Sonntag, 30. Juni 2013

Der dritte Weg

Tagebucheintrag vom 16. Oktober 2011

Diese billigen Masken. Den Schmerz zu betäuben mit dem Gedanken, dass Schmerzen nicht sein sollen, geistige Anästhesie. Natürlich, der Schmerz ist auf Dauer nicht auszuhalten, man sucht nach Lösungen, und ich glaube wirklich, dass es nicht richtig ist, sich ihm einfach hinzugeben. Einfach, weil davon nichts geheilt wird, und ich glaube an eine Heilungsmission. Ja? Und was ist mit den Depressionen von D.? Dir fallen ohnmächtig die Arme runter, und alles, was dir noch einfällt, heißt Aushalten? Es muss noch einen dritten Weg geben, der weder billig noch fatalistisch ist, aber vielleicht ist dieser dritte Weg, dieser Heilweg doch der Fatalismus? Vielleicht heilt der Schmerz, indem man ihn nicht nur aushält, sondern auch durchlebt, sich in ihn fallen lässt?

Das Fallenlassen ist gleich das nächste Thema. Was hält mich davon ab, ganz in meinem Tun zu versinken? Andere Leute? Die angekündigten Besuche der kommenden Wochen sind eigentlich eine wunderbare Chance, das mal genau zu beobachten. Hindern sie mich wirklich, d.h. ist es mir in der Gegenwart anderer, selbst wenn sie gar nichts von mir wollen, wirklich nicht möglich, in meinem Tun zu versinken, no way? Und wenn ja, warum. Und so weiter.
Termine? Ja, ich glaube, es ist eine tief sitzende Angst davor, nicht wieder rechtzeitig aufzutauchen, über die ich keine Kontrolle habe. Doch um all das ein weiteres Mal und bewusster erkunden zu können, muss ich überhaupt erst einmal - allein und ohne Termine - in der Lage sein, ganz in meinem Tun zu versinken. Was ich gerade nicht bin, allerdings hatte ich ja in den vergangenen drei Monaten ständig Termine und auch immer wieder andere Leute um mich. Das Mögliche aus der Mitte der Verhinderung heraus zu versuchen - was für hein heroischer Hakt!

Seit einigen Tagen baut sich nachts, vorwiegend beim Schlafengehen, ein immer stärkerer Druck auf, Bücher zu schreiben, wozu ich tagsüber nicht die geringste Lust habe. Und das werfe ich dann Menschen und Terminen vor. Es ist aber meine Lust, die ich wohl nicht einmal mir vorwerfen muss, denn das Tun ergibt sich erfahrungsgemäß - ja, inzwischen auch erfahrungsgemäß, hurra! - aus einem Intialdruck, der aber erst aufgebaut werden muss. Offensichtlich nachts beim Schlafengehen.

Ganz in meinem Tun versinken. Das habe ich heute getan! Es genügt doch ein Willensakt, wenigstens um erst mal reinzukommen. Ich habe - ein erstes Mal, sicher werden mehrere solcher Erfahrungen notwendig sein - erfahren, dass
ich keinen Termin verpasse, man kann schmerzlos auftauchen
ich nur so die volle Befriedigung aus meiner Tätigkeit erreiche (aber das war ja vorher schon klar)
ich effizienter arbeite!

Abends habe ich wieder wegen D. gelitten. Meine Schuldgefühle werden in letzter Zeit immer massiver, und da die Parole ja lautet „laufende Themen bearbeiten‟, werde ich damit wohl sofort etwas tun müssen.
Aber nicht nur Schuldgefühle, auch die Umkehrung: Ich erinnerte mich sofort, dass sie noch voriges Jahr im Urlaub sich so gefühllos mir gegenüber verhalten hat. Vor allem aber erinnerte ich mich, wie sie mich vor vielen Jahren einmal moralisch (durch abweisende Kälte) gezwungen hat, mit höllischer Migräne mit ihr ins Theater zu gehen, und wie ich da gelitten habe...

© Angela Nowicki, 30. Juni 2013

Samstag, 29. Juni 2013

Feuerlinien

Traum vom 2. Oktober 2011

Beim Aufwachen sah ich kurz eine Feuerlinie in der Steppe, ein niedriges Feuer, und ich wusste oder hörte oder dachte:

„Ein Gegenfeuer zur Auslöschung der Vergangenheit.‟


Tagebucheintrag vom 13. Oktober 2011

Und wieder runter... Gestern ging's mir so gut, als sei ich nach über drei Monaten des Schwimmens im Meer mit gelegentlichem Fast-Absaufen endlich mal kurz auf einer Insel gelandet. Dass das nur eine Insel war, sehe ich heute: Ich liege schon wieder im Meer...
Was mich vor allem fertig macht, ist, dass ich nach wie vor mich dafür entschuldige, rechtfertige, erkläre, klein mache, dass ich bin, wie ich bin. Die anderen rechtfertigen sich doch auch nicht dafür, dass sie Weihnachten brauchen! Für sie ist das selbstverständlich, DIE NORMALITÄT, das Richtige, und sie fühlen sich richtig, und ich bin falsch - wenn nicht, weil ich Weihnachten nicht will, dann, weil ich mir nicht einfach nehme, was ich will. Ha-ha! Was wäre denn, wenn ich sagen würde, ich hab die Schnauze voll, ich fahre über Weihnachten weg? Dann wäre ich trotz allem die Böse. Die Falsche, excusez-moi.

© Angela Nowicki, 29. Juni 2013

Freitag, 28. Juni 2013

A day in the life

He didn't notice that the lights had changed.

Tagebucheintrag vom 27. September 2011

Am Eingang des Sozialgerichts renne ich gegen zwei Justizbeamte, die Personenkontrollen durchführen, und werde zurückgeschubst zum Pförtner. Der kommuniziert mit mir über ein Mikrofon, ich wette, das ist Panzerglas zwischen ihm und mir.
„Haben Sie Ihren Widerspruchsbescheid mit?‟
„Ich habe alle Unterlagen mit.‟
„Legen Sie bitte den Widerspruchsbescheid in den Kasten.‟
„Das ist ein bisschen komplizierter...‟
„Ich brauche nur den Widerspruchsbescheid.‟
„Ja, aber hören Sie, so einfach ist das nicht, es...‟
„Nur den Widerspruchsbescheid, alles andere können Sie der Beamtin erzählen!‟
Der männliche Sicherheitsbeamte erklärt mir dasselbe von der Seite: „Geben Sie ihm nur den Widerspruchsbescheid, er braucht ihn nur zum Kopieren. Die Kopie bekommt dann die Rechtspflegerin, und der können Sie dann die ganze Geschichte erzählen.‟
Ich gebe mich geschlagen und lege nur den Abhilfebescheid in den Kasten.
Der Pförtner betrachtet ihn lange und gründlich von allen Seiten, einschließlich der angehängten Rechnungen. Schließlich meint er unsicher: „Das ist doch aber kein Widerspruchsbescheid...‟
„Doch, das ist der Abhilfebescheid für unseren Widerspruch.‟
„Hier steht aber nicht drin, dass Sie Klage erheben können...‟
„Dafür kann ich doch nichts.‟
„Dann müssen Sie erst mal Widerspruch gegen diesen Bescheid erheben.‟
„Ich will diesem Bescheid doch gar nicht widersprechen, der ist doch bestens! Ich will nur das Geld endlich haben, das mir daraus zusteht!‟
Resigniert schiebt er mir die Papiere zurück: „Erzählen Sie einfach alles der Kollegin...‟
„Ich habe Ihnen doch gesagt, es ist kompliziert!‟
Der weibliche Sicherheitsbeamte lässt mich mein Handgepäck auf den Tisch neben dem Detektorentor packen. Meine Handtasche hat sechs Reißverschlüsse, alle muss ich öffnen, überall stöbert sie herum, nur den sechsten, in dem die Zigaretten stecken, muss sie übersehen haben.
„Haben Sie Nagelfeilen, Scheren oder so was einstecken?‟
Der Foliebeutel, in dem ich meine Unterlagen mitgebracht habe, ist jetzt leer, die Dokumente liegen verstreut daneben auf dem Tisch.
„Haben Sie noch irgendwelche Metallgegenstände am Körper...‟
„Ja, meine Gürtelschnalle.‟
„... dann gehen Sie ohne Ihre Taschen durch dieses Tor. - Sauuuber!‟
(„Bist ein braves Mädchen‟, lobt Mutti.)
Ich werde ins Wartezimmer der Klagestelle, zwei Türen weiter, geschickt.

