Dienstag, 4. März 2014

Das kalte Herz

Abenteuer einer künftigen Schauspielerin

Auf der Suche nach einem Ziel für meinen Künstlertreff war ich schließlich beim Weltecho gelandet, das jetzt vorn auf der Annaberger Straße ist, also zentrumsnah. Schon die Website gefiel mir – endlich mal ein klarer Überblick und sogar mit Eintrittspreisen. Und wie ich sah, ist das nicht mehr bloß ein Kino, sondern hat auch eine Galerie und ein Theater und mehr. Dieses Theater führte am Mittwoch 20 Uhr im Café „Das kalte Herz“ auf – also, es passte alles, und endlich mal ein Stück, das mich interessierte.
Den ganzen Tag stand ich unter Druck, ob ich da hin soll – oder doch nicht – ich muss ja nicht – aber mein Brunnen muss dringend gefüllt werden…
Du weißt schon: abends im Dunkeln… allein… dort war ich noch nie, weiß nicht, wo und was genau das ist und erst recht nicht wie… krieg ich beim Busfahrer Kurzfahrscheine? … es ist ein weites Stück zu laufen von der Haltestelle Reichsstraße… fahre ich aber zur Zenti, muss ich eine Haltestelle mit der Straßenbahn fahren – schaffe ich das? Und überhaupt – wie werde ich mich dort fühlen mutterseelenallein?
Was mich letztlich zur Tat motivierte, war der Gedanke: „Es ist ein Abenteuer!“ Mein Kind will doch so gern Abenteuer erleben. Allein die mit dem Wort „Abenteuer“ verbundene Vorstellung trieb mich raus. Und dann klappte alles wie am Schnürchen.

Ich war fünf Minuten zu früh am Bus. Eine übergewichtige Blinde oder blinde Übergewichtige hatte mit ihrer schlanken, sehenden Begleiterin schon gewartet, als ich noch eine auf dem Balkon rauchte. Der Busfahrer verkaufte mir reibungslos einen Kurzfahrschein. Im Bus eine ältere und eine alte Frau, ins Geschnatter vertieft, und eine junge Proll-Familie mit auch noch junger und attraktiver Mutter, die den wirklich süßen zweijährigen Enkel auf dem Schoß hielt, der dauernd hustete. Aber er war fröhlich, weil sein Papa mit ihm schäkerte, und wiederholte nach einem Blaulicht draußen: „Tatüü-tataa, die Feuawehr da!“ So wurden wir durch die geschäftige Nacht gezogen.
Ich lief vor der Deutschen Bank an der Chemnitz entlang, darauf hatte ich mich gefreut, und war in noch nicht mal zehn Minuten schon da. Allerdings war da kein Eingang; erst beim Zurücklaufen sah ich an einer Tür das Schild: „Eingang im Hof“. Ok, und wo ist der Hof? Über den kleinen Parkplatz zur Chemnitz, dann links und noch mal…

Ein Bild wie aus dem alten Paris… oder einem Fellini-Film? öffnete sich links: eine alte Fabrik, ein alter Fabrikhof, hier und da zwei Fenster bunt erleuchtet, Türen und Fenster, jede anders, mit totem Efeu überwuchert und hoch oben aufgespannt sechs – oder acht? – flache Vollmonde – große Lampenscheiben, liegend, die (fast) alle in warmem Gelb leuchteten. Einer ging schon vor mir rein, ein Dicker kam raus zum Rauchen.
Als ich, gezogen von einem schwarzen Zylinderhut, ins Café steuerte, stand vor mir schon eine schwarzhaarige Frau mit Rucksack, ebenso klein wie ich, vielleicht ebenso alt wie ich, und der stattliche Gaukler in Frack und Zylinder schrie: „Hereinspaziert! Hereinspaziert!“ Er schlug der Frau vor, um den Eintritt zu würfeln: Gewinnt der Gast, hat er freien Eintritt – verliert er, zahlt er das Doppelte. Nämlich 10 Euro. Das erschreckte mich etwas, aber nächstes Mal werde ich es riskieren. Natürlich quatschte ich den Typen gleich an und erfuhr, dass er und seine Kollegin professionelle Schauspieler seien – er habe in Hannover gelernt, sie in Tschechien, und nur sie beide führten das Stück auf im Rahmen des Weltecho. Als ich sagte, ich suche nämlich ein Laientheater, meinte er, darüber können wir ja hinterher reden.
Seine Kollegin, ein in jeder Beziehung „Mordsweib“ – groß, kräftig, schwarzhaarig, mit einer Stimme, die noch in Tschechien zu hören sein dürfte, und einem entsprechenden Temperament –, stand die ganze Zeit auf dem durch zusammengenagelte Bretter abgesperrten „Spielfeld“ (man muss eher sagen, sie thronte), zupfte an einer Geigensaite und sang mit abwesendem Blick endlos immer das gleiche, melancholische tschechische Lied vor sich hin.
Als es endlich losging, führte der Marktschreier die sieben Zuschauer-Männlein mit Megaphongeschrei durch die Absperrung (die er zu diesem Zweck dramatisch zerhackte) – und es ging los. Mit nichts als sich selbst und einem Haufen Krimskrams, den man am Weg auflesen kann, boten die beiden eine selbst kreierte Spielfreude dar, dass es eine Lust war. Der einzige Luxus waren zwei junge Beleuchter am Mischpult hinter uns, ein kleiner Kostümfundus und die Barfrau, die bei Bedarf die Bühne reichlich mit „Bier“ und „Schnaps“ versorgte. (Also, das Bier sah echt aus, aber der Typ rief zum Schluss: „So, und jetzt gibt’s richtiges Bier!“)
Sie bezogen das Publikum mit ein – sie hatten wirklich alles an Improvisationskunst ausgereizt: Der Schwarzwald erstand durch ein paar Farnblätter auf dem Polylux, als Goldtaler dienten in Goldpapier eingewickelte Schokotaler... Eingeleitet wurde das Märchen durch Narration von beiden, unterbrochen von Fragen an einzelne Leute im Publikum: „Welchen Wald mögen Sie am meisten? Was machen Sie gern im Wald?“ Ich wurde beim Pilzesammeln geschnappt und sollte „nachher am Tresen“ unsere Pilzflecken preisgeben. Zum Glück hatter es nachher vergessen. ;)
Mit am schönsten fand ich die Szene, als Peter den Schatzhauser rief und die Tschechin, mit Fellohren und Nagezähnen als Eichhörnchen verkleidet, hinter der orange beleuchteten Projektionswand mit den Farnen zu psychedelischer Musik einen exzentrischen Tanz aufführte, während sich ihr Kollege unten unter Qualen in alles mögliche Getier verwandelte. Also, man kann mit wenig Mitteln so viel darstellen im Theater! Mich würde mal interessieren, wie sie ein sprechendes Pferd auf die Bühne gebracht hätten.
Die drei männlichen Zuschauer mussten zweimal als Glasbläser und Tanzbodenkönig auf die Bühne, und zum Schluss war ich dran: Bekam eine Pappkrone und wurde vom Peter als seine Braut derb über die Bühne geschleift und beschimpft.
Das war das Ende. Sie haben dem Peter sein Herz nicht wiedergegeben, und das entspricht der Realität viel besser als das offizielle Märchen. Sieh dir die Oberschwaben doch an: Sie sind groß, breitschultrig, geschäftstüchtig, rackern sich für ihr Geld zu Tode – und sie haben ein Herz aus Stein.

