Dienstag, 25. Oktober 2011

Tanzen und springen

Eine Schauspieltruppe, vier Schauspieler, zwei junge Frauen und zwei junge Männer. Eine der Frauen war die Hauptdarstellerin. Die Frauen hatten alle Perücken mit langen, weißblonden Zöpfen auf, die ihnen auf die Brust herabhingen. Zuerst defilierte die Hauptdarstellerin, das heißt, sie tanzte defilierend oder defilierte tanzend. Dann alle! Der Rest in einer Reihe hinterher.

***

Ein Vater, der mit seinem kleinen Sohn weggehen wollte – er zur Arbeit, der Sohn in den Kindergarten – sprang mit ihm aus dem oberen Stockwerk, in dem sie wohnten, mit Sack und Pack über die Straße hinweg hinunter auf die andere Straßenseite, und sie landeten gesund und munter. Ich beobachtete das von unten und erinnerte mich, wie ich schon oft im Traum so gesprungen war. Ein harter Aufprall, aber man bricht sich nichts. Für mich war der Sprung der beiden die Bestätigung, dass das nicht nur geht, sondern sogar normal ist. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, es sei doch gefährlich. Wenn man über die Straße hinweg springt, muss man aber gut zielen und sich seiner sehr sicher sein.

© Angela Nowicki, 25. Oktober 2011

Freitag, 21. Oktober 2011

Allein

Du bist allein

Allein heißt
Die Schmerzen ausbreiten
Auf weißen Laken und sitzen
Sitzen, bis der letzte Schrei verstummt
Auch dann noch

Allein heißt
Fremd sein im eignen Heim
Fremd in bodenlosen Städten
Dieses Fremdsein in den Poren sammeln
Bis es dir selbst fremd ist

Allein heißt
Immer nur geboren werden
Und nie sterben
Immer nur ankommen
Und nie gehn
Heißt verdammt sein
Zur Frage
Mit der ewig gleichen Antwort

Du bist allein

Die Schmerzen hinterlassen Flecken
Das Heim hat keinen Namen
Das Kind ist ein Krüppel
Angekommen
Im unerbittlichen
Ich

© Angela Nowicki, 2002

Mittwoch, 19. Oktober 2011

Kapitel 8: Ungarn allein

oder
Sonnenuntergang über San Francisco


Nach diesem Sommer wechselte Srüne zur Vorbereitung auf ihr Aulsandsstudium an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, und Neila wollte den Traum ein Jahr später allein wiederträumen, bevor sie sich mit Billy zur Hippiewallfahrt aufmachte. Sie hatte auch dieses Mal keine Adressen, aus unerfindlichen Gründen hatten sie mit den Jungs keine Adressen getauscht, oder sie hatten sie verloren, nur Srüne hatte noch einen kurzen Briefwechsel mit Zoli gehabt, aber Srüne war nicht mehr da. Doch solche Unsicherheiten hinderten Neila in jenen Jahren keineswegs daran, sich einfach mit Rucksack und Daumen im Wind an die Straße zu stellen. Das war das schönste Leben, das sie sich vorstellen konnte: morgens noch nicht wissen, wo man abends schläft. Sie hatte ihr Visum und ihr Abitur in der Tasche und eine vage Aussicht auf ein neues Leben im Brüder- und Pflegehaus Martinshof, Rothenburg bei Niesky, als sie im Juli 1975 nach Budapest aufbrach.

Die erste Nacht im Böhmerwald hatte ihr der Tscheche beschert, der sie kurz nach der Grenze via Prag eingeladen hatte. Als es dunkel wurde, war er in den Wald gefahren und zudringlich geworden, so dass Neila nichts anderes übrig geblieben war, als ihm ihr Knie zwischen die Beine zu rammen, schleunigst das Auto zu verlassen und das Weite zu suchen. Sie war schon eine Weile auf der Straße unterwegs, als er an ihr vorbei fuhr. Sie hob den Blick nicht, lief stur weiter. Doch die Straße blieb leer, weit und breit kein Auto mehr. Wohl oder übel breitete sie neben einer Kreuzung, im Schutz eines großen Gebäudes, das da ganz allein im freien Feld stand, vielleicht eine Fabrik, ihre Armeeplane unter einem Mast aus. Sie erwachte in der Morgendämmerung, lag auf dem Rücken, öffnete die Augen - und erstarrte: Direkt über ihr ragte ein Galgen auf. Der Mast, unter dem sie sich schlafen gelegt hatte, endete in einem kurzen Querbalken, an dem ein großer Haken schaukelte. Hastig packte sie ihre Sachen zusammen und suchte das Weite.

Am späten Vormittag, noch ohne gefrühstückt zu haben, fuhr sie in Prag ein. Jeder hungrige oder auch durstige Tramper landete dort irgendwann auf dem Wenzelsplatz, so auch Neila. Staubbedeckt ließ sie sich auf dem Wenzelsdenkmal nieder und zog ihre Karo aus der Tasche. Die Streichhölzer waren ihr ausgegangen. Sie schaute sich um. Ein paar Meter vor ihr bewunderte ein kraushaariger junger Mann den historischen Platz. Er gefiel ihr, noch mehr aber gefiel ihr das grün-weiß-rote Flaggenzeichen an seinem Rucksack. Ein Ungar, wie schön!
Dass er kein Ungarisch verstand, verblüffte sie. Die Flagge? Sie versuchte es auf Deutsch. Er schüttelte den Kopf. Auf Polnisch. Russisch? Er lächelte und schüttelte. Also gut, wozu war man in einer Französischklasse: "Parlez vous français?" Er parlierte! Er gab ihr Feuer, hockte sich fröhlich neben sie aufs Denkmal, und sie radebrechten. Woher er komme, sie habe gedacht, er sei Ungar, die Flagge auf seinem Rucksack... Er lachte: "No, no, no Hungría – Méjico!" Neila blieb vor Schreck der Mund offen stehen: Mexiko! Sie war mir nichts, dir nichts einfach mal so einem Amerikaner in die Arme gelaufen? Der auch noch zwei Sprachen sprach? Mit dem Französisch klappte es nur äußerst mühselig, irgendwie schienen acht Jahre Schulunterricht doch nicht zu genügen, wenn man die Sprache nie in der Praxis anwenden kann. Spanisch konnte sie nicht. Zaghaft wagte sie ein: "Do you speak English?"
"Oh Jesus!" rief der Typ wie vom Donner gerührt und rutschte eine Stufe tiefer. "Why didn’t you tell straightaway?"