Es ist ein fast quadratischer, kleiner Raum mit vier kahlen weißen Wänden, einem kleinen Tisch und zwei Stühlen in der Mitte. Hier sitze ich und warte endlos aufs nächste Verhör, jeden Tag, immer wieder endlose Stunden in diesem kleinen kahlen Raum, in dem die Sekunden zu Gelee werden, immer fester, bis sich gar nichts mehr bewegt...
Die Erinnerung hat mit voller Wucht zugeschlagen, und ich frage mich plötzlich, ob all dies - die Personenkontrollen, die zellenähnlichen Warteräume - nicht absichtliche Taktik ist, um sensiblere Menschen vom Gang zum Sozialgericht abzuschrecken. Anders ergeben gerade die Kontrollen für mich keinen rechten Sinn. In den Jobcenters wären sie angebracht, da ja, dort wird Aggressionspotenzial geschürt, aber beim Sozialgericht? Hier wird den armen Schweinen doch geholfen. Oder sollte jedenfalls, aber manche SGs haben einen ganz guten Ruf, das hier inbegriffen. Warum sollte da jemand die kostenlose Rechtspflegerin mit einer Nagelfeile erstechen wollen?
Ich ertrage die viertelstündige Wartezeit, gefühlte drei Stunden, nur, indem ich versuche, Bilder im Überfluss an die weißen Wände zu imaginieren. Trotzdem muss ich alle zwei Minuten auf den Flur rennen. Sitzen kann ich gar nicht, keine Ahnung warum. Ich kreise wie der Tiger durch seinen Käfig und kenne nach zehn Minuten selbst die kleinsten Details auswendig: wo der Fußboden knistert, wenn man drüberläuft, aber nur einmal, wo jemand gegen die Wand getreten hat, die Nummer auf dem Rauchmelder an der Decke, die Anzahl, Ausrichtung und Form der Sonnenstrahlen, die durch die heruntergelassenen Jalousien fallen, Gitter light...
Dann klappt die Tür nebenan, und kurz danach holt mich eine kleine, ältere Frau in die Klagestelle.

Erst kommt sie ewig nicht in ihre Software rein. Ich schweige, sie fuchtelt wie eine Besessene mit der Maus über die Tischplatte. Nach fünf Minuten wird sie weich: „Ich komme einfach nicht rein...‟
„Passwortgeschützt?‟ frage ich.
„Nein. Ich komme nicht in das Aktenzeichen... Aaah, jetzt bin ich drin! Ich hatte vergessen, OK zu drücken.‟
„Ja, manchmal sind es die banalsten Sachen...‟ ‚Die dümmsten Fehler‘, hätte ich fast gesagt, konnte mir grad noch so auf die Zunge beißen.
Sie setzt erst mal die Klage auf, dabei weiß sie noch gar nicht, worum es geht, und ich habe ihr gesagt, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob es eine Klage werden kann.
Endlich erzähle ich dir die wirre Geschichte. Sie versteht sie sogar, ist aber mit ihrem Latein am Ende, weil, wie sie sagt, „gar kein Schriftstück von diesem Jahr vorliegt‟. Der Bescheid und der Widerspruch dagegen sind schon drei Jahre alt, der Abhilfebescheid gegen den Widerspruch ein Jahr. Ich habe noch zwei Schreiben mit, mit denen wir die daraus hervorgehende Zahlung angemahnt haben, eines vom vorigen Jahr, eines vom Februar dieses Jahres.
Sie gibt auf und telefoniert nun das halbe Gericht ab, um jemanden zur Hilfe anzufordern. Endlich hat sie Glück. Eine junge Juristin kommt geeilt. Zum zweiten Mal erzähle ich die wirre Geschichte. Die Juristin hat dasselbe Problem wie die Rechtspflegerin: kein Schreiben vom Jobcenter von diesem Jahr. Wieder schiebe ich ihr unsere Mahnschreiben unter die Nase.
„Ja, Sie sind ja tätig geworden...‟, überlegt sie unsicher. „Sie hätten aber Widerspruch gegen diesen Bescheid...‟
„Wogegen sollte ich denn widersprechen? Dort steht doch, dass unserem Widerspruch in vollem Umfang stattgegeben wird! Da widerspreche ich doch nicht, ich will nur, dass sie dann auch endlich zahlen, was im Widerspruch eingefordert wurde. Ich kann doch nichts dafür, wenn das Jobcenter ein Jahr lang nicht reagiert!‟
„Ja, da haben Sie Recht‟, seufzt sie, immer noch unsicher, und dann hat sie die Erleuchtung:
„Das ist eine Untätigkeitsklage!‟ weist sie die Rechtspflegerin an. „Natürlich, Sie nehmen jetzt eine Untätigkeitsklage auf. Und Sie legen eine Kopie des Abhilfebescheids bei.‟
Nachdem sie sich verabschiedet hat und die Klage endlich aus dem Drucker raus und unterschrieben ist, frage ich die nette kleine Frau nach den Fristen, in denen das Jobcenter nun reagieren muss.
„Also, bei einer normalen Klage haben sie acht Wochen Zeit, um Stellung zu nehmen. Bei einer Untätigkeitsklage weiß ich nicht, wann das Jobcenter mal geruht...‟
„Aber es gibt doch gesetzlich vorgeschriebene Fristen, an die sich auch das Jobcenter halten muss!‟
Darauf bekomme ich keine Antwort mehr.

***

Befreit und wie auf Flügeln schwebe ich rüber in die Hobby Welt. Natürlich haben sie immer noch keine leeren Aquarellkästen.
„Weil die so teuer sind. Da kostet einer 26 Euro, das sind die einzigen von Schmincke, und einen anderen Anbieter habe ich noch nicht gefunden.‟
„Das ist allerdings ein bisschen teuer“, gebe ich zu, denke jedoch an die Kästen für 6 und 16 Euro beim Farben-Merz, deren Anbieter ich allerdings nicht kenne.
Ich packe mir einen Radiergummi und drei Knetgummis ein. An der Kasse steht eine Schlange - ein ungewohntes Bild! Als endlich der Mann vor mir dran ist, ein kleiner, gebeugter, alter Mann, der etwas Winziges gekauft hat, was die Verkäuferin immer als „Sieben‟ betitelt, findet die Kassiererin diese „Sieben‟ nicht in irgendeiner Liste. „Na, wo ist denn die blöde Sieben?‟
„Die ist nicht blöd!‟ knurrt der Mann.
„Natürlich nicht‟, beeilt sie sich zuzugeben.
Sie ist aber schon sehr locker drauf. Als ich ihr meine Radiergummis von hinten in die geöffneten Hände schütte, singt sie fast: „Ra-diiieer-gummiiieees!‟

***

Der Weg zum Farben-Merz ist wieder anstrengend, wieder ist es viel zu warm, die Sonne blendet, und auf der Reitbahnstraße gibt es keinen Schatten. Mein Gesicht brennt.
Dieses Mal ist er im Laden, es ist offen. Als er mir den Kasten zu 16 Euro zeigt, fragt er mich, ob ich eine Ausbildung oder Kurse mache.
„Nein, gar nichts‟, sage ich. „Ich wurstele mich ganz alleine durch, nur ein Forum habe ich im Internet...‟
Und schon verwickeln wir uns in eine lange Diskussion über Internetforen im Allgemeinen und das Happypainting im Besonderen. Er ist ungeheuer misstrauisch gegenüber allen Foren. „Ja, woher weiß man denn, ob die Leute, die einem da Ratschläge geben, wirklich Ahnung haben? Und wenn sie die Bilder, die sie reinstellen, gar nicht selber gemalt haben?‟ Wieder und wieder kommt er auf das Thema zurück, und als ich schon bezahlt habe und gehen will, fragt er nach der Adresse dieses Forums.
„Wenn Sie aber die Bilder sehen wollen, müssen Sie sich anmelden.‟
„Schon klar. Und was wollen die bei einer Anmeldung alles von einem wissen? Die Kontodaten?‟
Er grinst.

***

Die Stadtbibliothek nehme ich im Sturzflug. Ich packe ein Buch über Acrylmalerei ein, das endlich mal wirklich die ganze Materie abzudecken scheint, und fliege rüber zur Belletristik. Da ereilt mich eine herbe Enttäuschung: Unsere Stadtbibliothek, dieser so gut bestückte Hort der Bildung, hat nicht ein einziges Buch von Jorge Luis Borges! Ich habe im Computer nachgesucht: Nur zwei Bücher auf Spanisch haben sie von ihm, in der internationalen Abteilung, und eines, das man bestellen kann. Kein Borges?! Das ist unerhört. Das ist doch Weltliteratur!
Dafür gibt es Cortázar, drei Bücher sind gerade ausleihbar, ich nehme alle drei mit, darunter das deutsche Rayuela. Ich freue mich wie wild, denn seit ich selbst schreibe, komme ich irgendwie nicht mehr an fremdsprachige Literatur heran. Die kongeniale polnische Übersetzung von Zofia Chądzyńska, die mich jahrzehntelang so begeistert hat, hat plötzlich eine Mauer gebildet und lässt mich nicht mehr zu den Bildern durch.
Natürlich ist mein Ausweis schon wieder abgelaufen, ich muss zahlen. 18 Euro kostet ein Jahresabonnement mittlerweile! Wenn das noch teurer wird, könnte man langsam überlegen, ob man dann nicht doch die Bücher gleich selber kauft. Dabei wollte ich meine persönliche Bibliothek demnächst ganz abschaffen!

