Mittwoch, 19. Oktober 2011

Kapitel 8: Ungarn allein

oder
Sonnenuntergang über San Francisco


Nach diesem Sommer wechselte Srüne zur Vorbereitung auf ihr Aulsandsstudium an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, und Neila wollte den Traum ein Jahr später allein wiederträumen, bevor sie sich mit Billy zur Hippiewallfahrt aufmachte. Sie hatte auch dieses Mal keine Adressen, aus unerfindlichen Gründen hatten sie mit den Jungs keine Adressen getauscht, oder sie hatten sie verloren, nur Srüne hatte noch einen kurzen Briefwechsel mit Zoli gehabt, aber Srüne war nicht mehr da. Doch solche Unsicherheiten hinderten Neila in jenen Jahren keineswegs daran, sich einfach mit Rucksack und Daumen im Wind an die Straße zu stellen. Das war das schönste Leben, das sie sich vorstellen konnte: morgens noch nicht wissen, wo man abends schläft. Sie hatte ihr Visum und ihr Abitur in der Tasche und eine vage Aussicht auf ein neues Leben im Brüder- und Pflegehaus Martinshof, Rothenburg bei Niesky, als sie im Juli 1975 nach Budapest aufbrach.

Die erste Nacht im Böhmerwald hatte ihr der Tscheche beschert, der sie kurz nach der Grenze via Prag eingeladen hatte. Als es dunkel wurde, war er in den Wald gefahren und zudringlich geworden, so dass Neila nichts anderes übrig geblieben war, als ihm ihr Knie zwischen die Beine zu rammen, schleunigst das Auto zu verlassen und das Weite zu suchen. Sie war schon eine Weile auf der Straße unterwegs, als er an ihr vorbei fuhr. Sie hob den Blick nicht, lief stur weiter. Doch die Straße blieb leer, weit und breit kein Auto mehr. Wohl oder übel breitete sie neben einer Kreuzung, im Schutz eines großen Gebäudes, das da ganz allein im freien Feld stand, vielleicht eine Fabrik, ihre Armeeplane unter einem Mast aus. Sie erwachte in der Morgendämmerung, lag auf dem Rücken, öffnete die Augen - und erstarrte: Direkt über ihr ragte ein Galgen auf. Der Mast, unter dem sie sich schlafen gelegt hatte, endete in einem kurzen Querbalken, an dem ein großer Haken schaukelte. Hastig packte sie ihre Sachen zusammen und suchte das Weite.

Am späten Vormittag, noch ohne gefrühstückt zu haben, fuhr sie in Prag ein. Jeder hungrige oder auch durstige Tramper landete dort irgendwann auf dem Wenzelsplatz, so auch Neila. Staubbedeckt ließ sie sich auf dem Wenzelsdenkmal nieder und zog ihre Karo aus der Tasche. Die Streichhölzer waren ihr ausgegangen. Sie schaute sich um. Ein paar Meter vor ihr bewunderte ein kraushaariger junger Mann den historischen Platz. Er gefiel ihr, noch mehr aber gefiel ihr das grün-weiß-rote Flaggenzeichen an seinem Rucksack. Ein Ungar, wie schön!
Dass er kein Ungarisch verstand, verblüffte sie. Die Flagge? Sie versuchte es auf Deutsch. Er schüttelte den Kopf. Auf Polnisch. Russisch? Er lächelte und schüttelte. Also gut, wozu war man in einer Französischklasse: "Parlez vous français?" Er parlierte! Er gab ihr Feuer, hockte sich fröhlich neben sie aufs Denkmal, und sie radebrechten. Woher er komme, sie habe gedacht, er sei Ungar, die Flagge auf seinem Rucksack... Er lachte: "No, no, no Hungría – Méjico!" Neila blieb vor Schreck der Mund offen stehen: Mexiko! Sie war mir nichts, dir nichts einfach mal so einem Amerikaner in die Arme gelaufen? Der auch noch zwei Sprachen sprach? Mit dem Französisch klappte es nur äußerst mühselig, irgendwie schienen acht Jahre Schulunterricht doch nicht zu genügen, wenn man die Sprache nie in der Praxis anwenden kann. Spanisch konnte sie nicht. Zaghaft wagte sie ein: "Do you speak English?"
"Oh Jesus!" rief der Typ wie vom Donner gerührt und rutschte eine Stufe tiefer. "Why didn’t you tell straightaway?"

