Samstag, 8. Oktober 2011

Kapitel 7: Ungarn zu zweit

oder
Anstand muss sein


Jazz nad Odrą! "Du bist gerade richtig gekommen", sagten die Wrocławer Freunde. Neila freute sich. Da hatte sie tatsächlich einen guten Riecher gehabt, eingedenk dessen, dass sie von diesem Festival bisher noch nie gehört hatte. Jazz an der Oder, das jährliche internationale Jazzfestival. Hier traf sich die Welt, hier hatten schon Stars gespielt, und hierher kamen die Langhaarigen aus aller Herren Länder, selbst wenn es nur die der kommunistischen Herren waren, ein kleines Hippietreffen.
Am ersten Abend spielte Buddy Rich. Neila war nicht begeistert. Dafür umso mehr von dem Pickup mit der Aufschrift Florida, Sunshine State. Sehnsüchte wurden wach. Und Erinnerungen an ihren Solotramp nach Ungarn vor zwei Jahren.

* * *

Sie hatte gerade das Abi in der Tasche, da hieß es, die Stones spielen in Warschau. Wer würde da noch lange überlegen – auf nach Warschau! Später hieß es, es habe Zoff mit den kommunistischen Machthabern gegeben, vielleicht auch einen Drogenskandal, aber am Ende war alles nur ein Gerücht gewesen. Aber es gibt eine Hippiewallfahrt in Polen! Eine echte Hippiewallfahrt? Das ist ja fast noch besser als die Stones! Neila und ihre Freundin Billy beschlossen, zu den Hippies zu trampen. Hippies! So etwas gab es in der DDR eigentlich gar nicht, vielleicht in Berlin, aber in der Provinz blühte die Blueserszene, da gab es nur Kunden oder Tramper. Von dem, was Neila sich unter Hippies vorstellte, unterschieden sie sich zunächst einmal durch ihre Uniform: Jeans, Jesuslatschen, Parka und Hirschbeutel. Und an Stelle der unerreichbaren Drogen tranken sie Bier oder billigen Rotwein. Stierblut oder Rosenthaler Kadarka. Vor allem aber hatten echte Hippies Fantasie und träumten sich ihre Welt, während die deutschen Kunden in der Woche brav arbeiten gingen oder sich mehr oder weniger vernünftig in die soziale Ethik der protestantischen Kirche einreihen ließen. Neila verabredete sich mit Billy für den 1. August auf dem Bahnhof in Görlitz. Vorher wollte sie allein nach Ungarn trampen.

* * *

Sie war im Vorjahr mit Srüne dort gewesen. Einfach losgefahren, ohne Adresse und mit einem mehrere hundert Quadratkilometer großen Ziel: Budapest. Erst unterwegs hatten sie sich überlegt, wie sie es anstellen wollten, eine Übernachtung zu finden. Die ansonsten so nüchterne Srüne hatte eine ziemlich abgefahrene Idee: "Wenn wir aus dem Zug aussteigen, fragst du einfach die ersten Leute, die uns über den Weg laufen, nach einer billigen Unterkunft." Neila war die Dolmetscherin.

Als sie nach der über zwölfstündigen Fahrt endlich den Keleti pályaudvar erreichten, öffneten sich ihnen die Tore ins Dorado. Alles war so hell, so bunt, so anders und so aufregend, dass sie vor Herzklopfen blind quer über den halben Bahnhof stolperten und staunten, bis Srüne wieder zur Vernunft kam und Neila anstieß: "Wollten wir uns nicht eine Penne suchen?" Und wie es dem Gott der Reisenden gefiel, trieb er ihnen das Opferlamm in Gestalt dreier hübscher, junger Ungarn vor die Nase. Es könnte wohl ein kleiner Schacher im Spiel gewesen sein, denn bei den ungewohnten Menschenmassen war es nicht so ganz einfach, sich auf den Ersten zu einigen, doch wie dem auch sei - es war das beste Opferlamm, das ihnen begegnen konnte. Die drei Hübschen gerieten in keine kleine Verlegenheit, drehten und wendeten sich und warfen einander verstohlene Blicke zu, bevor sie mit größtem Bedauern verkündeten, sie wüssten leider kein Hotel, dass billig und nicht überfüllt sei, schaut, lányok*), es ist Hochsommer, Urlaubszeit, die ganze Welt kommt nach Budapest, aaaber... wenn es ihnen nichts ausmache... es träfe sich gerade ganz wunderbar, dass Zoli sturmfreie Bude, sprich: ein sturmfreies Einfamilienhaus habe, und es wäre ihm eine unaussprechliche Ehre, die deutschen Gäste beherbergen zu dürfen, bis sie sich in Ruhe nach einem Hotelzimmer umgesehen hätten...
Da standen die drei, Zoli, Laci und Pista, und sahen sie erwartungsvoll an, und Neila und Srüne sahen sich an, und ihr Blick sagte: ‚Wahnsinn! Aber Anstand muss sein.‘ Also wandte sich Neila wieder an die Burschen mit einer freundlichen Ablehnung, aber das gehe nun wirklich nicht, dass junge Mädchen zu wildfremden Männern... Kein Mann hat je unschuldiger ausgesehen als unsere drei Husaren, als sie entrüstet versicherten, sie hätten nie etwas Derartiges im Sinn gehabt, es sei reine Gastfreundschaft und werde das auch bleiben, nem probléma, csak nyugalom**)!

*) Mädchen
**) Kein Problem, nur keine Bange!

1 Kommentar:

Herbert hat gesagt…

Spielte gestern abend hier: Mari Boine - Goaskinviellja / Eagle Brother
http://www.youtube.com/watch?v=kprl0CECykA