***

An der Bushaltestelle steht gerade eine 32, Fahrerwechsel. Ich springe dem einsteigenden Fahrer hinterher: „Fahren Sie jetzt gleich los?‟
„Ich denke schon...‟
„Sie denken schon?‟ lache ich. Wenn er noch fünf Minuten braucht, könnte ich nämlich auch auf die 31 warten, da hätte ich ein Stück weniger zu laufen bis nach Hause.
Zum ersten Mal seit Jahren passiert mir wieder eine Fahrscheinkontrolle. Ein gestandener Mann in den Vierzigern, und wieder einmal frage ich mich, was Menschen treibt, andere zu bespitzeln. Doch da hat sich wohl einiges geändert, wenigstens bei der CVAG.
Das jugendliche Pärchen hinter mir fährt schwarz. Als ich das mitbekomme, spitze ich die Ohren. Vor etlichen Jahren noch habe ich mehrmals miterlebt, wie fies Kontrolleure Schwarzfahrer in der Öffentlichkeit bloßstellten.
Hier höre ich jetzt: „... bekommen Sie eine Zahlungsaufforderung, und wenn Sie die haben, müssen Sie gleich reinkommen. Wir bieten ja verschiedene Vergünstigungen an, Sie müssen nicht alles auf einmal bezahlen, das geht auch in Raten. Und, ich sag mal, ein Nachlass von fünf Euro ist immer drin. Das müssen Sie aber aushandeln, dazu müssen Sie reinkommen.‟
„Wie ist das jetzt?‟ plappert der Junge unbekümmert drauf los. „Ich bin vor ein paar Monaten schon mal beim Schwarzfahren erwischt worden, da...‟
Ein paar Sätze verstehe ich nicht, dann kommt die Akustik wieder.
„Ja, das Problem ist‟, sagt der Kontrolleur gerade, „dass das dann gleich zur Anzeige kommt. Dann geht das die CVAG nichts mehr an, und dann geht es mich nichts mehr an.‟
Er spricht mit einer ruhigen, sachlichen, freundlichen Stimme. Kein Vorwurf, keine Bloßstellung. Er gibt kompetente und sogar mitfühlende Auskunft.
„Deshalb müssen Sie gleich reinkommen, wenn sie die Zahlungsaufforderung bekommen, nur so lässt sich noch etwas aushandeln.‟
Der Junge meint, er könne auch gleich bezahlen, morgen schon.
„Na ja, Sie könnten auch gleich bei mir 40 Euro bezahlen, das wäre noch eine andere Option. Wenn Sie das Geld jetzt aber nicht bei sich haben, müssen Sie reinkommen. Ich schreibe das alles auf, ich schreibe dazu, dass Sie gleich bezahlen wollen, dass sie also warten sollen mit der Anzeige...‟
„Ich komme morgen gleich rein!‟ ruft der Junge eifrig.
„Nicht so eilig‟, schmunzelt der Kontrolleur. „Morgen noch nicht gleich, das muss ja erst durchgereicht werden. Aber im Laufe der nächsten Woche...‟

Als ich beim Mittagessen P. diesen Vorfall berichte, erinnert er sich, dass sein Kollege erst vor einigen Tagen von einem ähnlichen Vorfall erzählt hat. Auch er war vor einiger Zeit beim Schwarzfahren erwischt worden und hatte dem Kontrolleur gesagt, das Jobcenter habe sein Geld noch nicht überwiesen: „Ich warte seit Wochen auf dieses Geld, ich hab's schon mehrmals angemahnt, ich kann mir zurzeit einfach keinen Fahrschein kaufen.‟
Der Kontrolleur hatte das alles aufgeschrieben, und nach ein paar Wochen hatte er von der Staatsanwaltschaft ein Schreiben erhalten, in dem man ihm mitteilte, dass die Sache zu den Akten gelegt wurde. Er brauchte gar nicht zu bezahlen.
Das nenne ich doch mal soziale Kulanz! Die Gerechtigkeit kann die CVAG nicht beeinflussen, aber wenigstens scheinen sie zu wissen, wie es vielen Menschen in dieser Region geht, und ihre praktischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

© Angela Nowicki, 28. Juni 2013

Donnerstag, 27. Juni 2013

Wenn du nachts von Fahrrädern träumst...

Tagebucheintrag vom 27. September 2011

... und dann vom Bus aus zwei ältere, völlig verschiedene Frauen an der Haltestelle siehst, die genau die gleichen Polo-Shirts an haben - himbeerfarben mit schmalen, weißen Streifen - und sich auch noch so fern voneinander wie möglich halten, als solle niemand auf die Idee kommen, sie gehörten zusammen,
und du dann einen steilen Berg hinunter läufst, direkt auf ein riesiges, himbeerfarbenes Schild zu mit der Aufschrift „Fahrräder‟
und dir unten am Berg eine Radfahrerin mit Spitzentuch und Spitzenhaube fast über die Füße fährt , obwohl du hier noch nie Radfahrer gesehen hast, der endlose, breite Radweg ist sonst immer leer,
dann weißt du, dass dir auf der anderen Straßenseite ein ganzer Pulk Radfahrer mit Helmen und Handschuhen entgegen kommt, die dich an die Hauswand drängen, weil hier kein Radweg und der Fußweg eng ist.

Hoffnung und Unruhe.
Das Sozialgericht.
Eine junge Frau trägt Essenboxen ins Haus.
„Guten Tag, ich möchte eine Klage aufnehmen lassen gegen das Jobcenter.‟
„Eine Klage? Da müssen sie aber zum Sozialgericht.‟
„Und wo bin ich hier?‟
„Das ist das Landessozialgericht.‟
„Aber wir waren doch immer hier. Ist das erst seit kurzem so?‟
„Seit zwei Jahren.‟
„Und wo ist das Sozialgericht jetzt?‟
„In der alten Hauptpost. Wissen Sie, wo das ist?‟
„Ja. Auf Wiedersehen.‟
Eine ältere Frau zeigt dir den Weg über die Straße.
Das Landessozialgericht.
Enttäuschung und Ruhe.

Wenn das rauchende Mädchen mit dem übellaunigen Gesicht neben dir an der Haltestelle schwanger ist
und das unablässig hustende, rotblonde Mädchen im Bus mit dem geröteten, schweißnassen Gesicht und mp3-Player im Ohr, zwei Sitze vor einer jungen Frau mit mp3-Player im Ohr - die einzigen jungen Frauen, alles andere sind Männer und eine alte Frau -, sich gleich nach dem Aussteigen eine Zigarette anzündet,
dann weißt du, dass an der gegenüber liegenden Haltestelle ein Mädchen mit einem mp3-Player im Ohr steht und raucht.

© Angela Nowicki, 27. Juni 2013

Mittwoch, 26. Juni 2013

Niemand muss erwachsen werden

Traum vom 27. September 2011

Mitten im dichten Verkehr fuhren wir mit dem Fahrrad nach Hause, meine Tochter und ich. Sie fuhr vor mir. Rote Ampel hinterm Gleisdreieck vor dem ehemaligen Sporthaus. Der Wagen vor uns hielt, meine Tochter bremste - und ich konnte nicht bremsen, weil ich den falschen, den linken Fuß oben hatte - ich kann nur mit dem rechten Fuß die Rückbremse treten. Ich fuhr auf meine Tochter auf, und im selben Moment gab es einen Knall: Ich hatte sie gegen das Auto vor ihr geschoben. Auffahrtunfall.

Erst passierte gar nichts, außer dass ich herumfuchtelte, um zu zeigen, dass ich das war. Ich glaube, wenn ich das nicht gemacht hätte, hätte gar keiner was gemerkt! So aber wurde nicht nur meine Tochter, sondern auch die Fahrerin des Autos aufmerksam und stieg aus. Ich sagte, ich war das, hier ich! Ich konnte nicht mehr bremsen, bin gegen das Fahrrad vor mir gefahren. Meine Tochter bestätigte das, und die Fahrerin und ihr Begleiter freuten sich: „Na, das ist ja wunderbar, dann ist ja alles klar, wenn gleich freiwillig alle Schuldbezeugungen kommen!‟
Wir schoben unsere Fahrzeuge nach links an den Straßenrand, um den Unfall aufzunehmen. In diesem Moment dachte ich schon darüber nach, was ich denn sonst hätte tun sollen. Ich war ein wenig verblüfft, dass die beiden sich so diebisch über mein Schuldeingeständnis freuten, so als sei das nicht üblich. Ich hätte es wohl abstreiten können? fragte ich mich. Was hätte ich damit gekonnt? Letztlich war ich es doch, und es wäre eh rausgekommen, nur nach sehr viel gerichtlichem Hin und Her und Streit.
Die Frau schrieb und schrieb und untersuchte und fragte... Irgendwann fragte ich, ob ihr Schaden wirklich so groß sei, dass es sich lohne, darum so einen Aufriss zu machen. Aber ich drang mit der Frage nicht durch, und mir wurde klar, dass ich hier etwas werde bezahlen müssen, vielleicht nicht zu knapp. Doch dann fiel mir ein, dass das ja unsere Versicherung bezahlt.
Sie holte ihren Versicherungsausweis hervor, und da fiel mir ein, dass sie ja auch meinen braucht und ich gar keinen bei mir habe.
„Ooops, ich habe meinen Versicherungsausweis gar nicht bei mir‟, sagte ich. „Tut mir leid, den muss ich erst von zu Hause holen.‟ Sie lächelte und nickte.