Mike kam aus Kalifornien - "San Francisco" - "Oooh", schmachtete Neila -, war der Sohn mexikanischer Einwanderer und von Beruf Lehrer. Er trampe allein durch Europa, sei schon in Wien, München und Berlin gewesen, auch Ostberlin, und nun wolle er sich die herrliche Stadt Prag anschauen. In Ostberlin, erzählte er, seien die Menschen viel, viel offener und freundlicher als in Westdeutschland und Westberlin. Neila schielte ihn skeptisch an, so etwas wollte sie damals nicht glauben. Sie holte ihren Konsumkuchen aus dem Rucksack, ein staubtrockenes Quadrat Fabrikstreuselkuchen, in der Assiette gebacken. Sie schämte sich, Mike so etwas anbieten zu müssen, doch der überschlug sich vor Begeisterung, mmmh, schmeckt der gut! Nun ja, ebenso wenig, wie Neila sich freundliche Ostdeutsche vorstellen konnte, kannte sie die brutale angelsächsische Höflichkeit. Sie schielte skeptisch.

Einen halben Tag lang lief und fuhr sie mit Mike durch die goldene Stadt. Eingeklemmt in einer Straßenbahn, fragte sie ihn, welches eigentlich seine Muttersprache sei. "Englisch, Spanisch und Französisch."
"Okay, aber in welcher Sprache fällt es dir am leichtesten zu sprechen?"
„Englisch und Spanisch... und Französisch."
Neila war ratlos. Dann hatte sie die Erleuchtung: "Aber in welcher Sprache träumst du?"
"Englisch und Spanisch."
An einem Markstand kaufte Mike eine Riesentüte Pfirsiche. Neila hatte sie nicht mal angeschaut, für solchen Luxus hatte sie kein Geld. Mike hingegen verteilte seine Kronen nach rechts und links und bedachte nicht zuletzt auch sie großzügig damit. Auf ihre Frage, ob Lehrer in den USA so viel verdienen, erklärte er ihr den Zwangsumtausch für Westtouristen, der nicht rücktauschbar war. Da waren Pfirsiche, Eis und Cola, geteilt mit einer netten Ostdeutschen, doch eine lohnende Investition.
Sie schlenderten, Pfirsiche mampfend, am Moldauufer entlang und zählten einander ihre Lieblingsbands auf.
"Jethro Tull!" rief Neila.
"Oh!" entzückte sich Mike. "Ich war voriges Jahr bei ihrem Konzert, da hat Ian Anderson die ganze Zeit auf einem Bein Flöte gespielt!"
"Aaah! Das hätte ich zu gern gesehen! Wo sind die denn aufgetreten? War das in San Francisco?"
"Ja! Warst du schon einmal in San Francisco?"
Sie starrte ihn entgeistert an. Wollte er sie auf den Arm nehmen?
"Dann musst du unbedingt einmal nach San Francisco kommen! Es gibt nichts Schöneres als einen Sonnenuntergang über dem Pazifik!" Er war stehen geblieben, hatte die Arme ausgebreitet und strahlte sie pazifisch an.
Neila lachte sarkastisch: "Klar, ich komme."

Am Nachmittag brach sie nach Budapest auf. Mike hatte es sich nicht nehmen lassen, sie auf die Piste zu begleiten. Die war gespickt mit Trampern. Zu Mikes Verwunderung stellte sich Neila brav hinten an. Er erwies sich als exzellenter und äußerst unterhaltsamer Trampgenosse. Er wollte nicht gehen, bevor er sie nicht sicher in einem Auto Richtung Budapest untergebracht hatte, und dafür zog er alle Register, während Neila am Straßenrand hockte und Tränen lachte. Ein dicker Skoda brauste an ihnen vorbei. Mike schickte ihm, wie ein Derwisch auf der Fahrbahn tanzend, eine Auslese köstlicher englisch-spanischer Flüche hinterher.
"Aber der hatte doch keinen Platz mehr, der war voll", presste Neila halb erstickt hervor.
"Na und?" Mike zuckte mit den Schultern und riss die Augen auf. "Der hat doch einen Kofferraum. Da kriegt er mindestens noch drei von euch unter."
Neila quietschte vor Vergnügen. "Davon hab ich immer geträumt: im Kofferraum nach Ungarn! Und was mach ich, wenn die Polizei reinguckt?"
"Na, was schon? Du lachst sie freundlich an und rufst...“ - beide Hände fuchtelten aufgekratzt das Victory-Zeichen in die Luft: "Haaa-aaaiii!"

Fortsetzung folgt

Dienstag, 18. Oktober 2011

Der Teufel hat gesagt, es geht nicht!

Außerdem gab es ein Problem, das ich klären musste. Ich erkundigte mich an zwei Stellen, eine davon war der Teufel. Von ihm erhielt ich die richtige Antwort, und sie lautete: "Es geht nicht."
Ich sagte es der Gemeinschaft weiter, denn davon hing unsere weitere Lebensgestaltung ab. Nur einer fehlte noch, ein Zwerg, der war immer weit draußen. Deshalb rief ich alle von draußen zum Essen herein und achtete darauf, dass auch der Kleine käme, denn es war besonders wichtig, ihm mitzuteilen, was ich in Erfahrung gebracht hatte. Ich versuchte zu pfeifen, aber vergeblich.

Ich schaute aus dem Fenster über dem Hauseingang und sah, wie sich die Heimkehrer unten drängten. Unter ihnen waren auch Oberon und eine seiner Töchter. Vor mir auf dem breiten Fensterbrett saß ein Kleinkind im leuchtend orangen Kleid. Als ich mich hinausbeugte, um zu fragen, ob der Zwerg mitgekommen sei, fiel das Kleinkind plötzlich hinunter - Oberon fing es präzise auf - und dann gab es einen ungeheuer schnelle Bildablauf: Oberon schnippste das Kleinkind aus dem Fangen sofort wieder hoch, wie einen Ball, es kam aber nicht auf dem Fensterbrett an. Offensichtlich war ich einer optischen Täuschung unterlegen. Dafür stieß Oberon unten seine Tochter derb in den Rücken.
Mir fiel ein, dass die das Kleinkind ja aufs Fensterbrett gesetzt hatte, was alle für gefährlich hielten, aber sie war so sicher, dass es dort sitzen könne, und bisher hatte es ja auch immer geklappt, doch es reichte eben schon ein unbedachter Ruck in die falsche Richtung, und es war ja noch ein dummes Kleinkind. Obwohl das Fensterbrett wirklich breit war.

