Donnerstag, 13. Oktober 2011

Kapitel 7: Ungarn zu zweit (2)


Nun, zumindest, was Srüne und Zoli betraf, blieb es am Ende nicht dabei, aber das war völlig in Ordnung. Die drei Jungs waren wirklich der Anstand in Person. Die beiden blieben zwei ganze Wochen bei ihnen und nochmals zwei Tage bis zur Heimkehr nach ihrem Abstecher nach Miskolc, und keiner wurde je aufdringlich, sondern alle drei, mit Zolis Bruder gelegentlich auch vier, kümmerten sich so hingebungsvoll um ihre Sommergäste, dass man denken musste, sie hätten sich ohne diesen Zufall mörderisch gelangweilt in diesem heißen Budapester Juli. Sie zeigten ihnen die herrlichste Stadt der Welt, kletterten auf die Fischerbastei, führten sie in echte ungarische Restaurants mit Zigeunermusik aus, fütterten sie mit Weintrauben en masse, eiskalter Coca Cola und köstlichem Traubisoda, entführten sie in eine borozó, eine echte ungarische Weinstube, außerhalb der Stadt, die in einem riskanten Heimritt auf dem Rücksitz der reichlich abgefüllten Easy Rider endete, noch nie hatte Neila solche Angst gehabt, und in der zweiten Woche packten sie sie, dieses Mal nüchtern, wieder mit Sack und Pack auf die Motorräder und fuhren mit ihnen ins Wochenendhaus von Lacis Eltern am Velencer See, der auf halbem Weg zwischen Budapest und dem Balaton liegt.

Ein weiß getünchtes Lehmhaus, kühl in der Hitze, spartanisch, aber sauber, sie aßen das himmlischste aller Brote – riesige, dicke Scheiben frischen ungarischen Weißbrots, das nach Wein und Sonne schmeckt - mit Schmalz, Tomaten und Paprika, Überraschungspaprika, denn unter den normalerweise milden Schoten konnte sich schon mal eine extrem scharfe finden, das merkte man erst, wenn es zu spät war – immer nur Brot, Schmalz, Tomaten und Paprika, und es wurde ihnen nie zu viel. Sie badeten stundenlang im ruhigen, klaren See, der zwar genauso flach und warm war wie der Balaton, dafür aber fast tourifrei, und philosophierten und lachten die Nächte durch.

Nun, so ähnlich lief es in Ungarn überall. In Miskolc hatte Neila eine Adresse, Lajos, den sie im Vorjahr bei den Weltfestspielen in Berlin kennen gelernt hatte. Der Briefwechsel war nach drei Monaten sanft eingeschlafen, und unsere beiden Heldinnen gedachten, Lajos zu überraschen. Es öffnete eine Großmutter, die mit Bedauern und großen Augen verkündete, Lajos sei leider bei der Armee, aber sie sollten doch erst einmal reinkommen und etwas essen, und sicher bräuchten sie auch eine Übernachtung, also vorwärts – sie ließ den Mädchen gar keine Zeit zum Diskutieren, sondern zog sie einfach in die Küche, platzierte sie am Tisch und trug Essen auf. Ein gelernter Deutscher, egal, ob Ost oder West, ist in solchen Situationen, wenn er sie zum ersten Mal erlebt, zunächst einmal so geplättet, dass ihm Widerstand gar nicht in den Sinn käme.
"Das hier ist Lajos‘ Bruder, Károly. Der wird euch morgen die Stadt zeigen", verfügte die Großmutter. Károly freute sich wie ein Schneekönig und lief wirklich drei Tage lang mit ihnen durch die anheimelnde Stadt Miskolc, machte mit ihnen einen Abstecher ins Bükk-Gebirge, zeigte ihnen den Lillafüred-Wasserfall und das Schloss Andrássy in Tiszadob, das für jeden Tag des Jahres ein Fenster, für jede Woche des Jahres ein Zimmer, für jeden Monat des Jahres einen Turm und für jede Jahreszeit einen Eingang hat, wie Károly stolz erklärte, und schleppte sie zum glorreichen Schluss noch in einen Plattenladen, in dem es WESTPLATTEN gab! Srüne und Neila schlug das Herz höher als die Geldbörse. Bei Srüne reichte es für Crosby, Stills, Nash und Young und bei Neila für John Lennon und Joan Baez. Das waren ihre ersten "richtigen" Schallplatten.

Auf dem Rücktramp nach Budapest wollten die beiden jungen Männer, die sie mitnahmen, Neila um nichts in der Welt glauben, dass sie keine Ungarin sei.
"Aber doch, ich bin Deutsche!"
"Niemals! Kein Deutscher spricht so akzentfrei ungarisch. Du kommst vielleicht aus Deutschland, aber du bist Ungarin."
Srüne wurde als Zeugin nicht akzeptiert, erst Neilas Personalausweis ließen sie gelten, wunderten sich aber weiter: "Du hast aber bestimmt ungarische Vorfahren..."
"Nichts dergleichen, urdeutsch und doof", lachte Neila.
Auch Srüne war wie verwandelt. Vor einem halben Jahr, als die Studienbewerbungen abgeschickt werden mussten, hatte sie sich für Rumänien entschieden, weil sie aus einer Französischklasse kam, denn sie folgerte, eine Sprache aus der gleichen Sprachfamilie würde leichter zu erlernen sein. Um Gottes Willen nicht nach Ungarn, das ist ja eine ganz fremde Sprache!
Diese ganz fremde Sprache hatte sie innerhalb von drei Wochen ohne besondere Sprachbegabung so gut gelernt, dass sie gegen Ende ihrer Ferienreise fast keine Dolmetscherin mehr gebraucht hätte. Als solche hatte ihr Neila allerdings eine Menge Vergnügen mit der betulichen, präzise artikulierenden ungarischen Sprache und ihren breiten, strahlenden Vokalen bereitet, besonders in Miskolc, wenn Károly - "Kaaaroj" - um eine "Kaaaro" bat...
"Warum habe ich nur Rumänien genommen? Ungarn - das wär's gewesen!" seufzte Srüne auf der Heimfahrt, nachdem sie sich für immer aus Zolis Umarmung gelöst hatte...

* * *

Sommer! Weißt du noch den Tag, als sie sagten, sie laden uns ein?
Sommer! Ach, wir mussten lachen. Schnell betrinkt man sich an diesem Wein.

Abend. Rasch noch ein paar Blicke in den Spiegel: Gut sahen wir aus.
Gut genug, um sich zu verlieben? Warum nicht? Kühl war es vorm Haus.

Feuer, roter Wein und Küsse. Viel zu schnell ging doch die Zeit vorbei.
Feuer. Heiße, wilde Flammen. Einen Sommer lang waren wir frei.

Liebe, schönster Traum des Lebens. Wie wird das Erwachen für uns sein?
Liebe. Niemals wird sie enden, schließt auch einst nur Stille sie in sich ein.

Text: Angela Nowicki, inspiriert von
Titel und Musik: Omega együttes "Emlék (Csenddé vált szerelem)"

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