Danach unterhielt ich mich noch eine Weile mit dem Schauspieler, Michael-Paul Milow. Er ließ sich meine Mailadresse geben, um mich auf den Verteiler zu setzen, informierte mich über eine geplante Impro im April und erzählte mir, er sei acht Jahre lang am Schauspielhaus angestellt gewesen, bis ein neuer Intendant eine neue Truppe mitgebracht habe. Jetzt arbeiten er und seine Kollegin Heda Bayer freischaffend fürs Weltecho, vor allem in der Jugendarbeit, denn dafür gibt es wenigstens Fördergelder. Da wurde mir klar: Solange ich keine eigene Truppe aufbauen kann, muss ich mich mit solchen alternativen (= versifften) Locations (klar, Chemnitz bietet massenhaft Fabrikruinen umsonst) und mit der Kinder- und Jugendarbeit zufrieden geben, denn dort kommt das Geld her. Für erwachsene Kunstprojekte gibt’s normalerweise keine Fördergelder. Das zweite fällt mir schwer; ich habe eigentlich die Schnauze voll von der Jugendarbeit.

Erstaunlicherweise war ich zwanzig nach neun wieder draußen, und der Bus fuhr 21:27 von der Reichsstraße. So glatt ist lange nichts gelaufen. Ein kurzer, anregender Spaziergang über den Falkeplatz, ich war ganz leicht und elastisch, und dreiviertel zehn war ich drham. Was habe ich gemacht? Erst mal gegessen! Im Theater, ich weiß nicht woher, hatte mich der Geruch von polnischer Wurst angeweht, und ich hatte einen ungeheuren Appetit darauf bekommen. Aber Bockwurst tat’s auch.

Freitag, 28. Februar 2014

Das Elend der Bäume


Der Himmel ist weiß. Die kahlen Bäume bewegen sich schläfrig. Nackt, entblößt. Gedemütigt vom Lauf der Erde und vom Wind. 
Aber die Häuser haben sich um sie gruppiert und verstecken sie gnädig. 
Vielleicht möchten die Bäume sich ja sehen lassen, genauso nackt und bloß, wie sie sind? In ihrem ganzen Elend? Es stumm hinausschreien: „Seht her, was man mit uns macht! Ja, seht nur her! Könnt ihr uns ansehen, ohne dass euch die Schamesröte ins Gesicht steigt? Wir zeigen uns euch in unserer ganzen Blöße, denn wir haben sie nicht gewählt!“ 
Und der Himmel bleibt weiß. Was gehen den ein paar leidende Bäume an? 
In Lumpen stehen sie da. Büschelweise hängen ihnen die Lumpen vom Leib. Eine perverse Laune des Gleichgewichts: Hier zu viel und dort zu wenig bleibt immer noch im Gleichgewicht. 



Samstag, 22. Februar 2014

Pluto ist ein Netz aus Lügen

Tagebucheintrag vom 26. Juni 2012

Ich hatte halb neun Abendbrot gegessen und gegen halb elf noch mal eine große Portion Süßkirschen. Weiß nicht, ob’s daran lag – ich konnte wieder nicht schlafen. Alles andere hatte ich gemacht: Yoga, körperliche Bewegung im Freien, Salzwasser, noch nicht mal Süßigkeiten abends – nur die Lichtreinigung machte ich nicht, weil ich mich dazu einfach nicht überwinden konnte, und das heißt für mich, es ist erst mal genug.
Erst versuchte ich, einfach liegen zu bleiben und mein Inneres zu beobachten, die ganze Nacht, wenn’s sein muss. Geht natürlich nicht, wirste verrückt. Das war dann halb drei oder so, als ich aufstand und ins Atelier ging und meine Vorzeichnung mit schwarzer Farbe nachzumalen begann. Das tat gut, und ich dachte auch, das hilft mir jetzt, half aber nicht.