© Angela Nowicki, 8. Oktober 2010

Samstag, 15. Oktober 2011

Mein Lebensbaum, erste Reise

Schamanische Reisen, die ich einfach Seelenreisen nenne, führen uns in geistige Welten, die unvergleichlich komplexer und vielgestaltiger sind als die materielle Welt unseres Alltags. Was wir in diesen Welten finden, wohin wir gelangen, ist zum überwiegenden Teil individuell völlig verschieden. Dennoch gibt es bestimmte feste Elemente, Orte und Vorgänge, die all diesen Welten gemeinsam sind, die also jeder Mensch auf seinen Seelenreisen irgendwann einmal finden oder erleben wird, wenn auch in individuell unterschiedlicher Gestaltung.
Eines dieser universellen Elemente ist der Lebensbaum. Jeder Mensch hat in der geistigen Welt seinen Lebensbaum, der seine Verwurzelung in dieser Inkarnation, seine Einbindung in den Alltag und sein Energiemuster spiegelt. Auf einer Seelenreise seinen persönlichen Lebensbaum zu finden, ist ein wichtiger Schritt zur Selbsterkenntnis, doch nicht nur das: Unser Lebensbaum kann uns auch Kraft geben, wenn wir erschöpft oder depressiv sind, er kann uns geistige Klarheit vermitteln und uns sogar heilen - vorausgesetzt, er ist gesund und gut verwurzelt.
Um seinen Lebensbaum zu finden, begibt man sich am besten, wie gewohnt, in die Unterwelt und bittet sein Krafttier, einen dorthin zu führen.

* * *

Als ich zum ersten Mal meinen Lebensbaum besuchen wollte, bekam ich von Anfang an überhaupt keine deutlichen Bilder. Hulda, meine Schildkröte, war zwar da, aber irgendwie verändert, als hätte sie Speed genommen. Sie lachte dauernd wie blöde und zog Grimassen. Als ich sie fragte, was sie gern fresse, sagte sie: "Leber!" Oh, mein Gott! Mehr kriegte ich nicht aus ihr raus, also gab ich ihr eine rohe Leber, die sie auch gierig verschlang. Sie führte mich dann durch einen ebenerdigen, engen Tunnel auf der rechten Seite der Halle nach draußen, wo wir auf einer Plattform herauskamen, und zeigte mir meinen angeblichen Lebensbaum.

Erst war er ein paar Sekunden lang schön, riesig und voll, aber dann war immer nur eine Hälfte von ihm zu sehen, mal die rechte, mal die linke. Und dann ging der bad trip los: Dauernd veränderte sich der Baum, er hielt überhaupt keine Form, und als ich ihn endlich mal anfassen und richtig anschauen wollte, war er plötzlich verschwunden, und ich stand inmitten vieler Bäume. Ich war verzweifelt und wütend und rief, ich wolle meinen Lebensbaum sehen und nicht irgendwelche Bäume. Aber Hulda war auch kaum geistig anwesend, und wenn sie schon mal auftauchte, reagierte sie gar nicht auf mich.

Ich mühte mich lange, meinen Lebensbaum wiederzufinden, aber jedes Mal, wenn er wieder mal zu erscheinen geruhte, hatte er sich was anderes ausgedacht: Einmal brannte er, aber nicht im Feuer, sondern in unheimlich dicken, blendenden Lichtwellen, die dauernd ihre Farbe wechselten. Einmal war es ein riesiger Pilz. Ein Lebenspilz, kein Lebensbaum! Und einmal wurde ich selbst zu einem Baum, aber das war gar nicht lustig, weil ich mich regelrecht im Nichts auflöste.

Ich war Nichts und Alles, ich war das Universum oder wie immer DAS heißt, was halt existiert. Ich FÜHLTE, dass DAS (ich) nicht einfach SEIN kann, denn dann wäre es nichts, sondern sich gestalten muss – das heißt, es muss sich gestalten und wandeln, wie die Sonne scheinen muss oder Feuer heiß ist – die unendliche Wandlung ist eine immanente Eigenschaft des DAS. Und ich war ein Pseudopodium des DAS, eines von unendlich vielen, jedes war eine eigene Welt und ich natürlich auch, klar, aber letztlich war ich halt eine Ausstülpung des ALLES UND NICHTS. Das heißt, mein Bewusstsein war eine Ausstülpung. Jedes Bewusstsein ist eine Ausstülpung des ALLESUNDNICHTS, das ist alles.

Eigentlich ja ein Wahnsinnserleben, nicht? Voll die Erleuchtung oder was. Aber mir ging es damit gar nicht gut. Ich war einfach überfordert. Ich wurde fast wahnsinnig, die Reise wurde für mich geistig unerträglich anstrengend, bis ich dachte, ach, Mensch, bloß raus hier! Zum Schluss sah ich nochmals meinen Lebenspilz, der jetzt viel kleiner und ganz dünn war, in einer riesigen, blendenden, eiförmigen Aureole.

Hulda war einfach nicht "da". Sie spann bloß rum oder reagierte gar nicht, nicht einmal richtig verabschieden konnte ich mich von ihr. Sie machte den Eindruck, als sei ihr von der Leber schlecht geworden. Irgendwie wurde ich einfach aus der Unterwelt heraus katapultiert und sah absolut nichts, so dass ich schnellstens die Augen öffnete. Hat geschlaucht, die Reise.

© Angela Nowicki, 31. Juli 2010

Donnerstag, 13. Oktober 2011

Kapitel 7: Ungarn zu zweit (2)


Nun, zumindest, was Srüne und Zoli betraf, blieb es am Ende nicht dabei, aber das war völlig in Ordnung. Die drei Jungs waren wirklich der Anstand in Person. Die beiden blieben zwei ganze Wochen bei ihnen und nochmals zwei Tage bis zur Heimkehr nach ihrem Abstecher nach Miskolc, und keiner wurde je aufdringlich, sondern alle drei, mit Zolis Bruder gelegentlich auch vier, kümmerten sich so hingebungsvoll um ihre Sommergäste, dass man denken musste, sie hätten sich ohne diesen Zufall mörderisch gelangweilt in diesem heißen Budapester Juli. Sie zeigten ihnen die herrlichste Stadt der Welt, kletterten auf die Fischerbastei, führten sie in echte ungarische Restaurants mit Zigeunermusik aus, fütterten sie mit Weintrauben en masse, eiskalter Coca Cola und köstlichem Traubisoda, entführten sie in eine borozó, eine echte ungarische Weinstube, außerhalb der Stadt, die in einem riskanten Heimritt auf dem Rücksitz der reichlich abgefüllten Easy Rider endete, noch nie hatte Neila solche Angst gehabt, und in der zweiten Woche packten sie sie, dieses Mal nüchtern, wieder mit Sack und Pack auf die Motorräder und fuhren mit ihnen ins Wochenendhaus von Lacis Eltern am Velencer See, der auf halbem Weg zwischen Budapest und dem Balaton liegt.