„Zu Hause‟ war gleich nebenbei. Ich musste mich nur ein paar Schritte entfernen, und ich wusste auch, in welcher Schublade der Ausweis liegt, nur: Die Schubladen waren verschlossen, und ich hatte keinen Schlüssel dazu. Nun dachte ich fieberhaft nach, wo der Schlüssel sein könnte: Ich hatte ihn jedenfalls nicht an meinem Schlüsselbund, dabei sollte ich wohl. Lag er zu Hause irgendwo, oder trug P. ihn dauerhaft an seinem Schlüsselbund? Letzteres war am wahrscheinlichsten, er trägt ja immer alles bei sich, als sei er für alles verantwortlich. Und dann ist er nicht da oder nicht dabei, so wie jetzt, und der Rest der Welt hat das Nachsehen! Ich sah den Schlüssel ganz deutlich vor mir: ein kleiner, silberner Schlüssel, wie unser Briefkastenschlüssel.
„Tut mir leid‟, wandte ich mich wieder an die Frau. „Ich komme nicht in die Schublade mit dem Ausweis rein, ich weiß nicht, wo der Schlüssel ist. Ich werde Ihnen die Ausweisdaten mailen müssen.‟
Das war ok für sie, trotzdem rannte ich - dieses Mal mit meiner Tochter - noch eine Runde, um auszuprobieren, ob die anderen Schubladenschlüssel, die sehr wohl an ihren jeweiligen Schubladen steckten, vielleicht passten, ob es vielleicht alles derselbe Schlüssel war. Das erschien mir jedoch unwahrscheinlich - wozu hätte sonst jede Schublade ihren eigenen Schlüssel? Und so war es auch.

Ich weiß nicht, ob das eine Antwort auf eine Frage der Frau war oder ob sie aus einer kurzen Unterhaltung zwischen meiner Tochter und mir hervorging, aber auf einmal rief ich rechtfertigend: „Weil es jetzt überall heißt: Ja, ihr müsst erwachsen werden - hier... und dort... Ihr müsst erwachsen werden!‟
Die Frau lächelte leicht spöttisch: „Quatsch, niemand muss erwachsen werden‟, und schaute mich an. Erst viel später fiel mir ein, dass ich doch 54 bin! Was hatte sie wohl gedacht, als ich das sagte? Ich war doch nur mit meiner Tochter auf einer Veranstaltung für Jugendliche gewesen, wo es hieß, wir müssten erwachsen werden, und ich hatte dort nur eine Jugendliche spielen müssen und gespielt. Allerdings hatte ich mich in dem Augenblick, als ich das jetzt zu der Frau gesagt hatte, sehr wohl mit der Jugendlichen identifiziert und mich so gefühlt. Mir waren auch noch andere Anlässe eingefallen, zu denen es hieß, wir müssten erwachsen werden, und mir war ja erst hinterher eingefallen, dass ich doch eine alte Frau bin!

© Angela Nowicki, 26. Juni 2013

Dienstag, 25. Juni 2013

Dieser Schmerz jetzt ist wahr.

Tagebucheintrag vom 26./27. September 2011

Früh enthusiastisch glücklich, weil endlich wieder Ruhe und allein.
Tagsüber zunehmendes Quälen.
Als P kam, schlechte Laune, Mürrischkeit.
Dann tote Verzweiflung, tote Enttäuschung über mich.
Dass ich wohl doch einer der sinnlosesten Menschen der Welt bin. Reichlich vielseitig begabt und hochintelligent vielleicht, aber daraus geht nichts hervor und kann nichts hervorgehen, weil ich alles kaputt gemacht und nichts ausgebildet habe. Achtzig Prozent der Menschheit sind auf irgendeinem Gebiet begabter und besser als ich.
Und was die Menschheit liebt, sind ohnehin nur Klischees. Klischees laufen am besten, machen die Herzen weit und werden von der überwiegenden Mehrheit als große Kunst angesehen. Wirkliche Kunst aber wird gar nicht wahrgenommen.
„den Pinsel schwingen‟
„der traurige Clown‟
„das misshandelte Kind‟
und
so
weiter
Vielleicht bin ich wirklich dazu da, all diese Schmerzen zu formulieren, meine ganz privaten Schmerzen. Aber wen wird es interessieren?
Und wenn es niemanden interessiert - wozu dann?

Abends kein Glück - seltsam, auch mal was Neues. Dafür diese Gleichgültigkeit. Diese totale innere Ruhe - eigentlich wäre das Glück, wenn es anhalten könnte. Wenn ich einfach vor mich hin machen könnte, ohne Begeisterung und ohne Schmerz und ohne Mitleid.

Ich weiß, dass ich meine emotionale Welle nie los werde, aber ich kann wissen, was ich will: Im Moment fühlt sie sich immer absolut an: Dieser Schmerz jetzt ist wahr.

Es sei davon auszugehen, dass das
eine ganz logische Depression nach den letzten drei Monaten Überforderung ist
hab ich vergessen...

***

Die emotionale Scheiße ist Wut! Wut ist die emotionale Scheiße, aus der ein Standbild modelliert wird!
Mit Wut aufgewacht, so eine Wut, dass mir zum Heulen war. Wut auf all das und die, die bewirken, dass ich mich ohnmächtig ausgeliefert fühle. Und denke daran: Nach dieser Großen Seelenreise vor ein paar Wochen war ich erst mal zwei Tage fest und zornig! That's the way!
Meine Sachen sind meine. Punkt. Das ist es überhaupt: Was ich überwinden muss, ist dieses Auf-Einsicht-Hoffen - und die kommt nie. Andere sehen meine Bedürfnisse nicht ein, die denken gar nicht dran. Für meine Bedürfnisse bin ich ganz allein zuständig. Und dafür ist die Wut sehr gut.

© Angela Nowicki, 25. Juni 2013

Montag, 24. Juni 2013

Meine Familie verzeiht keine Fehler

Traum vom 24. September 2011

Ich hatte meine normale Arbeit, nahm aber nebenbei noch einen Job bei Großvater Paul an. So, wie mir die Arbeit erklärt wurde, hatte ich keine Probleme damit, ich war überzeugt, alles ganz locker zu schaffen. Dann aber machte ich einen entscheidenden Fehler, für den ich überhaupt nichts konnte - ich hatte das nicht wissen können, niemand hatte mir etwas gesagt. Doch anstatt abzuwinken und ihn einfach auszubügeln - ich war ja nur freiwillige Helferin, so etwas wie eine Praktikantin -, regte sich mein Großvater furchtbar auf und sagte, der Kunde werde dann ein Wörtchen mit mir reden wollen.

Das geschah auch. Der Kunde rief mich auf dem Handy an. Erst konnte ich ihn kaum verstehen, weil es so laut im Raum war, daher bat ich ihn zu warten, damit ich das Fenster schließen könne. Dann zog er übergangslos über mich her, regte sich über meinen Fehler auf, aber das hätte ich noch klären können - wenn nicht Großvater Paul dazu gekommen wäre. Er legte sich rechts von mir auf eine Holzbank und begann, dem Kunden am Telefon Recht zu geben und mich niederzumachen.

Das war zu viel für mich. Auch hinterher noch löste keine Entschuldigung von mir das erwartete Abwinken: „Ist schon in Ordnung...‟ aus, sondern nur vorwurfsvolles Befremden. Ich geriet nach und nach in Wut und Verzweiflung, bis mir die Tränen kamen. Ich schimpfte wie ein Rohrspatz, dass ich das doch nicht wissen konnte, dass keiner mir etwas gesagt habe. Paul warf mir vor, ich habe ganz am Anfang gesagt, ich schaffe das alles mit links. Ja, sagte ich, das war ja auch wahr, ich konnte doch am Anfang nicht wissen, was da auf mich zukommt, mir hätte jemand Bescheid sagen müssen, wenn etwas Ungewohntes verlangt wird, woher sollte ich das denn wissen? Außerdem, sagte ich, hat mich furchtbar verletzt, dass du mich direkt vor dem Kunden niedermachst, wie kannst du nur? Und schließlich heulte ich, wozu ich überhaupt diesen Job angenommen habe, ich habe meinen Job, ich habe das freiwillig getan, ich müsse gar nicht bei ihm hier arbeiten, wozu mache ich das überhaupt noch!

Nichts, nichts, nichts fruchtete. Und das Fruchten hätte so ausgesehen, dass Großvater Paul mir verziehen hätte. Aber meine Familie verzeiht mir wohl nicht - die Fehler, an denen ich gar nicht schuldig bin.