Wieder die Lunge… die Bronchien, was weiß ich… Wieder dieses permanente Gefühl, nicht tief genug einatmen zu können und beim Einschlafen mit Atmen aufzuhören… Was ist das nur? Ich habe Angst. Trotz aller rationalen Erklärungen – ich habe Angst vor einer chronischen und vielleicht tödlichen Lungenerkrankung. Ich habe Angst vor meiner eigenen Schuld. Es ist etwas ganz anderes, wenn jemand krank wird, aber sich als Opfer empfindet. (Und fast alle Leute, die ich kenne, empfinden sich als Opfer. Manchmal glaube ich, ich bin die Einzige mit einer „Tätermentalität“.)
Es sind gar nicht mal so sehr die Vorwürfe, die ich fürchte („Siehste, das hast du nun davon, wie konntest du nur!“), sondern die Aufforderung: „Sie müssen sofort mit dem Rauchen aufhören!“ Weil ich weiß, dass ich das nicht kann. Dabei rauche ich doch gar nicht so viel! Ich kann mir rational einfach nicht vorstellen, dass meine Atemprobleme wirklich vom Rauchen kommen. Rational… Jedenfalls habe ich Angst, und in diese Angst hinein wollte ich gehen, wenn’s sein muss, die ganze Nacht, aber s.o.

Mir fiel auf einmal auf, dass es eine Art Elektrizität ist, die mich vom Schlafen abhält. Ich erinnerte mich, dass mir schon seit längerer Zeit ganz seltsame Stromstöße aufgefallen sind, die beim Einschlafen gelegentlich durch meinen Körper zu jagen scheinen. Diese Nacht auch wieder, und jetzt konnte ich auch viel deutlicher spüren, dass sich mein Körperinneres die ganze Zeit anfühlt wie ein Hochspannungstrafo – es summt regelrecht alles, die Nerven summen, sie scheinen zum Zerreißen gespannt zu sein (obwohl ich körperlich und seelisch eigentlich völlig entspannt bin) oder unter Hochspannung zu stehen.
Und da fiel mir ein,
- dass Pluto gerade über meinen Mond läuft und auf meine Sonne zusteuert,
- dass Uranus gerade auf meinen Mars zusteuert
- und dass alle drei – Pluto, Uranus und Mars – in meinem 9. Septar im 1. Haus stehen, und das 1. Haus ist der Körper! Und da wollte ich unbedingt wissen, was das bedeutet, und mir fiel nichts ein, an wen ich mich wenden könnte. Bei astrologix schreibt kaum noch jemand, und sonst kenne ich keine guten Astrologen mehr…

Ich rief mein Pferd Lukas, der ließ mich erst hinsetzen und die Weite der Steppe wahrnehmen, galoppierte dann mit mir endlos über die unendlichen Weiten, dabei schloss sich uns von hinten die ganze Pferdeherde an, und ich wurde selbst zum Pferd, doch das erschöpfte mich, und dann fragte ich ihn nach der Bedeutung dieser Konstellationen. Er sagte, er habe keine Ahnung von Astrologie, das könne mir am ehesten „die Weisheit“ beantworten, und dazu müssten wir in die Oberwelt.
Dorthin sind wir dann auch gegangen – ich durfte auf Lukas reiten –, er setzte mich vor dem Tor zur Oberwelt ab und sagte, er warte hier auf mich. Das Tor war eine starke Membran, die ewig nicht nachgab, bis ich es rückwärts versuchte, da trudelte ich rein. Dann lief ich ewig lange umher, und irgendwann erschien deutlich vor mir ein wildes Mädchen, das dann zu einer hübschen Frau wurde, die schließlich die Gestalt einer Madonna, aber zwischendurch auch mal Männergestalt annahm. Das war die Weisheit. Und alles, was ich zu hören bekam, war:
„Pluto ist ein Netz aus Lügen.“
Fortan schwieg sie. Draußen fragte ich Lukas, ob mein Leben ein Netz aus Lügen sei, aber er wusste es nicht.
Und was mache ich nun?


Donnerstag, 20. Februar 2014

A day in the life

I'd love to turn you on...

Der Bus war proppenvoll, vor allem mit Schülern. Mindestens ein Drittel davon machte sich mit seiner Tasche auf zwei Sitzen breit. Auf der viersitzigen Rückbank thronte ein Junge mit Kopfhörern, und drei Sitze waren mit Taschen belegt. Direkt vor unseren Nasen saß ein unheimlich schmuddeliger, schmutziger, fettiger Mann, der hatte seiner Tasche auch einen Sitzplatz angeboten. Es begann zu stinken. Wir flohen. M nach vorn, ich nach hinten. Da saßen zwei pickelige Teenie-Mädchen, die sich ungehemmt lautstark unterhielten. Die eine hatte die ganze Zeit ihren linken Fuß auf dem Geländer vor mir und versuchte, ihren Schuh zuzubinden.
An der nächsten Haltestelle stieg der speckige Mann aus. Aus seinem Hosenbund schaute sein halbes Hinterteil hervor. M deutete mit den Augen auf die zwei frei gewordenen Sitze. Ich zögerte. Mitten in die Gestankwolke hinein? Wir setzten uns doch, es stank nicht mehr. Dafür drehten die zwei Liesen hinter uns jetzt ihre Musik auf volle Lautstärke. Hip Hop. Sie skandierten laut bedeutsame Worte aus dem Text: „Ey!“ – „Westerwelle!“ – „Scheiße!“ Und lachten sich kaputt, dass der Bus noch mehr wackelte.
Ich zerrte M an der nächsten Haltestelle raus, ich brauchte Luft.



Montag, 17. Februar 2014

"Ich bin schuldig!"