Ein weiß getünchtes Lehmhaus, kühl in der Hitze, spartanisch, aber sauber, sie aßen das himmlischste aller Brote – riesige, dicke Scheiben frischen ungarischen Weißbrots, das nach Wein und Sonne schmeckt - mit Schmalz, Tomaten und Paprika, Überraschungspaprika, denn unter den normalerweise milden Schoten konnte sich schon mal eine extrem scharfe finden, das merkte man erst, wenn es zu spät war – immer nur Brot, Schmalz, Tomaten und Paprika, und es wurde ihnen nie zu viel. Sie badeten stundenlang im ruhigen, klaren See, der zwar genauso flach und warm war wie der Balaton, dafür aber fast tourifrei, und philosophierten und lachten die Nächte durch.

Nun, so ähnlich lief es in Ungarn überall. In Miskolc hatte Neila eine Adresse, Lajos, den sie im Vorjahr bei den Weltfestspielen in Berlin kennen gelernt hatte. Der Briefwechsel war nach drei Monaten sanft eingeschlafen, und unsere beiden Heldinnen gedachten, Lajos zu überraschen. Es öffnete eine Großmutter, die mit Bedauern und großen Augen verkündete, Lajos sei leider bei der Armee, aber sie sollten doch erst einmal reinkommen und etwas essen, und sicher bräuchten sie auch eine Übernachtung, also vorwärts – sie ließ den Mädchen gar keine Zeit zum Diskutieren, sondern zog sie einfach in die Küche, platzierte sie am Tisch und trug Essen auf. Ein gelernter Deutscher, egal, ob Ost oder West, ist in solchen Situationen, wenn er sie zum ersten Mal erlebt, zunächst einmal so geplättet, dass ihm Widerstand gar nicht in den Sinn käme.
"Das hier ist Lajos‘ Bruder, Károly. Der wird euch morgen die Stadt zeigen", verfügte die Großmutter. Károly freute sich wie ein Schneekönig und lief wirklich drei Tage lang mit ihnen durch die anheimelnde Stadt Miskolc, machte mit ihnen einen Abstecher ins Bükk-Gebirge, zeigte ihnen den Lillafüred-Wasserfall und das Schloss Andrássy in Tiszadob, das für jeden Tag des Jahres ein Fenster, für jede Woche des Jahres ein Zimmer, für jeden Monat des Jahres einen Turm und für jede Jahreszeit einen Eingang hat, wie Károly stolz erklärte, und schleppte sie zum glorreichen Schluss noch in einen Plattenladen, in dem es WESTPLATTEN gab! Srüne und Neila schlug das Herz höher als die Geldbörse. Bei Srüne reichte es für Crosby, Stills, Nash und Young und bei Neila für John Lennon und Joan Baez. Das waren ihre ersten "richtigen" Schallplatten.

Auf dem Rücktramp nach Budapest wollten die beiden jungen Männer, die sie mitnahmen, Neila um nichts in der Welt glauben, dass sie keine Ungarin sei.
"Aber doch, ich bin Deutsche!"
"Niemals! Kein Deutscher spricht so akzentfrei ungarisch. Du kommst vielleicht aus Deutschland, aber du bist Ungarin."
Srüne wurde als Zeugin nicht akzeptiert, erst Neilas Personalausweis ließen sie gelten, wunderten sich aber weiter: "Du hast aber bestimmt ungarische Vorfahren..."
"Nichts dergleichen, urdeutsch und doof", lachte Neila.
Auch Srüne war wie verwandelt. Vor einem halben Jahr, als die Studienbewerbungen abgeschickt werden mussten, hatte sie sich für Rumänien entschieden, weil sie aus einer Französischklasse kam, denn sie folgerte, eine Sprache aus der gleichen Sprachfamilie würde leichter zu erlernen sein. Um Gottes Willen nicht nach Ungarn, das ist ja eine ganz fremde Sprache!
Diese ganz fremde Sprache hatte sie innerhalb von drei Wochen ohne besondere Sprachbegabung so gut gelernt, dass sie gegen Ende ihrer Ferienreise fast keine Dolmetscherin mehr gebraucht hätte. Als solche hatte ihr Neila allerdings eine Menge Vergnügen mit der betulichen, präzise artikulierenden ungarischen Sprache und ihren breiten, strahlenden Vokalen bereitet, besonders in Miskolc, wenn Károly - "Kaaaroj" - um eine "Kaaaro" bat...
"Warum habe ich nur Rumänien genommen? Ungarn - das wär's gewesen!" seufzte Srüne auf der Heimfahrt, nachdem sie sich für immer aus Zolis Umarmung gelöst hatte...

* * *

Sommer! Weißt du noch den Tag, als sie sagten, sie laden uns ein?
Sommer! Ach, wir mussten lachen. Schnell betrinkt man sich an diesem Wein.

Abend. Rasch noch ein paar Blicke in den Spiegel: Gut sahen wir aus.
Gut genug, um sich zu verlieben? Warum nicht? Kühl war es vorm Haus.

Feuer, roter Wein und Küsse. Viel zu schnell ging doch die Zeit vorbei.
Feuer. Heiße, wilde Flammen. Einen Sommer lang waren wir frei.

Liebe, schönster Traum des Lebens. Wie wird das Erwachen für uns sein?
Liebe. Niemals wird sie enden, schließt auch einst nur Stille sie in sich ein.

Text: Angela Nowicki, inspiriert von
Titel und Musik: Omega együttes "Emlék (Csenddé vált szerelem)"

Dienstag, 11. Oktober 2011

Gehetzt

... in einem Laden, Nachbar angerufen, der musste erst noch auf mehrere warten, wollte dann kommen, kam ewig nicht, rief auch nicht mehr an, bis ich bemerkte, dass der Typ der Verkaufsbereichsleiter ist, der sowohl im Aussehen als auch im Charakter Craig, dem Geschäftsführer in Malcolm Mittendrin ähnelte - regte mich auf - draußen war dann ein würfeliger Dachaufbau, da kletterte ich immer rein, doch sie hatten die Leiter weggenommen, erst war ich immer noch runtergesprungen, doch jetzt war ich barfuß und unten grober Schotter, und es war so hoch - drinnen war nichts weiter, links ging's auch nicht weiter, hatten sie mit weichem Zeug, Moosholz oder so, dicht gemacht, ich musste da wieder raus...
Was mache ich eigentlich hier?
... ich dachte, ich will doch rauchen, draußen links fiel der Blick auf bewaldete Berge, sehr schöner Ausblick - dann war es auf einmal doch nicht so hoch, ließ mich bäuchlings runter, aber unten waren Stacheln, die ich nicht zuordnen konnte - ich kam runter und untersuchte dann die Stacheln, wo und was die sind...