© Angela Nowicki, 24. Juni 2013

Sonntag, 23. Juni 2013

Vaterklärung

Traum vom 18. September 2011

Ich saß mit meiner Familie zu Tisch wie bei einer Feier. Mein Vater saß an der Stirnseite, mein Bruder links neben ihm.
Ich erzählte meinem Bruder von unserer verstorbenen Mutter. Er oder auch alle anderen hatten behauptet, sie sei so angepasst und unterwürfig gewesen, und ich musste dem im Grunde zustimmen, doch: „Manchmal war sie auch sehr eigenwillig. Zum Beispiel bei der Feststellung ihrer Pflegebedürftigkeit, da hat sie sofort und mit Spaß mitgespielt, als ich ihr einschärfte, wie sie sich verhalten solle...‟
Das erzählte ich meinem Bruder, der dazu aufgestanden war. Sofort fiel mir mein Vater ins Wort und belehrte mich scharf, dass ich sie in solchen Situationen dazu hätte anhalten müssen, sich den gesellschaftlichen Regeln anzupassen. Er putzte mich vor versammelter Mannschaft runter, dass ich meine Mutter hätte davon abbringen müssen, sich individualistisch zu verhalten. Im lauten Befehlston. Mir schwoll der Kamm.

Da schrie ich meinen Vater an, dass das alles eine große Lüge und absolut falsch sei, dass Individualismus das Beste sei, was der Mensch hervorbringen könne und so weiter. Meine Tante wand sich und versuchte, zu beschwichtigen, und mein Vater wurde auf einmal ganz still.

© Angela Nowicki, 23. Juni 2013

Samstag, 22. Juni 2013

Wie man zur Dissidentin wird

Traum vom 14. September 2011

Es war ein öffentliches Spiel, wie im Fernsehen „Wer wird Millionär?‟ oder so. Es gab mehrere Resultate, und wenn der Kandidat verlor, wurde ihm der Kopf abgeschlagen. Ich hatte nicht geglaubt, dass das ernst gemeint sei. Kandidatin war ein junges, hübsches Mädchen, die ich Berenice genannt hätte, mit kinnlangem, glattem, schwarzbraunem Haar. Sie hatte verloren, und nun hieß es: „Exekution!‟
Die Verantwortlichen überlegten noch, ob sie eine öffentliche Hinrichtung zelebrieren sollten oder etwas Humaneres, und ich hoffte sehr, sie würden sich für letzteres entscheiden. Sie fragten herum, wer zur Exekution käme. Die Zuschauer waren angeordnet wie ein Passbildbogen, ein großes Quadrat oder Rechteck aus lauter kleinen Feldern, in denen je ein Zuschauer saß. Es waren Fotos und gleichzeitig lebendige Menschen. Die meisten sagten ja, sie kämen, nur um sich konform zu verhalten; niemand hatte die Courage, sich zu widersetzen. Nur die eine ganz unten rechts in der Ecke, sie war entsetzt, sie schien außer mir die Einzige zu sein, die wahrnahm, was hier gleich geschehen sollte. Sie war sehr sensibel und regte sich furchtbar auf, stand auf und ging.

Und ich. Ich war schon mehrmals als Rebellin aufgefallen, als eine, die sich nicht einordnet. Auch ich sagte: „Seid ihr wahnsinnig? Ihr könnt doch nicht einfach einem Menschen den Kopf abschlagen!‟
Ich ging zu einer der Verantwortlichen hin, packte sie bei der Gurgel und rief: „Wie wäre es, wenn ich dich einfach erwürge, weil du mir nicht passt?‟
Und doch verstand niemand, was ich sagte. Es sei schließlich so üblich, und die Kandidatin sei schließlich mit dieser Möglichkeit von vornherein einverstanden gewesen, niemand werde gezwungen, an diesem Spiel teilzunehmen.
Ich sagte: „Wenn ihr sie wirklich umbringen wollt und das auch noch öffentlich, dann weiß ich nicht, was das für Menschen sind, die dabei zuschauen! Ich werde jedenfalls nicht dabei sein!‟

Ich ging weg und erfuhr im gleichen Moment, dass die Geheimpolizei mich und nun auch die andere Zuschauerin, die bereits gegangen war, sorgfältig observierte und meine Wohnung durchsuchte. Ich hörte, wie mein Partner auf die Palme ging wegen dieser Verletzung des Rechts auf die Privatsphäre und überlegte einen Moment, ob ich mich nicht auch wehren sollte. Dann aber dachte ich: ‚Das bringt überhaupt nichts. Alle finden das in Ordnung, alle halten mich für eine Verräterin, nun schon mehrfach, eine, die immer querschlagen muss. Dann sollen sie halt meine Wohnung durchsuchen, ich habe nichts zu verbergen.‘

Sehr fest und stolz, in einsamer Größe schritt ich von dannen.

© Angela Nowicki, 22. Juni 2013

Freitag, 21. Juni 2013

Absturz und Aufstieg und alles nur im Kopf

Tagebucheintrag vom 14. September 2011

Liebe als Pflicht.
Ich fühle mich von Familie, Bekannten, Job und Alltag dauernd unter Druck gesetzt.
Ich bin im falschen Leben. Am falschen Ort. In der falschen Gruppe. Im Joch.
Mein Seelenhaus steht über einem Abgrund und hat ein völlig zerstörtes Dachgeschoss.
Wiederkehrende Träume: Babys (extrem oft). Verstorbene Eltern. Liebe zu einem Fremden.

Heute kam die totale Krise. Augenmigräne, Ischialgie. Abends in einer regelrechten Zwangsjacke aus Nervosität, Anspannung und Ablehnung. Das erreichte seinen Gipfel, als ich überlegte, was ich tun könnte, und nur Lust hatte, meine Träume und Seelenreisen auf Symbole hin zu analysieren. Da bin ich schon nach kurzer Zeit fast ausgeflippt vor Nervosität und Unerträglichkeit des Immergleichen. Ich hätte gern geschrieben, doch mir fiel einfach nichts ein! Ja, zum ersten Mal seit Beginn des Schreibens hatte ich das totale Gefühl, nicht wirklich schreiben zu können und nie etwas zu Stande zu bringen. Die totale Blockade. Ich klopfte mir drei Runden lang kräftig die Meridiane auf der Suche nach Inspiration. Anschließend wurde ich ganz allmählich immer ruhiger, und das war ein gutes Gefühl.

Und nachts wurde ich um 3 Uhr wach und explodierte vor Sinnlichkeit, Lebenslust und Spielfreude, der totale Künstler, der Mercurius, brach aus! Ich haute mir Alan Price auf dem mp3-Player rein und tanzte auf dem Küchenbalkon! Dabei stellte ich mir vor, wie ich Theater spiele, Theater schaffe - es war aber ein inhaltsloser Druck, nur die Form drückte wie wild, so dass es mich fast zerriss, ohne dass ich auch nur die leiseste Idee bekommen hätte, WAS ich eigentlich darstellen möchte. Die Form drückte derart, dass ich mich in einen anderen Menschen verwandelte, einen bunten, tanzenden, über alles lachenden, alles verspottenden, auf jedem Schritt Kunst zaubernden, selbst im tiefsten Alltag völlig aus dem Alltag ausgeflippten. Das bin ich! So will ich sein! Ja, das wurde dann aber schnell richtig schmerzhaft, richtig unerträglich, dieser Druck, ich dachte, ich explodiere, weil ich eben keine Ideen dazu hatte. Da suchte ich etwas, was mich wieder runterbringen könnte, und das war Borges. Ich las mehrere Erzählungen von ihm, bevor ich einschlief, und fand diesen Schriftsteller genial. So genial, dass ich wieder das Gefühl bekam, nichts zu können...

Das Ganze war vor einer Woche losgegangen, und zwar witzigerweise nicht auf der geistigen, sondern der körperlichen Ebene. Alles war wunderbar gewesen, bis mein Ischiasnerv sich aus unerfindlichen Gründen einklemmte und nicht wieder los kam. Ein glatter Beweis dafür, dass wir alle nur Spielfiguren sind, wir setzen niemals Ursachen, können wir gar nicht. Wie literarische Figuren denken, reden und handeln nach dem Willen ihres Autors. Und auf die körperliche Verkrampfung folgte am Abend und am nächsten Tag erst die geistige: Ich begann, seit langer Zeit wieder zu powern. Fünf Tage lang, bis gestern. Litt dabei furchtbar und brach gestern Abend völlig zusammen. Körperlich und geistig.
Darauf folgte rasch die wunderbare Heilung, die aber nur eine Verlagerung auf der körperlichen Ebene zu sein schien: Heute hatte ich dann Augenmigräne. Lag den ganzen Tag erschöpft unter einem Berg von Schutt und glaubte, erst morgen wieder zu leben anfangen zu können. Ein Tag Aufschub. Als die Migräne nachließ, rasselte erst der ganze Schutt, die ganzen Trümmer runter auf meine Nerven und meine Seele. Als hätte die Migräne noch eine Art Schutzschild gebildet. Der war dann weg, und ich lag mehrere Stunden lang verschüttet und brüllend vor Seelenschmerz. Oder Geistesschmerz. Und mit der Erinnerung daran, dass ich nur eine Geschichtenfigur bin, löste sich der ganze Schutt auf und ich stieg steil in den Himmel wie ein Heliumballon, dem in der Nacht plötzlich ein versiegelter Motor platzte, so dass er zu rasen begann und mich außerhalb jeder Kontrolle in einer derart wilden Jagd über die Himmel jagte, dass ich schließlich nur noch runter wollte. Da kam ich runter, sicher, sanft, aber doch schmerzhaft. Unten war auch nicht das Ziel, auch wieder nur eine Ruhepause.

