Samstag, 15. Oktober 2011

Mein Lebensbaum, erste Reise

Schamanische Reisen, die ich einfach Seelenreisen nenne, führen uns in geistige Welten, die unvergleichlich komplexer und vielgestaltiger sind als die materielle Welt unseres Alltags. Was wir in diesen Welten finden, wohin wir gelangen, ist zum überwiegenden Teil individuell völlig verschieden. Dennoch gibt es bestimmte feste Elemente, Orte und Vorgänge, die all diesen Welten gemeinsam sind, die also jeder Mensch auf seinen Seelenreisen irgendwann einmal finden oder erleben wird, wenn auch in individuell unterschiedlicher Gestaltung.
Eines dieser universellen Elemente ist der Lebensbaum. Jeder Mensch hat in der geistigen Welt seinen Lebensbaum, der seine Verwurzelung in dieser Inkarnation, seine Einbindung in den Alltag und sein Energiemuster spiegelt. Auf einer Seelenreise seinen persönlichen Lebensbaum zu finden, ist ein wichtiger Schritt zur Selbsterkenntnis, doch nicht nur das: Unser Lebensbaum kann uns auch Kraft geben, wenn wir erschöpft oder depressiv sind, er kann uns geistige Klarheit vermitteln und uns sogar heilen - vorausgesetzt, er ist gesund und gut verwurzelt.
Um seinen Lebensbaum zu finden, begibt man sich am besten, wie gewohnt, in die Unterwelt und bittet sein Krafttier, einen dorthin zu führen.

* * *

Als ich zum ersten Mal meinen Lebensbaum besuchen wollte, bekam ich von Anfang an überhaupt keine deutlichen Bilder. Hulda, meine Schildkröte, war zwar da, aber irgendwie verändert, als hätte sie Speed genommen. Sie lachte dauernd wie blöde und zog Grimassen. Als ich sie fragte, was sie gern fresse, sagte sie: "Leber!" Oh, mein Gott! Mehr kriegte ich nicht aus ihr raus, also gab ich ihr eine rohe Leber, die sie auch gierig verschlang. Sie führte mich dann durch einen ebenerdigen, engen Tunnel auf der rechten Seite der Halle nach draußen, wo wir auf einer Plattform herauskamen, und zeigte mir meinen angeblichen Lebensbaum.

Erst war er ein paar Sekunden lang schön, riesig und voll, aber dann war immer nur eine Hälfte von ihm zu sehen, mal die rechte, mal die linke. Und dann ging der bad trip los: Dauernd veränderte sich der Baum, er hielt überhaupt keine Form, und als ich ihn endlich mal anfassen und richtig anschauen wollte, war er plötzlich verschwunden, und ich stand inmitten vieler Bäume. Ich war verzweifelt und wütend und rief, ich wolle meinen Lebensbaum sehen und nicht irgendwelche Bäume. Aber Hulda war auch kaum geistig anwesend, und wenn sie schon mal auftauchte, reagierte sie gar nicht auf mich.

Ich mühte mich lange, meinen Lebensbaum wiederzufinden, aber jedes Mal, wenn er wieder mal zu erscheinen geruhte, hatte er sich was anderes ausgedacht: Einmal brannte er, aber nicht im Feuer, sondern in unheimlich dicken, blendenden Lichtwellen, die dauernd ihre Farbe wechselten. Einmal war es ein riesiger Pilz. Ein Lebenspilz, kein Lebensbaum! Und einmal wurde ich selbst zu einem Baum, aber das war gar nicht lustig, weil ich mich regelrecht im Nichts auflöste.

Ich war Nichts und Alles, ich war das Universum oder wie immer DAS heißt, was halt existiert. Ich FÜHLTE, dass DAS (ich) nicht einfach SEIN kann, denn dann wäre es nichts, sondern sich gestalten muss – das heißt, es muss sich gestalten und wandeln, wie die Sonne scheinen muss oder Feuer heiß ist – die unendliche Wandlung ist eine immanente Eigenschaft des DAS. Und ich war ein Pseudopodium des DAS, eines von unendlich vielen, jedes war eine eigene Welt und ich natürlich auch, klar, aber letztlich war ich halt eine Ausstülpung des ALLES UND NICHTS. Das heißt, mein Bewusstsein war eine Ausstülpung. Jedes Bewusstsein ist eine Ausstülpung des ALLESUNDNICHTS, das ist alles.

Eigentlich ja ein Wahnsinnserleben, nicht? Voll die Erleuchtung oder was. Aber mir ging es damit gar nicht gut. Ich war einfach überfordert. Ich wurde fast wahnsinnig, die Reise wurde für mich geistig unerträglich anstrengend, bis ich dachte, ach, Mensch, bloß raus hier! Zum Schluss sah ich nochmals meinen Lebenspilz, der jetzt viel kleiner und ganz dünn war, in einer riesigen, blendenden, eiförmigen Aureole.

Hulda war einfach nicht "da". Sie spann bloß rum oder reagierte gar nicht, nicht einmal richtig verabschieden konnte ich mich von ihr. Sie machte den Eindruck, als sei ihr von der Leber schlecht geworden. Irgendwie wurde ich einfach aus der Unterwelt heraus katapultiert und sah absolut nichts, so dass ich schnellstens die Augen öffnete. Hat geschlaucht, die Reise.

© Angela Nowicki, 31. Juli 2010

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