... abends auf dem Bahnhof, hergekommen war ich prima, jetzt konnte ich nicht rausfinden, wann der Zug zurück nach Friedrichshafen fährt - sie hatten eine Verspätung durchgesagt, die Bahnangestellten telefonierten dauernd mit unförmigen Apparaten - ja, es war meiner: sollte eigentlich jetzt halb sieben (?) fahren, kommt aber nicht vor 21 Uhr (!) - der Bahner fragte mich, ob ich nicht gerade 21 Uhr noch Leute erwarte - ja, das waren Rahel und Salomo, die aus ihrem Urlaub hier ankommen wollten - sie kamen, der Zug fuhr immer noch nicht, sie aßen und erholten sich erst mal, und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich nichts für sie vorbereitet hatte, sondern sie sich alles selber machten - Rahel erzählte, wie sie mit ihrem Onkel unterwegs gewesen seien, der sei so furchtbar, bleibt einfach vor einer Kirche stehen und glotzt sinnlos dran hoch, was gibt's da schon zu sehen? - ich sah die Kirche, hatte Wahnsinnsfiguren an der Fassade, farbig, und eine bewegte sich sogar, die lebte! - und ich verstand Rahel wiederum nicht, das ist doch faszinierend!

© Angela Nowicki, 30. September 2010

Sonntag, 9. Oktober 2011

A day in the life

He blew his mind out in a car...

Sehr müde, leichte Augenmigräne. Als ich nach dem Frühstück immer noch nicht fitter war, duschte ich. Danach ging es mir besser. Wir fuhren in den Stadtpark – und da brach die richtige Augenmigräne aus. Es wurde immer schlimmer, besonders im Auto. Zu Hause erst mal einen Kaffee und eine Dolormin.

Längere Zeit quälte ich mich mit der Migräne über dem Human Design rum. Nachmittags beschloss ich kurzerhand, mein Zimmer sauber zu machen. Dazu hörte ich Händel, Grieg, Pachelbel und Charpentier, und bei letzterem durchfuhr mich ein uraltes Glück. Draußen rauschte ein kleiner Wind durch die Blätter, die Sonne schien, es war so still, und dazu dieses Te Deum... Was brauche ich mehr? Es ist das, wohin ich immer wollte. Dieser Schlosspark aus der unbekannten Erinnerung, dieses Daheimsein, diese Stille... Wo und wann war das? Seit Jahren weht mich diese Erinnerung an, aber heute war sie fast schon manifest. Ich war fast dort.

Als ein Meeresräucherstäbchen mein Zimmer durchduftete – ja, auch dieser Duft gehört dazu! –, schob ich den Kirschstrudel in den Ofen. Beim Kaffeetrinken rief M. an. Sie hatte ihre Menü- und Navigationsleiste im Browser verloren und infolge dessen entdeckt, dass ihre Seite inzwischen bei Google gefunden wird. So hatte sie zwei Freuden an diesem Tag, denn ich rief sie später zurück und half ihr, die beiden Leisten wiederzuholen. Dazu erklärte ich ihr noch, wie man Lesezeichen setzt und mit Tabs umgeht, und ich glaube, sie hat es verstanden.

© Angela Nowicki, 9. Juli 2011

Samstag, 8. Oktober 2011

Kapitel 7: Ungarn zu zweit

oder
Anstand muss sein


Jazz nad Odrą! "Du bist gerade richtig gekommen", sagten die Wrocławer Freunde. Neila freute sich. Da hatte sie tatsächlich einen guten Riecher gehabt, eingedenk dessen, dass sie von diesem Festival bisher noch nie gehört hatte. Jazz an der Oder, das jährliche internationale Jazzfestival. Hier traf sich die Welt, hier hatten schon Stars gespielt, und hierher kamen die Langhaarigen aus aller Herren Länder, selbst wenn es nur die der kommunistischen Herren waren, ein kleines Hippietreffen.
Am ersten Abend spielte Buddy Rich. Neila war nicht begeistert. Dafür umso mehr von dem Pickup mit der Aufschrift Florida, Sunshine State. Sehnsüchte wurden wach. Und Erinnerungen an ihren Solotramp nach Ungarn vor zwei Jahren.

* * *

Sie hatte gerade das Abi in der Tasche, da hieß es, die Stones spielen in Warschau. Wer würde da noch lange überlegen – auf nach Warschau! Später hieß es, es habe Zoff mit den kommunistischen Machthabern gegeben, vielleicht auch einen Drogenskandal, aber am Ende war alles nur ein Gerücht gewesen. Aber es gibt eine Hippiewallfahrt in Polen! Eine echte Hippiewallfahrt? Das ist ja fast noch besser als die Stones! Neila und ihre Freundin Billy beschlossen, zu den Hippies zu trampen. Hippies! So etwas gab es in der DDR eigentlich gar nicht, vielleicht in Berlin, aber in der Provinz blühte die Blueserszene, da gab es nur Kunden oder Tramper. Von dem, was Neila sich unter Hippies vorstellte, unterschieden sie sich zunächst einmal durch ihre Uniform: Jeans, Jesuslatschen, Parka und Hirschbeutel. Und an Stelle der unerreichbaren Drogen tranken sie Bier oder billigen Rotwein. Stierblut oder Rosenthaler Kadarka. Vor allem aber hatten echte Hippies Fantasie und träumten sich ihre Welt, während die deutschen Kunden in der Woche brav arbeiten gingen oder sich mehr oder weniger vernünftig in die soziale Ethik der protestantischen Kirche einreihen ließen. Neila verabredete sich mit Billy für den 1. August auf dem Bahnhof in Görlitz. Vorher wollte sie allein nach Ungarn trampen.

* * *

Sie war im Vorjahr mit Srüne dort gewesen. Einfach losgefahren, ohne Adresse und mit einem mehrere hundert Quadratkilometer großen Ziel: Budapest. Erst unterwegs hatten sie sich überlegt, wie sie es anstellen wollten, eine Übernachtung zu finden. Die ansonsten so nüchterne Srüne hatte eine ziemlich abgefahrene Idee: "Wenn wir aus dem Zug aussteigen, fragst du einfach die ersten Leute, die uns über den Weg laufen, nach einer billigen Unterkunft." Neila war die Dolmetscherin.