Mike kam aus Kalifornien - "San Francisco" - "Oooh", schmachtete Neila -, war der Sohn mexikanischer Einwanderer und von Beruf Lehrer. Er trampe allein durch Europa, sei schon in Wien, München und Berlin gewesen, auch Ostberlin, und nun wolle er sich die herrliche Stadt Prag anschauen. In Ostberlin, erzählte er, seien die Menschen viel, viel offener und freundlicher als in Westdeutschland und Westberlin. Neila schielte ihn skeptisch an, so etwas wollte sie damals nicht glauben. Sie holte ihren Konsumkuchen aus dem Rucksack, ein staubtrockenes Quadrat Fabrikstreuselkuchen, in der Assiette gebacken. Sie schämte sich, Mike so etwas anbieten zu müssen, doch der überschlug sich vor Begeisterung, mmmh, schmeckt der gut! Nun ja, ebenso wenig, wie Neila sich freundliche Ostdeutsche vorstellen konnte, kannte sie die brutale angelsächsische Höflichkeit. Sie schielte skeptisch.

Einen halben Tag lang lief und fuhr sie mit Mike durch die goldene Stadt. Eingeklemmt in einer Straßenbahn, fragte sie ihn, welches eigentlich seine Muttersprache sei. "Englisch, Spanisch und Französisch."
"Okay, aber in welcher Sprache fällt es dir am leichtesten zu sprechen?"
„Englisch und Spanisch... und Französisch."
Neila war ratlos. Dann hatte sie die Erleuchtung: "Aber in welcher Sprache träumst du?"
"Englisch und Spanisch."
An einem Markstand kaufte Mike eine Riesentüte Pfirsiche. Neila hatte sie nicht mal angeschaut, für solchen Luxus hatte sie kein Geld. Mike hingegen verteilte seine Kronen nach rechts und links und bedachte nicht zuletzt auch sie großzügig damit. Auf ihre Frage, ob Lehrer in den USA so viel verdienen, erklärte er ihr den Zwangsumtausch für Westtouristen, der nicht rücktauschbar war. Da waren Pfirsiche, Eis und Cola, geteilt mit einer netten Ostdeutschen, doch eine lohnende Investition.
Sie schlenderten, Pfirsiche mampfend, am Moldauufer entlang und zählten einander ihre Lieblingsbands auf.
"Jethro Tull!" rief Neila.
"Oh!" entzückte sich Mike. "Ich war voriges Jahr bei ihrem Konzert, da hat Ian Anderson die ganze Zeit auf einem Bein Flöte gespielt!"
"Aaah! Das hätte ich zu gern gesehen! Wo sind die denn aufgetreten? War das in San Francisco?"
"Ja! Warst du schon einmal in San Francisco?"
Sie starrte ihn entgeistert an. Wollte er sie auf den Arm nehmen?
"Dann musst du unbedingt einmal nach San Francisco kommen! Es gibt nichts Schöneres als einen Sonnenuntergang über dem Pazifik!" Er war stehen geblieben, hatte die Arme ausgebreitet und strahlte sie pazifisch an.
Neila lachte sarkastisch: "Klar, ich komme."

Am Nachmittag brach sie nach Budapest auf. Mike hatte es sich nicht nehmen lassen, sie auf die Piste zu begleiten. Die war gespickt mit Trampern. Zu Mikes Verwunderung stellte sich Neila brav hinten an. Er erwies sich als exzellenter und äußerst unterhaltsamer Trampgenosse. Er wollte nicht gehen, bevor er sie nicht sicher in einem Auto Richtung Budapest untergebracht hatte, und dafür zog er alle Register, während Neila am Straßenrand hockte und Tränen lachte. Ein dicker Skoda brauste an ihnen vorbei. Mike schickte ihm, wie ein Derwisch auf der Fahrbahn tanzend, eine Auslese köstlicher englisch-spanischer Flüche hinterher.
"Aber der hatte doch keinen Platz mehr, der war voll", presste Neila halb erstickt hervor.
"Na und?" Mike zuckte mit den Schultern und riss die Augen auf. "Der hat doch einen Kofferraum. Da kriegt er mindestens noch drei von euch unter."
Neila quietschte vor Vergnügen. "Davon hab ich immer geträumt: im Kofferraum nach Ungarn! Und was mach ich, wenn die Polizei reinguckt?"
"Na, was schon? Du lachst sie freundlich an und rufst...“ - beide Hände fuchtelten aufgekratzt das Victory-Zeichen in die Luft: "Haaa-aaaiii!"

Fortsetzung folgt

1 Kommentar:

Herbert hat gesagt…

WRÓCIĆ TAM GDZIE OGRODY (Polen 1981) -
do you remember?
http://www.youtube.com/watch?v=WG-xXhFlDBA&feature=player_embedded#!