Seelenreise vom 25. Juni 2012

Auf der Suche nach der Ursache für meine Schlaflosigkeit ging ich in mein Seelenhaus, um nachzuschauen, ob ich eine Anbindung ans Herzchakra in meinem dortigen Schlafzimmer habe.
Zuerst zog ich die Vorhänge auf, damit Licht hereinflutet, und öffnete das Fenster weit. Ich betrachtete mein Bett, sah aber nichts Erkennbares. Es schien mir, als sehe ich mich selbst darin liegen und mich hin und her wälzen, aber ich war mir nicht sicher.
Das Bett steht ein Stück vom Fenster entfernt mit der Stirnseite an der rechten Wand. In der Zimmerecke gegenüber, also links vom Fenster, erkannte ich jetzt einen Frisiertisch mit einem Spiegel darüber. Ich schwankte eine Weile. Ganz spontan sagte mir etwas, dass ein Spiegel im Schlafzimmer nichts zu suchen habe – während mein Verstand der Ansicht war, ein Frisiertisch im Schlafzimmer sei doch völlig normal, und dazu gehöre nun mal ein Spiegel. Meine innere Stimme setzte sich aber durch, und ich beschloss, ihn abzumontieren.
Zunächst jedoch suchte ich diese Wand weiter ab – und tatsächlich, wie ich es gefühlsmäßig schon in Erinnerung gehabt hatte, befand sich in der Mitte ein ordentlicher Kamin in absolut gutem Zustand. Ich schichtete Holzscheite auf zerknülltes Papier und entzündete ein Feuer, auch wenn es ohnehin warm im Zimmer war, aber ich wollte etwas unmittelbare Herzenswärme hinein bringen.
Das Feuer brannte lebhaft und sicher, der Kamin war anständig ausgebaut und zusätzlich noch durch ein Gitter geschützt. Hier konnte mein Schlafproblem also nicht liegen. Nun machte ich mich an das Abmontieren des Spiegels. Das war gar nicht so einfach. Er war mit vier senkrechten Leisten von hinten am Frisiertisch befestigt, eine komplizierte Verbindung. Links ging er recht schnell ab, aber an beiden rechten Leisten musste ich lange fummeln, bis ich ihn aus der Verankerung heben konnte.

Ich trug den Spiegel runter, um ihn zu entsorgen – aber wo? Unterwegs fiel mir ein, dass Spiegel ja Quecksilber enthalten – den kann ich doch nicht in der Erde verbuddeln, da verseuche ich doch das Grundwasser. Aber verbrennen lässt er sich auch nicht. Aus irgendeinem Grund führten mich meine Schritte zu dem Hügel auf der Wiese, wo ich einst die drei Tänzerinnen getroffen hatte. Und wirklich – neben dem Hügel war eine tiefe Grube ausgehoben, und eine Frau – wohl eine der Tänzerinnen – stand daneben und bedeutete mir, ich könne den zerschlagenen Spiegel hier bedenkenlos versenken. Als ich die Scherben hinunter warf, sah ich, dass sie in eine große Mülltüte fielen, und als ich fertig war, deckte die Frau die Grube mit einem großen, hölzernen Deckel zu.

Ich drehte mich um und wollte gehen – da stand mein Freund und Helfer vor mir. „Willst du nicht wenigstens das Fenster wieder schließen?“ fragte er. Stimmt! Ich hatte ja das Fenster im Schlafzimmer sperrangelweit offen gelassen. Gemeinsam mit mir ging er zurück. Als wir das Haus betraten, sagte er: „Schön hast du’s hier! Ein schönes Haus – und was es hier noch alles zu entdecken gibt!“

Das Feuer im Kamin brannte noch, ich schloss das Fenster und betrachtete noch einmal mein Bett. Mir fiel aber wieder nichts Besonderes auf. Doch! Schräg gegenüber die Zimmerecke neben der Tür hinter dem Kamin war mit einem Vorhang verdeckt. Hier meinte auch mein Freund und Helfer, dass das nicht in Ordnung sei, so eine verhüllte Ecke im Schlafzimmer. Was sich wohl dahinter befand? Ich hatte ein bisschen Angst, dahinter zu blicken, ich merkte deutlich, dass ich einen Schreck gerade nicht verkraften könnte, dann könnte ich mit Sicherheit wieder nicht einschlafen. Er zog den Vorhang zurück. An der Wand neben der Tür hing eine Art Ausguss, der aussah wie ein großes Urinal, nur war er gusseisern und reich verziert. So etwas wie ein Schmuck-Urinal? Wozu sollte das Ding gut sein? Daneben stand an der Kaminwand ein schwarzer Stuhl. Erst dachte ich, da sitzt jemand, aber der Stuhl war leer.
Seltsamerweise bestimmte mein Freund und Helfer nicht das Urinal zum Abriss, sondern der Stuhl müsse raus. Als könne dort leicht ein fremdes Wesen Platz nehmen, ohne dass ich es bemerke. Dann nahmen wir noch gemeinsam den Vorhang ab und brachen die Stange, an der er gehangen hatte, aus der Wand. Mein Freund und Helfer strich über die beiden Bruchstellen in der Wand, und sofort war die Wand dort wieder unbeschädigt.
Nun standen wir mit dem Stuhl, dem Vorhang und der Stange vor der Tür, da wollte ich noch sehen, was an der Wand neben meinem Bett war. Und da stand ein Mann. Ein älterer, hagerer Mann mit nacktem Oberkörper, durch den die Rippen zu sehen waren, und er stand mit dem Gesicht zur Wand, mit hängenden Schultern und tief gesenktem Kopf.
„Wer bist du? Was willst du hier?“ fragte ich ihn erstaunt. Er drehte sich um und sackte in sich zusammen auf den Fußboden. Dann begann er, ganz bitterlich zu jammern und zu wimmern: „Ich bin ein Sünder! Ich bin schuldig! Oh je, ich bin schuldig geworden!“
Da trat mein Freund und Helfer auf ihn zu und sagte: „Dann kannst du jetzt etwas Gutes tun. Nimm die Sachen hier, bring sie runter und entsorge sie im Garten. Den Stuhl und den Vorhang kannst du verbrennen, und die Metallstange vergräbst du.“
Sofort stand der Mann auf und schien richtig erleichtert zu sein, dass er sich nützlich machen konnte. Vielleicht würden ihm so ein paar seiner Sünden vergeben?

Und da schlief ich ein.

Freitag, 14. Februar 2014


Offen sein kann man immer, aber es ist schwer, diese Offenheit aufrecht zu erhalten, wenn lange Zeit nichts passiert – es kommt ja nichts rein, also kann ich die Tür genauso gut wieder zumachen, damit es nicht zieht.