Als sie nach der über zwölfstündigen Fahrt endlich den Keleti pályaudvar erreichten, öffneten sich ihnen die Tore ins Dorado. Alles war so hell, so bunt, so anders und so aufregend, dass sie vor Herzklopfen blind quer über den halben Bahnhof stolperten und staunten, bis Srüne wieder zur Vernunft kam und Neila anstieß: "Wollten wir uns nicht eine Penne suchen?" Und wie es dem Gott der Reisenden gefiel, trieb er ihnen das Opferlamm in Gestalt dreier hübscher, junger Ungarn vor die Nase. Es könnte wohl ein kleiner Schacher im Spiel gewesen sein, denn bei den ungewohnten Menschenmassen war es nicht so ganz einfach, sich auf den Ersten zu einigen, doch wie dem auch sei - es war das beste Opferlamm, das ihnen begegnen konnte. Die drei Hübschen gerieten in keine kleine Verlegenheit, drehten und wendeten sich und warfen einander verstohlene Blicke zu, bevor sie mit größtem Bedauern verkündeten, sie wüssten leider kein Hotel, dass billig und nicht überfüllt sei, schaut, lányok*), es ist Hochsommer, Urlaubszeit, die ganze Welt kommt nach Budapest, aaaber... wenn es ihnen nichts ausmache... es träfe sich gerade ganz wunderbar, dass Zoli sturmfreie Bude, sprich: ein sturmfreies Einfamilienhaus habe, und es wäre ihm eine unaussprechliche Ehre, die deutschen Gäste beherbergen zu dürfen, bis sie sich in Ruhe nach einem Hotelzimmer umgesehen hätten...
Da standen die drei, Zoli, Laci und Pista, und sahen sie erwartungsvoll an, und Neila und Srüne sahen sich an, und ihr Blick sagte: ‚Wahnsinn! Aber Anstand muss sein.‘ Also wandte sich Neila wieder an die Burschen mit einer freundlichen Ablehnung, aber das gehe nun wirklich nicht, dass junge Mädchen zu wildfremden Männern... Kein Mann hat je unschuldiger ausgesehen als unsere drei Husaren, als sie entrüstet versicherten, sie hätten nie etwas Derartiges im Sinn gehabt, es sei reine Gastfreundschaft und werde das auch bleiben, nem probléma, csak nyugalom**)!

*) Mädchen
**) Kein Problem, nur keine Bange!

Mittwoch, 5. Oktober 2011

Das Wunderkind

Rahels Söhnchen war zwei Wochen alt, und Ilka bat ihre Eltern, Ruah und Adam, eine Weile auf ihn aufzupassen. Er war gerade gefüttert und ins Bettchen gelegt worden, er hatte die Augen geschlossen und sollte schlafen. Ruah massierte ihn noch sanft vor dem Einschlafen, da verzog sich sein Mund zu einem seligen Lächeln.
"Schau!" sagte sie zu Adam. "Er lächelt."
"Ist doch ganz normal", konterte das Kind mit geschlossenen Augen. "Das ist wie bei der polnischen Basketballmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Japan."
Ruah riss die Augen auf.
"Hast du das gehört? Der spricht schon! Mit zwei Wochen spricht der Junge schon wie ein Dreijähriger!"
Adam schien es nicht richtig gehört zu haben, aber Ruah geriet ganz aus dem Häuschen und versuchte immer wieder, das Kind zum Sprechen zu bringen. Und das Kind sprach. Allerdings redete es nie von selbst, sondern nur, wenn man ihm eine Frage stellte und auf die Antwort wartete.

Als Rahel zurückkam, erzählte sie ihr ganz aufgeregt von ihrem Wunderkind. Rahel nickte und freute sich, nahm die Sache aber auf wie etwas, was zwar nicht selbstverständlich, aber auch nicht weltbewegend ist. Ruah war da anderer Meinung. Während Rahel ihn wickelte, brachte sie den Jungen immer wieder zum Sprechen und konnte sich gar nicht wieder fassen vor Begeisterung. Sie verstand nicht, wieso das niemand das Wunder begriff.

Sie wollte es Rahels Freund Salomo erzählen, und Rahel rief ihn. Salomo kroch hinter einem Schrank hervor und war so groß, dass er sich um die Hälfte seiner Körpergröße bücken musste, um durch die Küchentür zu passen. Er lief immer hinter Rahel her und tat und sagte dasselbe wie sie.

Die Altbauwohnung hatte viele Räume mit weißen Türen, die von einem verwinkelten Flur abgingen. Von Stund an war Ruah ganz versessen darauf, sich so oft wie möglich um Rahels Söhnchen kümmern zu dürfen, und freute sich sehr, als Rahel sie wieder zu ihm rief. Doch als sie sein Zimmer suchte, fand sie ihn nicht. Sie hatte schon alle Türen geöffnet, aber das Kind lag hinter keiner.
"Ich muss noch einmal von vorn anfangen", sagte sie sich. "Und systematisch vorgehen."
Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Da sah sie das Kind. Das kleine, runzelige Wesen, das gerade erst geboren zu sein schien, lag in seinem Bettchen und blickte mit tellergroßen Augen, die blau waren wie die Tiefe, staunend zur Zimmerdecke auf. Als Ruah ihre Augen in diese Tiefe fallen ließ, wusste sie, dass sie sich geirrt hatte. Das Wunder, das sie immer gesucht hatte, lag hier vor ihr, ein winziges Mädchen mit ihren tellergroßen Augen, blau wie die Tiefe.
"Wir werden es Ruah nennen", sagte sie zu Adam. "Das heißt Gottes Atem."

© Angela Nowicki, 20. September 2010

Montag, 3. Oktober 2011

Reise ins Kehlchakra

Beim allerersten Besuch in diesem Chakra, der viel zu schemenhaft und bildarm geblieben war, hatte ich unter anderem ein großes, sich drehendes Mühlrad gesehen und einen Bauer mit einer Bäuerin beim Mähen. Beide waren jung, standen parallel zueinander und bewegten sich synchron in einem gleichmäßigen Rhythmus.

Lange Zeit später besuchte ich dieses Chakra wieder. Dieses Mal betrat ich einen Raum, dessen Fenster zur rechten Seite hinaus ging. Durch das Fenster sah ich einen Hof wie den realen vor meinem Zimmer, aber die Eschen waren großen schwarzen Farnen ähnlich – der ganze Hof stand voller riesiger schwarzer Bäume mit farnähnlichen Kronen, die sich im Wind wiegten.

