klammer auf einmal nur einen) wird es jetzt völlig wirr. Bezeichne ich den Grad meiner Erfüllung im jeweiligen Bereich nun durch die Anzahl der Punkte oder durch ihre (seine?) räumliche Anordnung? Mir schwante was... Der Verdacht verstärkte sich, als ich mich mit den Namen der Kuchenstücke beschäftigte. Alles so weit klar, nur: Was bitte ist Übung? Was übe ich da, und was soll das eigentlich für ein Lebensbereich sein? Übung...

Was mir da schwante, war, dass hier schlecht übersetzt wurde. Ich machte mich auf die Suche nach dem Wortlaut des englischen Originals oder wenigstens einer Erklärung dieses Lebenskuchens, denn ich konnte mir beim besten Willen nichts Rechtes darunter vorstellen. Nun findet man beim „Look inside“ im Buchhandel meistens ausgerechnet die fragliche Stelle nicht, so auch hier. Es kostete mich viel Zeit und Einfallsreichtum, bis ich mit dem Suchauftrag „artist’s way life pie“ im Forum der Autorin selbst landete, wo - ha! - ein Mitglied names „onwards“ fragte:
Can anybody explain the exercise in week two, where you draw your life pie? I don’t get the point... what am I exactly to write in this circle??? Maybe the exercixe is just badly translated (I’m reading the book in german) – or... I just don’t get it!
(Kann mir jemand die Übung in Woche zwei erklären, wo man seinen Lebenskuchen zeichnen muss? Ich verstehe das nicht... was genau soll ich in diesen Kreis hineinschreiben??? Vielleicht ist die Übung ja nur schlecht übersetzt (ich lese das Buch auf Deutsch) - oder... Ich kapier’s einfach nicht!)
Was ein Zufall... Liebe oder lieber onwards, inzwischen weißt du es sicherlich auch: Es liegt tatsächlich an der Übersetzung. Denn die Antwort auf deine Frage ergab, dass es sich erstens um jeweils einen Punkt für jeden Lebensbereich handelt, der je nach Erfüllung auf einer gedachten Achse von innen nach außen gesetzt wird, und dass zweitens der als „Übung“ übersetzte Lebensbereich auf Englisch - hab ich’s mir doch gedacht - exercise heißt, und das, liebe Übersetzerinnen, kann zwar auch allgemein Übung heißen, muss in diesem Kontext jedoch als „(körperliche) Bewegung“ übersetzt werden! Also Spaziergänge, Gymnastik, Sport – alles, was der verfettete Bildschirmbürger so für sein gutes Gewissen tut.

Das Buch wurde von Anne Follmann und Ute Weber übersetzt, beides Diplomübersetzerinnen. Ich weiß nicht, wer von beiden Damen diese verwirrende Übersetzung verbrochen hat. Erklären kann ich mir diesen groben Schnitzer nur damit, dass die Betreffende die Beschreibung selbst nicht verstanden, nicht mitgedacht und einfach wörtlich übersetzt hat, was da stand. Zu gerne würde ich die Beschreibung mit den Punkten mal im Original sehen, werde mir deswegen aber sicher nicht extra die englische Ausgabe kaufen. Andererseits scheinen alle, die das Buch auf Englisch gelesen haben, verstanden zu haben, worum es geht, daher kann es dort wohl kaum so unverständlich formuliert sein wie in der deutschen Übersetzung. Zu denken, dass vielleicht hunderte deutscher Leser immer wieder über unklare Aufgaben oder Aussagen stolpern, nur weil sie schlecht übersetzt wurden...

Es ist eine Affenschande. Ich weiß nicht, was in diesem speziellen Fall gelaufen ist, und werde daher niemandem den schwarzen Peter zuspielen. Aber ich weiß, dass Übersetzer grundsätzlich miserabel bezahlt werden, und wenn die wirklich guten nicht gerade das Glück hatten, bei einem großen Verlag unterzukommen und dort einen namhaften Schriftsteller übersetzen zu dürfen, müssen sie alle, alle um ihren Lebensunterhalt kämpfen und nehmen, was sie kriegen können, ob es nun ihr Fachgebiet ist oder nicht, ob sie es können oder nicht. Da muss man sich nicht wundern, wenn das Engagement auf der Strecke bleibt.
Die Verlage aber vergraulen die guten Übersetzer durch ihr Honorardumping, engagieren im Zweifelsfall die billigsten, und das schlägt sich dann immer in der Qualität der Übersetzung nieder.
Und die Branche hat ihren schlechten Ruf weg. Wer ist heute noch stolz, Übersetzer zu sein? Zwei Sprachen - die Fremdsprache und die eigene (!) - so zu beherrschen, dass er nicht nur Vokabular, Grammatik und Satzbau intus hat, sondern auch über ein so feines stilistisches Gefühl verfügt, ihre gelehrten Höhen und vulgären Tiefen so genau wahrnimmt und übertragen kann, dass der Leser am Ende, wie Tucholsky es formulierte, „Hamsun, Tolstoi, Lewis und Kipling auf deutsch“ so liest, „wie sie wirklich geschrieben haben“? Ich wäre auch dann nicht stolz, wenn ich so gut wäre, solange ich davon nicht leben kann und haufenweise Quatsch mit Soße lesen muss, weil mittlerweile jeder glaubt, übersetzen zu können, nur weil er sich in der Fremdsprache verständigen kann.

Einen starken Misston gibt es auch in der Übersetzung des Folgebuchs derselben Autorin „Den Weg des Künstlers weitergehen“ von Susanne Kahn-Ackermann. Hatten die Übersetzerinnen des ersten Bandes das berühmte „artist’s date“ noch sehr passend mit „Künstlertreff“ übersetzt, treibt uns Frau Kahn-Ackermann nun statt dessen zum „künstlerischen Stelldichein“.
Mir erschließt sich beim besten Willen nicht, was sie am bewährten Künstlertreff so schlimm fand, dass sie das elegante Wort durch ein sperriges und altmodisches Ungetüm ersetzen musste. Ganz davon abgesehen, dass es nicht gerade von gutem Ton zeugt, bestehende Übersetzungen, auf denen die eigene aufbaut, über den Haufen zu werfen, wenn sie nicht eindeutig falsch sind.
Aber das ist nur ein stilistischer Lapsus, während der vorher besprochene Fall auch noch offensichtlich falsch übersetzt ist.

Nun muss ich ein bisschen weinen... Als Übersetzer ist man ja theoretisch in der Lage, seine Bücher in der jeweiligen Originalsprache zu lesen, und wenn es irgend geht, halte ich das seit Jahren so. Wenn nur die nicht vorhandenen Finanzen nicht wären, denn die zwingen die meisten von uns, wo möglich, auf das Repertoire der städtischen Bibliotheken zurückzugreifen, und dort gibt’s die meisten Bücher nun mal nur auf Deutsch.
Dafür nährt mein Lebenskuchen seine Frau doch ganz ordentlich...

© Angela Nowicki, 22. November 2013