Mittwoch, 12. Februar 2014

Die Kapo-Deutsche vom Sozialamt

Traum vom 25. Juni 2012

Ich ließ mir einen Schein ausstellen, der mir Versicherungsleistungen verschaffen sollte, und ging damit zum Sozialamt. Als ich ankam, wollte die zuständige Sachbearbeiterin gerade Feierabend machen und gehen, doch sie kam heraus und sagte, ich habe Glück, mich nehme sie noch dran. Ich bedankte mich bei ihr und fügte hinzu, ich wisse zwar gar nicht, ob ich hier überhaupt richtig sei, aber wahrscheinlich doch, doch ja, es gehe um Sozialleistungen, das sei etwas mit einer Versicherung... ach, hier! „Hier haben Sie einfach mal die Unterlagen.‟
Sie war zuständig und bearbeitete meinen Antrag auch. Das alles dauerte ziemlich lange, und während ich am Schreibtisch stand und immer wieder andere Unterlagen aus meinem Köfferchen zu Tage fördern musste, geriet mir in der Hektik manches durcheinander. Dabei fiel mir auf, dass meine Unterlagen ziemlich zerfleddert aussahen und mein Köfferchen etwas abgewetzt, und dann fiel mir der ganze Blätterstapel auseinander und flog über den Schreibtisch. Ich benahm mich ganz typisch für mich: Ich machte Scherze, die normalerweise darauf abzielen, dass der andere darauf einsteigt und Verständnis signalisiert. „Ach, ich bin wirklich ein kleines Schlamperlein!‟
Die Frau stieg aber nicht ein. Schon ein paarmal hatte sie auf meine scherzhaften Bemerkungen überhaupt nicht reagiert, und ich begann, mich unbehaglich zu fühlen: Hat die mich jetzt nicht verstanden, oder mag sie mich nicht? Beim letzten Mal aber stimmte sie mir sogar zu: Ja, ich sei schlampig.
Das steigerte sich mehr und mehr, bis es sich zu unerträglichen Beleidigungen hochschaukelte. Ich versuchte immer wieder, die Spitzen zu nehmen, indem ich ihr suggerierte, dass sie das doch nicht ernst meine - aber sie meinte es ernst. Sie beschimpfte mich schließlich regelrecht, ich sei dreckig, ungepflegt, unordentlich, eine Schlampe und weiß der Teufel was. Da wurde es mir zu viel. Ich drehte hoch auf 180 und fuhr sie an, wie sie eigentlich mit ihren Kunden umgehe, das lasse ich mir nicht bieten… Ich wollte schon sagen, ich gehe, als mir einfiel, dass das ja nicht gut ging, denn schließlich wollte ich etwas von ihr. „Ja‟, sagte ich, „aber Sie wollen auch etwas von Ihren Kunden, wir bezahlen Sie immerhin!‟
Also, es wurde ein richtig ausgewachsenes Gebrüll, bis ich wirklich meine Sachen schnappte. Da saß die Dame mit einer Kollegin hinter einem Schalterfenster, und ich hatte das Bedürfnis, sie zum Abschied noch einmal richtig zu verletzen und suchte nach einer möglichst schlimmen Beleidigung.
„Sie... Sie Kapo-Deutsche!‟ schrie ich.
„Was bin ich?‟ fragte sie, und auch ihre Kollegin riss die Augen auf.
„Sie sind eine Kapo-Deutsche! Jawohl! Und wie!‟
Und stürmte aus dem Amt.

Drei Dinge:
Erstens überlegte ich mir beim Hinausstürmen etwas erschrocken, ob ich nicht zu weit gegangen war. Sicher, sie hatte mich grob beleidigt und ich sie nun auch, aber Kapo-Deutsche war vielleicht ein anderes Kaliber als Schlampe? Würde sie mich jetzt verklagen?
Zweitens ging sie offensichtlich davon aus, dass ihre Kunden, die Sozialhilfeempfänger, alles Asoziale seien. Sie hatte schon solche Scheuklappen ausgebildet, dass sie gar nicht mehr im Stande war, einen intelligenten Menschen zu erkennen. Das war mein größter Ärger: dass meine Intelligenz hier nichts zählte, ja, nicht einmal bemerkt wurde und mir dafür Mängel vorgeworfen wurden, die für mich überhaupt keine Rolle spielen.
Und drittens war die Frau am Anfang blond und hübsch gewesen und zum Schluss dunkelhaarig und hässlich.
 
 

Samstag, 8. Februar 2014

A day in the life

Nobody was really sure if he was from the House of Lords.

Es war so ein „Gar-nicht-gemerkt‟-Tag. Wie in Trance. Ein österreichisches Auto fuhr vor uns. Auf seinem Nummernschild, wo der Ort des Autohändlers steht, las ich:
Öldarm. Schlafanzug.

Ein Transporter fuhr auf den Parkplatz am Kaufland, auf dem stand: „Die Kneipe für Darter‟. Darter... Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriff, was das ist.

Die Menschen draußen waren alle seltsam. Viele abgerissene Gestalten, angezogen wie aus der Kleiderkammer. Kahl rasierte „Ich-bin-clever‟-Typen mit Piercings en masse. Eine junge Frau galoppierte vorbei. Ihre Absätze waren gar nicht so hoch, schräg nach vorn geneigt. An der Ecke ein Jugendtreffpunkt, vier Jungen und zwei Mädchen. Hörbare Techno-Musik; ein Mädchen zeigte dem anderen etwas auf ihrem Handy. Ich fragte mich, was solche Typen die ganze Zeit reden. Warum sie sich überhaupt treffen. Sie scheinen keine Interessen zu haben.