Mir gegenüber führte eine Tür in eine Fabrikhalle oder einen Maschinenraum. Ich betrat diese Halle über eine stählerne Brücke, die über einen Graben führte. In diesem Graben verliefen auf der linken Seite der Brücke parallel zu ihr zwei oder drei große Rohre, ähnlich den Heizrohren in der Stadt. Das heißt, die Rohre liefen quer durch den Graben; sie kamen aus einer Seitenwand heraus und verschwanden wieder in der anderen.

Hinter der Brücke ging es nach links weiter, rechts war die Hallenwand. Ich lief auf Betonboden, den Graben jetzt zur linken Hand, zur rechten eine verglaste Wand, ein riesiges, schmutziges Fabrikfenster, das von der Decke bis unter den Boden reichte. Davor saßen auf einer Betonschwelle mehrere Personen, alle mit dem Rücken zu mir und dem Gesicht zum Fenster. Sie saßen unbeweglich und schwiegen und schauten unverwandt zum Fenster hinaus. Es gelang mir nicht, ihnen in die Gesichter zu schauen, also versuchte ich wenigstens zu erkennen, was es dort draußen so Interessantes gebe. Rechts erkannte ich nach einiger Zeit eine weite Landschaft mit ein paar Bäumen.

Ich kehrte zurück in den ersten Raum und entdeckte dort gegenüber dem Fenster eine Maueröffnung, die in ein steiles, verschneites Hochgebirge hinaus führte. Eine Gestalt im roten Kapuzenmantel hastete den Berghang empor. Neugierig folgte ich ihr. Ich versuchte, sie einzuholen, doch erst an einer kleinen Berghütte, die linkerhand auf dem Hang auftauchte, blieb die Gestalt stehen, wandte sich um – es war ein Mann – und wartete auf mich.
Er bat mich in die Hütte. Ich sah eine mit altertümlichen Holzmöbeln eingerichtete Küche, gelangte dann in eine gemütliche Stube, wo er mir anbot, mich auf das Sofa zu legen. Ich setzte mich, blickte auf den Tisch und wartete, dass er mir irgendetwas Wichtiges sage oder zeige, doch nichts dergleichen passierte. Er war nur da und schaute. Da verabschiedete ich mich wieder und kehrte zurück zum Ausgang meines Kehlchakras.

© Angela Nowicki, Februar 2010

Samstag, 1. Oktober 2011

Kapitel 6: Wrocław - Częstochowa (2)


Endlich gehen wir los auf die Wiese, wo die Messe sein soll. Unterwegs begegnet uns ein Mann, der mir bekannt vorkommt. Michał spricht ihn wegen irgendwas an. So lerne ich Pater Andrzej kennen, den Hippie-Priester. Auf der Wiese sind schon etliche Leute versammelt, immer mehr kommen an. Drei oder vier Priester stehen etwas abseits und nehmen die Beichte ab. Sie sind ständig besetzt. Wir setzen uns, und ich breite erst mal gründlich meine Klamotten aus.
Michał drückt mir eine Art Flugblatt in die Hand und übersetzt es mir mühsam:

Jesteście obywatelami narodu, którego prawodawcy tworzą dla was prawa. Prawa te nakazują abyście byli wolni w chodzeniu do szkoły do 18 roku życia, wolni w odbywaniu obowiązkowej służby wojskowej, wolni w przyglądaniu się jak waszą wolność kontroluje policjant.
A policjant, to wasz przyjaciel, który broni was przed swobodną włóczęgą, buntem i obaleniem i przed wami samymi.

Ihr seid Bürger einer Nation, deren Gesetzgeber für euch die Gesetze machen. Diese Gesetze verordnen euch die Freiheit, bis zum 18. Lebensjahr zur Schule zu gehen, die Freiheit, die Wehrpflicht abzuleisten, und die Freiheit zuzuschauen, wie die Polizei eure Freiheit kontrolliert.
Die Polizei aber ist euer Freund und Helfer, der euch vor dem freien Umherziehen schützt, vor Meuterei und Umsturz und vor euch selbst.


Ich tausche noch mal Geld, auch wieder eins zu sechs. Da sehe ich Andrzej, von dem ich voriges Jahr das Peace-Abzeichen bekommen habe. Er war ein Junkie und auf dem Weg zurück in die Entzugsklinik, in der er seit einiger Zeit lebte. Ich hatte ihn dorthin begleitet. Ich rufe ihn, und er begrüßt mich überschwänglich. Doch ich habe den Eindruck, dass er nicht so genau weiß, wer ich bin. Er nennt mich auch bei einem ganz anderen Namen. Ich sage ihm, ich sei Neila, aber er geht nicht weiter darauf ein. Er müsse schnell mal woanders hin, er käme gleich wieder, sagt er. Ich unterhalte mich mit den anderen, schreibe Michał den Text von Gerhard Schönes Schlaflied auf und übersetze ihn. Michał ist laufend verschwunden. Dann kommt Andrzej tatsächlich wieder. Im Gespräch stellt sich heraus, dass er sich doch noch an mich zu erinnern scheint. Er ist noch in der Klinik, in zwei Monaten kann er aber nach Hause. Schön, sage ich, dann bist du frei. Er sagt: "Ich bin frei."
Irgendwie beeindruckt mich das.

Als so ziemlich alle eingetrudelt sind, beginnt die Messe. Zuerst singen wir mit Pater Andrzej "Alleluja", "Matka, która wzsystko rozumie" und vieles mehr. Dazwischen werden Souvenirs verteilt: ein Zettel mit dem Titel "Akt oddania się Matce Bożej" (ein Mariengebet) und ein kleines, ovales, silbernes Marien-Amulett der Matka Boska Częstochowska. Dann beginnt der Gottesdienst. Ein Priester predigt. Er erzählt den Leuten von ihrer Stellung und Aufgabe und von ihren Schwierigkeiten in der Gesellschaft. Zum Schluss stehen wir alle, sprechen die Liturgien, und plötzlich erheben sich alle Hände zum Victoria-Zeichen. Dann noch einmal: Hunderte von Siegeszeichen, und ein tausendstimmiges "Hej!" fliegt über die Stadt. Da ist es bei mir wieder, dieses überwältigende Gefühl der Gemeinsamkeit, wie eine große Familie sind wir, und ich habe Millionen Freunde...

