Mittwoch, 5. Oktober 2011

Das Wunderkind

Rahels Söhnchen war zwei Wochen alt, und Ilka bat ihre Eltern, Ruah und Adam, eine Weile auf ihn aufzupassen. Er war gerade gefüttert und ins Bettchen gelegt worden, er hatte die Augen geschlossen und sollte schlafen. Ruah massierte ihn noch sanft vor dem Einschlafen, da verzog sich sein Mund zu einem seligen Lächeln.
"Schau!" sagte sie zu Adam. "Er lächelt."
"Ist doch ganz normal", konterte das Kind mit geschlossenen Augen. "Das ist wie bei der polnischen Basketballmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Japan."
Ruah riss die Augen auf.
"Hast du das gehört? Der spricht schon! Mit zwei Wochen spricht der Junge schon wie ein Dreijähriger!"
Adam schien es nicht richtig gehört zu haben, aber Ruah geriet ganz aus dem Häuschen und versuchte immer wieder, das Kind zum Sprechen zu bringen. Und das Kind sprach. Allerdings redete es nie von selbst, sondern nur, wenn man ihm eine Frage stellte und auf die Antwort wartete.

Als Rahel zurückkam, erzählte sie ihr ganz aufgeregt von ihrem Wunderkind. Rahel nickte und freute sich, nahm die Sache aber auf wie etwas, was zwar nicht selbstverständlich, aber auch nicht weltbewegend ist. Ruah war da anderer Meinung. Während Rahel ihn wickelte, brachte sie den Jungen immer wieder zum Sprechen und konnte sich gar nicht wieder fassen vor Begeisterung. Sie verstand nicht, wieso das niemand das Wunder begriff.

Sie wollte es Rahels Freund Salomo erzählen, und Rahel rief ihn. Salomo kroch hinter einem Schrank hervor und war so groß, dass er sich um die Hälfte seiner Körpergröße bücken musste, um durch die Küchentür zu passen. Er lief immer hinter Rahel her und tat und sagte dasselbe wie sie.

Die Altbauwohnung hatte viele Räume mit weißen Türen, die von einem verwinkelten Flur abgingen. Von Stund an war Ruah ganz versessen darauf, sich so oft wie möglich um Rahels Söhnchen kümmern zu dürfen, und freute sich sehr, als Rahel sie wieder zu ihm rief. Doch als sie sein Zimmer suchte, fand sie ihn nicht. Sie hatte schon alle Türen geöffnet, aber das Kind lag hinter keiner.
"Ich muss noch einmal von vorn anfangen", sagte sie sich. "Und systematisch vorgehen."
Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Da sah sie das Kind. Das kleine, runzelige Wesen, das gerade erst geboren zu sein schien, lag in seinem Bettchen und blickte mit tellergroßen Augen, die blau waren wie die Tiefe, staunend zur Zimmerdecke auf. Als Ruah ihre Augen in diese Tiefe fallen ließ, wusste sie, dass sie sich geirrt hatte. Das Wunder, das sie immer gesucht hatte, lag hier vor ihr, ein winziges Mädchen mit ihren tellergroßen Augen, blau wie die Tiefe.
"Wir werden es Ruah nennen", sagte sie zu Adam. "Das heißt Gottes Atem."

© Angela Nowicki, 20. September 2010

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