Irgendwo in der Plattensiedlung die Aufschrift auf einer Garage: „Wonnen im Süden‟. Ein Reisebüro? Nein, eine Wohnungsgenossenschaft. Hä? Ich war verwirrt. Bis ich sah, dass es „Wohnen im Süden‟ heißt. Ein Pfahl hatte die Sicht auf den h-Strich verdeckt.
 
 

Freitag, 7. Februar 2014

Die Ohnmacht


Wir waren mal in einem Café gewesen, einem Biergarten, zwei Freundinnen und ich, und hatten uns über die Regierung unterhalten, und dabei hatte eine auch von einem kürzlichen Mord erzählt.
Tage später tauchten bei mir zwei Kriminalistinnen von der Inquisition auf, um mich zu dem Mord zu verhören. Ich sagte ja, ich habe davon gehört, war aber ängstlich darauf bedacht, keine Namen zu nennen, um meine Freundin nicht zu verraten. Die hatte den Mord zwar auch nicht begangen, aber man weiß ja nie.
Die Vernehmerinnen waren erst überaus freundlich und verständnisvoll: „Nein, selbstverständlich haben Sie nichts damit zu tun, wir wollen nur einige Fragen stellen.‟
Dann jedoch unterstellte mir die eine, etwas gesagt zu haben, was ich gar nicht gesagt hatte, und als ich mich empört an die andere wandte, bestätigte die die Falschaussage ihrer Kollegin.
Da begriff ich, dass man gegen die Inquisition keine Chance hat. Wenn die wollen, dass ich die Mörderin bin, dann bin ich es auch.


Sonntag, 2. Februar 2014

delivering pluto

(Das Plutonische) ist ungeboren, es ist noch nicht in die Selbstständigkeit entlassen. Manche Eltern wollen ihre Kinder ... nicht in die Selbstständigkeit entlassen - ist gleich eine Pluto-Situation. Die Pluto-Situation ist immer die, wo etwas, was reif ist für die Selbstständigkeit, noch nicht in die Selbstständigkeit entlassen ist.
...
Selbst wenn man unter der Pluto-Situation in die Selbstständigkeit gelassen würde, würde man selber nicht in die Selbstständigkeit gehen - und aus diesem Grunde suche ich etwas, wo ich unselbstständig sein kann, etwa eine Sekte, etwa eine Ideologie...
...
Ah, Max Beckmann, der (hat) auch (Pluto am Aszendenten). Na ja, gut, da geht's ums Bilder Gebären. Da geht es drum, dass etwas zu gebären ist. Also, immer beim Pluto geht's drum, dass was zu gebären ist, natürlich unter Krämpfen, wenn's blöd kommt.

Wolfgang Döbereiner, Seminare


Aufwärts ging es dann vor allem mit den „plutonischen‟ Erkenntnissen (die ich mittlerweile natürlich schon wieder vergessen habe, wer sind wir denn!), und Durchfall passt mir seeehr zu Pluto, dem Verdrängten: Scheiße ist auch was Verdrängtes, und hier kam nun allerhand Scheiße raus.


Samstag, 1. Februar 2014

Nobody wants you to shine

Traum vom 11. Juni 2012

Ein Foto. Ein Foto von einer Sängerin, die Ende der 1960er sehr bekannt war. Mir fiel ihr Name nicht ein. Sie war dünn wie ein Schlauch, hatte dunkles, kurzes, auftoupiertes Haar, ein Mischlingsgesicht und zog sich gerade ein hautenges, gewirktes Schlauchkleid mit breiten Querstreifen von unten nach oben über den Körper. Sie bereitete sich in der Garderobe auf ihren Auftritt vor.
Als sie das Kleid endlich oben hatte, sagte sie, zu mir gewandt: „Nobody wants you to shine!‟
Dann legte sie den riesigen, weiten Schlauchkragen um ihren Hals zurecht.
 
 

Freitag, 31. Januar 2014

A day in the life

They'd seen his face before.

Irgendwann fiel mir auf, dass alle Frauen, die heute ihre Hunde ausführen, dick und rothaarig sind.
Im selben Moment fiel mir mit gelindem Schreck ein, dass auch ich dick und rothaarig bin.
Aber ich habe keinen Hund.
 
 

Donnerstag, 30. Januar 2014

Orientierungsverlust


Ich bin in einer Stadt angekommen mit dem Namen Reichenbrand. Auf dem Marktplatz soll ein Raffael stehen, den will ich sehen.
Ich laufe über den schmalen Marktplatz, finde aber nichts. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Statue oder ein Gemälde sein soll, doch ich finde wirklich keinen Raffael. Laufe über eine Baustelle, quatsche mich an Marktständen vorbei - nichts. Er sollte sowieso ziemlich am Anfang stehen, das habe ich auf der Karte gesehen. Da muss ich wohl noch mal nachfragen.

Unversehens bin ich in einen Bus eingestiegen, von dem ich nicht weiß, wohin er fährt. Ich gehe davon aus, dass er mich einfach nur auf die andere Seite des Marktes bringen wird und dann zurückfährt. Ich bin zu schwach, um so weit zu laufen.
Neben mir und gegenüber sitzen zwei Männer. Als der Bus die andere Seite vom Markt erreicht, fährt er einfach weiter, eine lange, gerade Asphaltallee entlang und mitten in eine Baustelle hinein, die ein riesiger Krater ist. Es sieht aus wie ein stillgelegter Tagebau. Ich frage die Männer, wohin der Bus fahre - weit -, und rufe, da müsse ich wohl sofort aussteigen, wenn ich nicht so weit zur Stadt zurücklaufen will. Sie lachen, rufen „Ja!‟, sie sind lustig und nett.