Die Messe ist vorbei, es wird schon dunkel, aber alle bleiben noch, unterhalten sich, spielen Flöte, Gitarre oder Mundharmonika, tauschen Adressen. Da kommt Wolf wieder. Er hat Helmut nicht gefunden:
"Die sitzen sicher in irgend'ner Kneipe und lassen sich volllaufen! Der verfluchte Schweinehund, und ich renn mir die Beine aus dem Leib!"
Ich strolche mit ihm noch ein bisschen durch die Gegend, er verabschiedet seine beiden Liesen, dann erzählt er mir von dem Yogi. Derselbe, von dem Helmut schon letztes Jahr so viel erzählt hatte. Wolf hat mit ihm gesprochen, ziemlich lange. Er sei kein Yogi, zwei Übungen nur beherrsche er. Er sei sehr glücklich, denn diese Yoga-Übungen hätten es ihm ermöglicht, seinen Gesichtsausdruck vollkommen zu beherrschen, außerdem habe er jetzt ganz gesunde Zähne und fühle sich überhaupt kerngesund, er sei nie mehr krank, er fühle sich prächtig und freue sich sehr darüber. Er könne dazu noch seine Hunger-, Hitze- und Kältegefühle weitgehend beherrschen. In Frankreich soll er studiert haben, habe eine Wohnung in Wrocław und eine in Przemyśl. Beide Adressen hat er Wolf gegeben, dazu noch die Skizze des Weges zu einer Kommune in den Bieszczady, und der gibt mir das jetzt alles zum Abschreiben. Wolf ist wahnsinnig begeistert von diesem Yogi, er schwärmt regelrecht. Besonders gefällt ihm, dass der Yogi keine Religion hat, er stehe über allem, und dass er immer mit einem strahlenden Lächeln zu sehen sei.
"Alles ist gut", soll er geäußert haben.
Ich erzähle Wolf wiederum, dass die Grundausbildung in Rothenburg wahrscheinlich aufgelöst werden soll, und den ganzen Quatsch aus dem Martinshof. Das schockt ihn doch ein bisschen. Dann die einmalige Reaktion: Wenn sie ihn aus der Ausbildung schmeißen, geht er nach Polen. Wenigstens erst mal für ein Jahr. Ich lache mir bald die Seele aus dem Leibe und könnte ihm am liebsten um den Hals fallen. Wir verabschieden uns noch von Michał und gehen langsam runter zum Zelt der Deutschen.

Vor dem Zelt brennt ein Feuer, und als Ersten erblicke ich: Helmut! Die Begrüßungszeremonie kann ich weglassen, ich finde dafür sowieso keine Worte. Er kann's gar nicht fassen, dass ich da bin, tausendmal stoßen wir uns an und brechen in Lachen aus, er zeigt mir stolz die Armkette aus meinen Holzperlen, er hat sie jetzt auf Wildlederband aufgezogen, und stellt mich gerührt den anderen vor: Das sei die Neila, und, zu mir gewandt: Sie hätten den anderen schon die ganze Zeit viel über Siglind und mich erzählt. Es ist eine schöne Überraschung für mich: Zählen sie mich also auch zu den besten Freunden, sind wir jetzt vier?
Da fordert mich der eine mit der Gitarre auf, mal ins Licht zu kommen. Nun erkenne ich ihn auch: Es ist der Typ, den ich mit seiner Freundin in Karl-Marx-Stadt an der Autobahn getroffen habe. Sie wollten in die Tatra. Jetzt sind sie durch mich nach Częstochowa gekommen. Wir singen noch lange. Eins von den beiden Mädchen setzt sich zu Wolf. Sie kommt mir bekannt vor. Woher sie komme, frage ich sie. Aus Oberhof. Ich weiß Bescheid, und auch sie erkennt mich mit großem Hallo wieder. Auf dem Weg von Wandersleben nach Zella hatte ich sie getroffen. Sie hatte mir die Adresse ihrer Schwester in Oberhof gegeben: Mutesius, Kindergarten. Wir lachen.
Später setzt sich noch ein Pole dazu, einer von den Leuten. Er unterhält sich mit Wolf, und durch ihn kommen wir drei zu einer Penne. Oben ist ein Lagerfeuer, an dem noch einige Jugendliche von der Wallfahrt sitzen und singen. Wir gehen erst mal mit dem Polen mit zu ihrem Zelt. Dort sitzt eine ganze Meute und unter ihnen Pater Andrzej. Im Zelt können wir nicht mit schlafen, es ist kein Platz mehr, doch Andrzej hat was für uns. Er bringt uns in das Haus, wo die Wallfahrt immer schläft, in den Keller. Dort liegen schon an die vierzig oder fünfzig Hippies auf der Erde und auf Tischen. Helmut ist beim Lagerfeuer oben geblieben, Wolf und ich wollen ihn jetzt holen. Helmut will noch bleiben, er hat keine Lust, schon zu schlafen. Aber Wolf ist müde. So gehen wir wieder runter. Auf halbem Weg überleg ich's mir: Ich möchte eigentlich auch noch oben bleiben. Ich gehe wieder zu den anderen. Helmut lacht und freut sich. Ein polnisches Mädchen lädt mich mit einer Handbewegung ein, mich auf das Motorrad zu setzen. Kaum sitze ich, kommt ein Bulle und bittet uns auseinanderzugehen. Es sei schon spät, und alle wollten schlafen. So singen wir noch ein letztes Lied, dann geh ich mit Helmut runter.
Ich muss seinen Schlafsack mit beanspruchen, weil bei mir alles noch nass ist. Er willigt ohne Weiteres ein. Drunter legen wir meine Plane, auf den Schlafsack noch meine Decke, das ist zwar auch alles noch feucht, aber besser als gar nichts. Meine Hosen sind überhaupt noch kein bisschen trockener geworden. So liege ich auf dem harten Erdboden in nassen Hosen, in klamme Klamotten eingewickelt, schmutzig, mit einem ekelhaften Geschmack im Mund, dass ich mich selbst anstinke, und von allen Seiten zieht es, weil Helmut im Schlaf die ganze Decke für sich beansprucht. Außerdem drängt er mich laufend von der Plane runter, dass ich wie eine Sardine gequetscht werde; es ist schon so eng genug. Ich kann lange nicht einschlafen, und wenn ich schon mal schlafe, werde ich jede halbe Stunde wieder wach. Das erste Mal wünsche ich mir aus tiefstem Herzen, jetzt bei Mutter zu sein und sauber und mit geputzten Zähnen in ein frisch bezogenes, warmes Bett kriechen zu können...