Und jetzt hoppele und holpere ich mit stotterndem, erschöpftem Motor über den Acker und weiß nicht, wo ich bin und wie es weitergehen soll...

© Angela Nowicki, 21. Juni 2013

Donnerstag, 20. Juni 2013

Leben über dem Abgrund

Seelenreise vom 10. September 2011

Klaus kam zuerst ganz frei heute, ohne irgendwelches Geschirr, er war ein ganz freies, wildes, stolzes Pferd. Und er kam nicht allein, ein anderes Pferd lief neben ihm auf mich zu, vielleicht eine Stute, doch als sie sich näherten, zog sie sich zurück und verschwand. Ich freute mich so, dass Klaus frei ist, ich freute mich so über die endlose Steppe mit ihrem weichen Gras, über das immer der Wind weht, und ich begrüßte Klaus und begann, laut nachzudenken, wie das war mit der Zähmung der Pferde und wie das war mit meiner Zähmung.

Die Menschen haben die Pferde also mit Gewalt eingefangen und ins Joch gespannt, weil sie so viel schneller waren als sie und ihnen als Fahrzeuge und später als Arbeitstiere nützen konnten, und dann haben sie sie über Jahrtausende hinweg so gezüchtet, dass sie weniger aggressiv und anhänglicher wurden und ganz stockbrav und treu und die Menschenstämme als ihre Herde ansahen.

Sie haben mich also mit Gewalt eingefangen und unters Joch gestellt, weil ich Eigenschaften hatte, die für sie sehr wertvoll waren, um sie auszunutzen, und dann haben sie mich im Laufe der Zeit so konditioniert oder gezüchtet, dass ich freiwillig bei ihnen blieb, in der Gruppe, die eigentlich mein Leben ist, aber in der falschen Gruppe, in der Gruppe der falschen Wesen, ja - aber wo sind meine Gefährten? Und dann stand eine ganze Herde Pferde vor mir, und sie schauten mich an.
Ich fragte ergriffen: „Seid ihr meine Seelengefährten?‟ und dabei lief mir ein Schauer über den Körper.
Da drehte sich eine Stute enttäuscht zu den anderen um und sagte: „Sie erkennt uns nicht.‟
„Ja, wie soll ich euch denn erkennen‟, rief ich verzweifelt, als ein Pferd nach dem anderen sich umdrehte und mich nicht mehr beachtete. „Ich bin doch kein Pferd. Ich habe zwar dieselbe Seele und dasselbe Schicksal, aber ich war doch kein Pferd? Ich bin doch ein Mensch!‟

Dann hatte Klaus wieder sein Zaumzeug am Kopf, und ich rief: „Warum hast du jetzt das wieder?‟
Doch er sagte: „Das brauche ich jetzt noch, um dich führen zu können, du musst dich doch an mir festhalten können.‟

Dann passierte lange Zeit nichts, ich saß nur da, und Klaus lief und tänzelte umher. Auf einmal kam er zu mir und sagte: „Komm mit‟, und dieses Mal lief ich an seiner rechten Seite, und er ging mit mir nach rechts.
Wir liefen lange. Unterwegs meinte ich einmal, links Menschen zu sehen, die schwer mit Stricken arbeiteten. Sie hielten jeder mindestens zwei Taue in beiden Händen und zogen damit an irgendetwas, doch ich konnte nicht erkennen woran. Es schienen große, senkrecht stehende Korbplatten zu sein, dann wieder ein wildes Pferd, das sich nicht einfangen ließ...

Endlich bemerkte ich, dass ich in einem Haus angekommen war, aber das war kein europäisches Haus, sondern so eines auf Stelzen, ganz aus Holz, ganz leer, ich glaube, solche Häuser gibt es in Afrika, ich sah den trockenen Bretterfußboden und eine große, breite Tür, die ins Freie führte.
„Ah, eine Terrasse‟, rief ich und ging hinaus. Es war eine große Terrasse, auch ganz aus Holzbrettern und hoch über dem Erdboden, mit einem Holzgeländer. Sie verlief ein ganzes Stück nach vorn und dann links um die Ecke, und dort reichte sie über die ganze Breitseite des Hauses. Ich lief über die ganze Terrasse bis zum Ende, immer die Holzbretter unter mir im Blick.
An ihrem Ende ging die Terrasse in einen schmaleren Weg über, der mitten durch einen hohen Bambuswald führte und mit Stroh- oder Korbmatten auslegt war - ja, wahrscheinlich war es eher Asien, die haben dort auch manchmal solche Häuser. Der Weg führte geradeaus bis zu einer Gabelung, und ich nahm spontan den Abzweig scharf nach links (und dachte im nächsten Moment, das war vielleicht der falsche, vielleicht hätte ich auf dem Hauptweg bleiben sollen, der leicht nach rechts abgebogen war), doch es war zu spät, ich war auf diesem Weg, der noch schmaler war und plötzlich in einer nicht enden wollenden Linkskurve anstieg und...
Na, ich weiß nicht, ob der Weg zu rennen anfing oder Klaus, der vor mir lief, und ich, jedenfalls rannten wir, und das lag an dem Weg, wir liefen weit, weit bis nach oben, und ich hörte, wie eine Frau links neben mir fragte: „Macht er Bodybuilding?‟ Und ein Mann antwortete: „Nein.‟
Im selben Moment stand vor mir ein großer, kräftiger Mann, der ein bisschen dumm, aber gutmütig wirkte. Er hatte beide Arme erhoben und grinste töricht, und eine schöne, klug aussehende Frau schmiegte sich an seine rechte Seite und schnüffelte an seiner Achsel. Dann ging sie um ihn herum, und dem Mann wuchsen immer mehr Haare am Körper, und er stand unverwandt mit erhobenen Armen da und grinste dümmlich.

Wir liefen weiter und mitten in eine riesige Herde Pferde hinein, die uns entgegengaloppierten, lauter kräftige, dunkle Pferde. Wir kamen da nicht mehr raus und wurden von den Pferden mitgezogen und um unsere eigenen Achsen gewirbelt und schwammen im Pferdestrom. Auf einmal war da ein Baby, ein ganz properes, nacktes, rosiges und süßes Baby von vielleicht zwei Monaten, das näherte sich einer Stute und dockte an ihre Zitzen an. Ein Baby wurde von einer Stute genährt. Doch plötzlich schüttelte die Stute das Baby richtig derb ab, so dass ihm die Zitze entwischte und sein Köpfchen nach hinten fiel.

Da richtete ich mich auf und sagte zu Klaus: „Ich will nicht mehr, es werden zu viele Bilder, die ich alle nicht verstehe. Aber ich wollte heute unbedingt noch mein Seelenhaus besuchen. Kannst du mich zu meinem Seelenhaus bringen?‟

Seelenhaus
Im selben Augenblick stand ich vor meinem Seelenhaus. Aber ich stand so dicht dran, dass ich es gar nicht anschauen konnte, und sofort ging die Haustür auf, und ich trat ein. Immer die Augen am Boden, immer am Boden, da sah ich ganz deutlich helle, trockene Holzdielen, sehr sauber und natürlich, angenehm - nein, es war eher eine Art Parkett, aber in Längsscheiten, wie kurze Dielenbretter. Es war ein schmaler, langer Hausflur, der in seiner Schlichtheit durchaus einladend wirkte, und heute war er auch endlich richtig hell.
Dann kam links eine offene Tür. Ich schaute in den Raum hinein und sah am Boden dieses Mal richtiges Fischgrätenparkett, helles, schönes Parkett. Ich wollte da gar nicht hinein, aber ich wurde irgendwie hineingezogen, ich musste da reinlaufen. Ich sah mich nun in dem Raum um, aber da sah ich wieder nichts, hier war - außer dem kleinen Bereich an der offenen Tür - wieder alles ziemlich dunkel.
Villa in Wernigerode. Foto und Bearbeitung: Angela Nowicki

„Klaus‟, sagte ich. „Nicht hier rein, ich muss auf den Dachboden. Bitte bring mich auf den Dachboden.‟