Mitten in der Grube steige ich aus und klettere mühevoll die steile Grubenwand hoch. An dieser Seite ist der obere Rand von welligen, leuchtend roten und gelben Rändern eingefasst, die aussehen wie dick gekleisterte Ölfarbe, so:

Mit mir klettern noch viele andere die Grubenwände hoch. Es hat den Anschein, als kletterten sie um ihr Leben. Als ich den Rand schon fast erreicht habe, versperrt uns (direkt an meiner linken Seite klettert noch eine Frau) ein Rohr den Weg. Eine dicke Rohrleitung läuft am oberen Grubenrand entlang. Ich will schon aufgeben, da drücke ich gegen das Rohr, und es lässt sich ganz leicht nach links wegschieben. Der Ausstieg über den verwurschtelten Ölfarbenrand ist gar nicht schwer. Ich hatte befürchtet, mich nicht hochhieven zu können, doch ich bin ganz leicht.

Nun stehe ich oben in der diesigen, gleißenden Landschaft und überlege, in welcher Richtung wohl Reichenbrand liegt. Ich habe die Orientierung verloren.

Mittwoch, 29. Januar 2014

Als letztes vor der Ferne...

Was ich will?
Eine Wohnung, am liebsten eine Hexenvilla, an einem Ort, der nicht Chemnitz ist, in Stille und Bäumen, in denen der Wind rauscht, in einer Gegend, die nach einem Jahr noch Neues birgt.

Dienstag, 28. Januar 2014

Clara


Da war ich. Irrte über die britische Steilküste. Spürte den kurzen Rasen unter meinen nackten Füßen. Bis das Kind erschien.
Vorher sah ich mehrere Bilder. Das erste war ein Glaskrug mit ganz klarem Wasser darin. Ich trank davon, wusch mir damit Hände und Arme, Gesicht und Augen, schüttete es mir über den Kopf. Am Körper fühlte sich das Wasser leicht ölig an.
Später sah ich eine Gestalt im schwarzen Umhang, die von einem Maibaum herunterrutschte. Der Maibaum blieb, die Gestalt verschwand.

Das Kind war heute ein kleines bisschen größer und dünner, sein Haar nicht mehr ganz so verfilzt, dafür länger, und es war deutlich sanfter.
„Natürlich, es geht weiter. Gut, dass du gekommen bist‟, begrüßte es mich. „Da machen wir doch zuerst mal ein Lagerfeuer.‟
Mit groben Holzscheiten entzündete es ein kleines Feuer auf der Klippe über der Irischen See, und dann fragte es mich, wo Lukas sei.
„Ich weiß nicht, er ist einfach nicht aufgetaucht. Ich habe ihn aber auch nicht gerufen, weil ich dachte, wir brauchen ihn nicht.‟
„Doch, dein Pferd sollten wir schon dabei haben‟, entgegnete das Männchen.
Ich wollte loslaufen, um Lukas zu suchen, doch der Kleine meinte, es sei sinnvoller, hier am Lagerfeuer zu bleiben und ihn zu rufen, so werde er uns am leichtesten finden.

Während wir auf Lukas warteten, fragte ich das Kind, ob es uns bei der Wiederholung meiner Kindheit und Jugend denn gelingen werde, es zu befreien.
„Ich bin doch frei‟, erklärte es nachdrücklich. „Ich bin nicht dein Kind. Ich bin dein befreites Kind!‟
Dann erschien Lukas.
„Es ist besser, wenn du erst zu unserem alten Treffpunkt in der Steppe kommst und mich dort rufst und suchst‟, sagte er sanft zu mir und nahm am Feuer Platz.
Ich umarmte ihn zärtlich, und Lukas sagte: „Du bist am Ende deiner Transformation angekommen. Bald wirst du mich nicht mehr brauchen.‟

Das Kind zog einen großen goldenen Kreis um mich und meinen Maibaum, an dem viele bunte Bänder flatterten. Im daran anstoßenden Kreis erwartete ich meinen Urgroßvater Alwin, doch dann stand dort eine ältere Frau, und das war meine Urgroßmutter Clara.
Zunächst einmal bat ich die geistige Welt um Beistand, dann begrüßte ich Clara und erklärte ihr, dass ich für die Erfahrungen dankbar sei, die ich mit ihren Lasten gemacht habe, dass es aber nicht meine Lasten seien und ich sie ihr jetzt zurückgebe. Ich wünschte ihr Segen auf ihrem weiteren Weg und sagte, ich gehe von nun an meinen.
Als Nächstes mussten die Lasten zurückgegeben werden. Längere Zeit fühlte ich genau, Stück für Stück in meinen Körper hinein. Ich spürte etwas in meinem gesamten Unterleib, in der linken Brust und in der Kehle. Vor mir erschien ein kleiner, vollgepackter Rucksack. Ich schob ihn bis zu Clara hinüber und sah dann zu, wie er ihr aufgeschultert wurde. Dann jedoch erschien hinter ihr eine große Gestalt, die ihr diesen Rucksack abnahm und damit fortging.
Nun ging es ans Hauptwerk: Verstrickungen suchen, lösen, auflösen und die Schnittstellen heilen. Ich suchte, und den Rest machte wieder das Kind mit seinem blauen Lichtschwert.
Mit Clara war ich wesentlich stärker verstrickt als mit August, meinem Ururgroßvater. Zuerst fand ich eine Nabelschnur, die von ihrer rechten Brust ausging. Die größte und stärkste aber ging von ihrer linken Brustwarze aus, und diese Brustwarze war völlig verunstaltet, eine große knotige Wucherung. Dort blieb nach der Abtrennung auch eine große offene Wunde zurück, für deren Heilung das blaue Licht sehr lange brauchte. Bei mir saßen die Verbindungen alle zwar in derselben Körperregion, aber nicht an genau derselben Stelle wie bei ihr.
Nachdem etliche einzelne Stricke zwischen uns erfolgreich entfernt worden waren, trat ich aus mir heraus und schaute uns beide von der Seite an. Da erst entdeckte ich ein regelrechtes Geflecht zwischen unseren Körpern, das sie eng aneinander band. Jetzt ging das Kind mit dem blauen Licht pauschal von der Seite an dieses Geflecht heran. Es durchtrennte sie einfach mit einem langsamen Schnitt durch die Mitte von oben nach unten und löste dann erst die Schnüre in ihrer Gesamtheit auf und heilte die Wunden.
Noch einmal sah ich mir das Ganze von außen an. Und wieder waren wir miteinander verflochten, jetzt allerdings schon mit viel feineren Fäden und nicht so vielen. Noch einmal wiederholte das Kind die Ablösungsprozedur, und erst dann waren wir endgültig getrennt, und ich konnte keine Verbindungen mehr finden.