Wenn man von der Tür aus nach rechts ging, ging es in der rechten hinteren Ecke des Raumes wieder hinaus in den Flur, und dort führte eine steile, schmale Holztreppe nach oben. Die stieg ich hinauf, sie war ziemlich lang und machte oben eine Biegung nach rechts - und ich stand im Obergeschoss. Es war ein einziger riesiger Raum, sehr luftig, alles aus Holz, sehr viel freier Platz, kaum Möbel, mit vielen Fenstern. Ich lief nach rechts, also in die linke Haushälfte hinüber, da trat ich am Ende in einen kleinen quadratischen Raum auf der Rückseite des Hauses, der fast nur aus zwei Fenstern bestand und zwei schmucklosen Holzbänken über Eck und Holzdielen.
Ich wollte mich setzen. Plötzlich stand ein großer, schlanker Schwarzafrikaner auf und ging hinaus. Ich war völlig perplex. Ich fragte Klaus: „Was macht der denn hier?‟ Und als ich mich wieder umdrehte, ging es los: Das ganze Obergeschoss war voller Schwarzafrikaner, ein ganzer Stamm schien hier zu wohnen, Männer und noch mehr Frauen, alle halbnackt und in starkfarbigen Stoffen und Schmuck und massenhaft kleine Kinder. Das wuselte umher, dass ich gar nicht mehr durchblickte, ein richtiges Wuhling war hier im Gange, und ich lief völlig geplättet und auch entsetzt durch den ganzen großen Raum und fragte nur immer wieder, wo all die Leute herkommen und was sie hier machen, aber ich erhielt keine Antwort.
Auf einmal rannte ich gegen einen alten Schreibtisch mitten im Raum, daran saß ein weißer Mann und schrieb ein Buch. Als ich näher hinsah, sah ich, dass der Mann schon alt war und etwas verwahrlost, seine Haare waren schütter und fast schulterlang und ungekämmt, und er hatte einen schütteren, ungepflegten Bart, und auf einmal fing er an, ganz breit zu grinsen, immer mit den Augen auf seinem Buch, grinste so, dass es fast hämisch oder gehässig wirkte.
„Klaus, bitte, ich will auf den Dachboden!‟
Wir gingen noch ein Stück weiter durch den Raum zur rechten Haushälfte hinüber, und dort sah ich eine Stange, an der sich eine Wendeltreppe in mehrfachen Spiralen ins Dachgeschoss hoch wand.
„Natürlich‟, sagte ich und war schon völlig fertig. „Es musste ja eine Wendeltreppe sein, was sonst.‟

Als ich jedoch die Wendeltreppe hinaufsteigen wollte, wurde sie immer enger, bis sie nur noch wie ein Strick um den Pfahl gewunden war, und ich rief immer verzweifelter: „Soll ich jetzt den Pfahl hochklettern oder was?‟ Da entfaltete sich die Treppe zum Glück wieder, und ich stieg langsam hinauf und versuchte, die Stufen zu zählen. Ich kam bis vierzehn, aber es müssten eigentlich viel mehr gewesen sein, denn die Treppe wand sich doch mindestens vier oder fünf Mal um den Pfahl. Allerdings waren die Stufen auch sehr weit voneinander entfernt, und im Übrigen war die Treppe eher wie eine Leiter. Bei vierzehn stieg ich also oben raus und dachte, das kann jetzt nicht wahr sein! Als Erstes sah ich Schlamm, und in dem Matsch mittendrin saß ein Jugendlicher in Expeditionskleidung mit einem Käppi und schaute hinaus, und er saß mitten in einem riesigen Schlammbecken. Es sah aus, als fänden auf meinem Dachboden archäologische Ausgrabungen statt! Der Jugendliche war ein Freiwilliger, ein Helfer bei den Ausgrabungen. Und das ganze Dachgeschoss war ein einziges Chaos und völlig kaputt. Mindestens die Hälfte des Daches fehlte, die Sparren lagen in der freien Luft, und beide Längswände fehlten, deshalb konnte der Junge auch einfach im Schlamm sitzen und rausschauen - da war keine Wand! Er schaute zur Rückseite des Hauses hinaus, aber die Vorderseite war auch offen, und auf dem ganzen großen Dachboden ging alles drunter und drüber, es sah aus wie auf einer Baustelle, die seit Jahren Baustopp hat. Als hätte eine Bombe eingeschlagen: Bretter, Zementsäcke, Ziegel, Dämmmaterial und das ganze Baumaterial - alles lag wüst durcheinander, alles alt und verstaubt. Hier passierte nichts. Hier liefen zwar ein paar junge Männer sinnlos durch die Gegend, aber es konnte nicht gebaut werden, alles war kaputt, und entweder warteten sie auf die Freigabe oder auf Material, oder die ganze Baustelle war schon ein Investitionsgrab, keine Ahnung. Als ich nach vorn zum fehlenden Dach rausblickte, sah ich vom First oben einen Ziegel runterfliegen. Ich war völlig fertig.
Ich dachte, ok, du bist jetzt aber auf der rechten Seite, die Ischialgie war auf der linken, ich will zur linken Hausseite rüber, aber da ging es nicht durch. Sie war abgesperrt oder so was. Da waren die hölzernen Stützbalken und dazwischen so eine provisorische Absperrung, aus Dämmmatten oder Pappe, keine Ahnung.
„Ich will hier runter, Klaus, ich will hier raus, bitte komm!‟
Ich lief zur Wendeltreppe und eilte die vierzehn (ja, es waren vierzehn) Stufe wieder ins Obergeschoss, und das war jetzt noch voller.

Ein Stammesmeeting aller Schwarzafrikaner oder was. Ich muss aber sagen, unter den Schwarzen hier, das war zwar total chaotisch und wuselig, aber die Atmosphäre war eigentlich angenehm. Fröhlich und entspannt, nicht bedrohlich. Oben die Atmosphäre war schrecklich gewesen, allerdings auch nicht bedrohlich, eher trostlos und vor allem völlig verwirrend, als hätte ich eins über die Rübe gekriegt. Hier war ich auch verwirrt, und natürlich wollte ich keine fremden Leute im Haus haben, aber es war trotzdem irgendwie nett, wie wenn die Eltern von einer Reise vorzeitig nach Hause kommen und die Bude voller Teenies vorfinden, die Tochter feiert heimlich Party, und die Teenies sind aber alle ganz lieb und nett. So war das hier. So sah ich auch am Rand der Treppe, die ins Untergeschoss führte, jetzt eine lange Bank, auf der ganz viele saßen und fröhlich quatschten, und davor einen kleinen Pool mit türkisfarbenem Wasser, in dem ein Mann und ein paar Kinder schwammen und badeten. Das war auch alles sehr rein irgendwie, das sah sehr schön aus. Dann drängte sich eine große Gruppe Frauen mit ganz vielen kleinen Kindern die Treppe hinunter und ich hinterher.
Mir schien die Treppe dieses Mal länger als beim Aufstieg, doch endlich war ich wieder im Hausflur angelangt und lief Richtung Haustür. Das konnte aber nicht der Hausflur sein. Es war kein Stäbchenparkett mehr auf dem Fußboden, sondern große, alte Holzschindeln, ganz grau, die waren so alt und vergammelt, dass sie sich an beiden Seiten nach oben bogen, und sie waren so morsch, dass urplötzlich die Schindelreihe ganz rechts an der Wand, wo ich entlang lief, einbrach und einen Spalt im Fußboden frei gab, so dass ich regelrecht auf der Tapetenleiste balancieren musste, denn nach links wagte ich nun nicht mehr auszuweichen, weil dort garantiert die nächste Lage eingebrochen wäre.

Und da begann das finale Grauen: Durch den Spalt im Fußboden blickte ich ins Nichts hinein, ins schwarze Nichts. Da war gar kein Erdboden! Mein Haus steht offensichtlich über einem Abgrund! Es gähnte unter ihm eine bodenlose Grube, die Bodenlosigkeit und Schwärze selbst! Und ich klemmte auf der Tapetenleiste, klebte an der Wand und drohte, jeden Moment abzurutschen in diese verschimmelte Bodenlosigkeit hinein, die sich immer mehr ausweitete, bis nichts mehr zu sehen war als diese Bodenlosigkeit und meine mickrige Tapetenleiste unter meinen Füßen.
Da fing ich an zu schreien: „Klaus! Klaus!! Hol mich hier weg, bitte hilf mir Klaus, rette mich, bitte, bitte, hol mich hier weg!!!‟
Ich schlotterte am ganzen Körper und heulte vor Todesangst, aber da war kein Klaus, und da war keine Ausweichmöglichkeit. Ganz vorsichtig, aber schreiend vor Angst und Entsetzen, robbte ich an der Wand rückwärts, dort musste doch die Tür in den Raum mit dem Fischgrätenparkett sein, und sie hatte offen gestanden - aber da kam einfach keine Tür, nur diese verdammte, uralte, vergammelte, graue Natursteinwand! Ich schrie und heulte, ich war kurz vorm Überschnappen, ich dachte, das kann doch nicht sein, dass du auf einer Seelenreise... du brauchst doch nur die Augen aufzumachen, aber das hätte nichts geholfen, das wusste ich ganz klar, es hätte nichts geholfen, ich hätte nur diesen Albtraum in die Realität mit rübergenommen. Ich musste erst hier raus, irgendwie, es gab keinen Realitätsbonus.