„Wasser‟, sagte das Kind nach kurzer Überlegung. „Clara gehört ins Wasser.‟
Wir legten ihren leblosen Körper auf eine große Plane und trugen ihn zum Strand hinunter. Dort übergaben wir ihn dem Meer, wo er sich vor unseren Augen in recht kurzer Zeit rückstandslos auflöste.
„Geh in Frieden!‟ rief ich ihr hinterher.



Natürlich musste auch ich jetzt ins Wasser. Ich lief weit hinein ins Meer und tauchte und schwamm und spritzte und wurde immer übermütiger, bis das Kind mich ans Ufer rufen musste, sonst würde ich wohl jetzt noch schwimmen.
Als ich herauskam, trug das Kind auf einmal einen leuchtend roten Flanellschlafanzug mit lauter bunten Bildern drauf. Es führte mich zu dem knorrigen Baum, und auch ich bekam einen solchen Schlafanzug, in dem ich sofort wieder zum Kind wurde. Ich tanzte mit dem Kobold, wir tollten und lachten wie die Wilden und vergaßen die Zeit dabei, bis wir erschöpft und immer noch lachend neben dem Lagerfeuer niedersanken.
 

A day in the life

A crowd of people stood and stared.

Das Kind hinter mir im Bus: „Die sollen aufhören!‟
Die Mutter: „Was?‟
„Die sollen aufhören mit Reden! Ich will nicht, dass die reden!‟
„Wer redet denn?‟
„Na, die Familie! Die reden und reden dauernd, ich kann das nicht leiden!‟
-
Ruft laut: „Die sollen endlich aufhören mit Reden!‟
„Scht, still!‟
„Ich kann das nicht leiden, wenn die dauernd reden, die sind dunkel! Die sollen aufhören, wo die auch noch dunkel sind!‟
-
Eine sächselnde Frauenstimme sagt die Haltestellen an. Gießerstraße: „Nächste Haltestelle: Kießerstraße.‟
Es müssen viele Schwarzfahrer unterwegs sein, wenn sie sich keine Schauspielerin mehr leisten können.
„Nächste Haltestelle: Henriettenstraße.‟
„Ich kann das nicht leiden, wenn die immer sagt Henriettenstraße!‟
 
 

Sonntag, 26. Januar 2014

Die Abschiedsfeier


In einem langen Gebäude feiern wir Abschied. Es sieht fast wie ein U-Boot aus: ein langer Gang, von dem rechts die Räume abzweigen.
Ich gehe in den zentralen Raum und setze mich an einen Tisch. Ist das unpassend? Werden die anderen mich ignorieren, verjagen, mit strafenden Blicken bedenken? Nichts dergleichen. Die Jungs lachten mir zu. Es sind Bekannte aus meiner Vergangenheit, Schulkameraden. Sie lachen mir zu, und manche kommen an meinen Tisch. Die Mädchen sind in Bewegung, laufen von einem Raum zum anderen, und die Jungs sitzen in den Räumen, und jeder bedenkt jeden überreich mit der gleichen freudigen Aufmerksamkeit. Niemand wird bevorzugt. Alle sind der Star.

Wieder einmal erscheint Robby mit den zertrümmerten Füßen in den glänzend braunen orthopädischen Knöchelschuhen, Robby, die Inspektorin. Sie liegt da und fragt mich nach unserer kürzlichen Vergangenheit aus. Eine Tür ist zugemauert worden. „Warum haben sie das umgebaut?‟ Der Kellereingang hat es nötig gehabt. „Aber dort unten‟ - ich weise nach links zur Kellertreppe - „ist bestimmt noch viel mehr zu tun.‟
Ich spaziere bis zum Ende des Gangs. Dort ist Schluss. Hier beginnt eine andere, eine alltägliche Welt. Das ist neu. Ich erinnere mich, dass unser U-Boot früher hier noch weiterging, noch mehr Räume hatte. Nun ja, es ist ein Abschied, wir haben wohl schon abgespeckt.

Als ich zurück in ein anderes Zimmer komme, sitzen dort ganz viele, und einer, der links mit dem Rücken zu mir sitzt, spielt Gitarre. Ein wunderschönes, gut bekanntes Stück aus der alten Zeit. Kein Blues, etwas sehr Melodisches, Melancholisches. Am U auf seiner Schulter oder an der Gitarre erkenne ich im Gitarristen Uriah. Ich setze mich und bin sehr glücklich. Ich wünsche mir zum Abschluss des Tages noch eine Affäre mit Uriah. Auch wenn er glücklich verheiratet ist.
Auch wenn ich verheiratet bin. Jake hat im Schlafzimmer eine Flasche Sherry geöffnet und gläschenweise an die Leute verteilt. Auch ich halte ein Gläschen mit Sherry in der Hand. Als Uriah Gitarre spielt, gehe ich mit Jake ins Schlafzimmer, um mir noch ein Glas Sherry zu holen. Der würzige, goldene Wein schmeckt mir so gut, dass ich Lust bekomme, mich heute Abend zu betrinken. Jake will mir das verbieten. „Ich will aber!‟ Es ist seine Flasche. Er nimmt sie mit nach draußen, und ich sorge mich, dass ich wirklich keinen Sherry mehr bekommen könnte.
Ich bin nicht schuld, und was ich schuld bin, war eine Schuld, die ich vollziehen musste, ich kann ja nicht anders.
Te absolvo.