Endlich, nach einer kleinen Unendlichkeit, fühlte ich, wie mich Klaus von hinten packte und irgendwo reinzog, ich glaubte, in den Raum, den ich gesucht hatte, er war es aber nicht. Nachdem Klaus mich längere Zeit gezogen und geschleppt hatte - und es war, als verfolge mich der Abgrund! -, stand ich endlich wieder im Hausflur direkt vor der Haustür und sah auch wieder die Parkettleisten, keine Schindeln. Ich stürzte hinaus, völlig außer mir, sah noch einmal am Haus hinauf aus nächster Nähe, nur an der linken Ecke: Ja, es war eine schmucke Natursteinvilla von außen, sogar ziemlich trutzig, wie ein kleines Schloss, ich sah einen Erker und ein Türmchen... und wimmerte, Klaus möge mich sofort von hier weg in die Steppe bringen, ich will in meine Steppe, meine geliebte Steppe!

Dort landete ich dann auch. Mit Klaus. Völlig aufgelöst und atemlos fragte ich ihn, was das gewesen war, was das bedeuten sollte, aber er sagte nur:
„Tja, so sieht das nun mal aus, aber es nützt ja nichts wegzulaufen. Du musst da wieder hin, da muss was gemacht werden. Ist nun mal so: Sie haben dich einfach ins Bodenlose geschmissen. Sie haben dein Haus überm Abgrund gebaut.‟
„Um Gottes Willen, Klaus, wer sind SIE?!‟
Doch das sagte er mir nicht mehr.

© Angela Nowicki, 20. Juni 2013

Mittwoch, 19. Juni 2013

Liebe als Pflicht

Seelenreise vom 7. September 2011

„Liebe als Pflicht. Sagt dir das etwas?‟ fragte ich Klaus. „Was ist das und woher kommt das?‟

Klaus erschien mit einem Kummet zusätzlich zu seinem Zaumzeug.
„Wer hat dir das angetan?‟ rief ich. „Wo kommt das her? Warum trägst du das?‟
Es störte mich ungeheuer, am liebsten wäre ich gleich wieder gegangen, ich wollte Klaus so nicht sehen.
„Nimm es mir ab, bitte, nimm es mir ab!‟ bettelte Klaus.
Ich versuchte es.
„Wer hat dir das denn angelegt?‟
„Du‟, rief Klaus schließlich.
„Ich?‟
Ich war entsetzt. Ich kämpfte weiter mit dem Teil und glaubte schon, es abgenommen zu haben, da sah ich ihn wieder eingeschirrt. Es gelang mir nicht, Klaus zu befreien.

Und da begriff ich. Klaus zeigte mir meinen Zustand! Ich war ein freier Mensch, und ich habe mir selbst so ein Geschirr angelegt, das ich nun nicht wieder ab bekomme.

„Komm mit.‟
Klaus führte mich geradeaus. Nach einigen Minuten liefen wir einen Hohlweg entlang. Rechts eine gras- und strauchbewachsene Böschung. Klaus lief nicht neben mir. Ich hatte ihn schon vorher vor mir laufen sehen. Jetzt lief er immer noch vor mir, aber er war vor einen Bauernwagen gespannt! Er ging und zog voller Mühe, müde und schwitzend, einen schweren Bauernwagen. Es schmerzte mich immer mehr.
Da drehte er sich um und fragte: „Wie sind die Pferde in solch eine Situation gekommen?‟


Rumak
© Angela Nowicki. Rumak. Digital bearbeitete Zeichnung. 2008.
Die Pferde.
Freie, stolze Tiere. Kraftvolle Tiere. Schnelle Tiere.
Das ist eine ganz andere Geschichte als bei Hunden und Katzen. Letztere haben sich von selbst in die Gesellschaft des Menschen begeben, weil es dort leichteres Futter gab. Aber Pferde? Soweit ich weiß, wurden Pferde von den Menschen mit Gewalt gezähmt. Noch heute gibt es wilde Pferde, vor allem in Amerika, die mit dem Lasso eingefangen werden - es wird regelrecht Jagd auf sie gemacht - und dann „zugeritten‟. Jedes Pferd muss zugeritten werden. Kein Pferd wird - auch heute nicht - als Arbeitstier geboren. Es sind immer noch freie Tiere, die sich nie freiwillig in Gefangenschaft begeben würden. Jedenfalls, soweit ich weiß. Jetzt muss ich mich unbedingt genauer darüber informieren, denn es betrifft MICH.
Aber wenn ein Pferd einmal in der Gefangenschaft ist, ist es ebenso treu wie ein Hund. Es macht keine Ausbruchsversuche mehr, sondern schickt sich in sein Schicksal, läuft von allein selbst aus weiter Entfernung wieder in seinen Stall, lässt sich ergeben reiten und vor den Wagen spannen... Wo sollte es auch hin? Pferde sind freie Herdentiere, aus einer Herde der Freien. Ein Pferd allein würde untergehen, es lebt ja auch fast nirgendwo mehr in der Nähe seiner Heimat, denn Pferde sind Steppentiere - STEPPENtiere! Daher meine Steppe! Daher Klaus! ...

© Angela Nowicki, 19. Juni 2013

Dienstag, 18. Juni 2013

Es ist das Kind

Seelenreise vom 4. September 2011
 
Nachdem ich auf meinen Seelenreisen zwei Krafttiere „verschlissen‟ hatte („Ich werde auch wieder gehen‟, hatte meine Schildkröte Hulda gesagt. „Du änderst dich.‟), bin ich eines Abends Anfang September 2011 den Pferden begegnet. Erst mal einem Pferd, das sich Klaus nannte und später Lukas (ein Anagramm, ja, ja).
Pferde sind keine eigentlichen Krafttiere. „Ich bin ein Tier, und ich habe Kraft‟, hatte Lukas irgendwann auf meine Frage geantwortet. „Aber ich bin kein Krafttier. Ich bin dein Lehrer.‟ (Noch lange vor der Big Bang Theory und Sheldons Running Statement: „Amy ist weiblich, und wir sind befreundet. Aber sie ist nicht meine Freundin.‟ *lol*)
Also, Lukas ist mein Lehrer, und durch ihn habe ich die mir verwandte Seelengruppe gefunden: die Pferde. Aber das ist eine andere Geschichte. Am nächsten Abend jedenfalls ging ich wieder zu - damals noch - Klaus...

... schmiegte mich an ihn und fragte ihn dann, was er mir zeigen möchte, denn er war schon wieder gekommen, um mich abzuholen.
„Du dachtest doch, du hättest einen Teil von dir abgespalten‟, sagte er, während wir wieder nach links liefen. Rechts von Klaus fiel die Wiese von allen Seiten in eine spitze Senke ab, die in einen Waldweg mündete. „Ich zeige dir jetzt, wie es wirklich ist. Mal sehen, ob du es verstehen kannst.‟
Als wir schließlich aus der Steppenlandschaft hinaus an einem langen Foliezelt rechterhand entlang liefen, sagte er: „Es ist das Kind aus deinen Träumen.‟
„Es ist das Kind? Mein abgespaltener Seelenanteil?‟
„Es ist anders, aber es ist das Kind, ja.‟
Am Ende des Foliezeltes begann ein großer Gewächshauskomplex, rechts und links längs zu uns lange Gewächshäuser, und wir liefen und liefen. Dabei hatte ich das Gefühl, dass wir nicht mehr im Freien sind: All diese kilometerlangen Gewächshäuser schienen sich in einem riesigen, übergeordneten Gewächshaus oder einer Halle zu befinden. Was in den Gewächshäusern war, erkannte ich nicht, man sah nur verschwommene Pflanzenschemen.
Die links hörten nun auf, und die rechts gingen in ebenfalls kilometerlange Regale über, die mit Anzuchten vollgestopft zu sein schienen, und es sah aus, als ob diese Unter-Glas-Kulturen und Anzuchttöpfchen Menschenbabys enthalten könnten.
Klaus wandte sich nach links, einer alten und großen, weiß gestrichenen Tür zu, von der die Farbe abblätterte. Es sah aus wie eine Bürotür in der Gärtnerei, bestimmt saß hier die Buchhaltung. Die Tür öffnete sich, und wir traten in einen Hausflur ein. Links war eine Wohnungstür, geradeaus führte eine Treppe nach oben, doch wir stiegen nicht die Treppe hinauf, sondern blieben rechts daneben stehen, wo es eigentlich in den Keller und in den Hof gehen müsste. Dort war aber alles dunkel, das heißt, es stand dort so etwas wie ein großer, dunkler Stein. Vor dem blieben wir stehen und schauten, und nach einiger Zeit erkannte ich ein Baby, einen Jungen, der auf dem Stein auf dem Bauch lag, mit den Beinchen zu uns, und augenscheinlich wegzurobben versuchte.

Er zog uns nach sich in eine Stadt. Ich stand auf einmal in einer Straßenflucht, wie ich sie auf meinen Seelenreisen noch nie gesehen habe. Die Häuser waren alt und schön, mit vielen Verzierungen, alte Jugendstilhäuser.
Dann Szenenwechsel, und ich schwebte mit Klaus gleichsam in der Luft und blickte über einen Platz auf ein Gebäude hinunter, in das ein riesiges rundes Tor hineinführte, ein klassizistischer Bau, der aussah wie der Eingang zu einer Galerie oder einem Museum.
Und nun geriet endgültig alles durcheinander. Es waren so viele, so deutliche Bilder und Szenen, dass ich bestimmt die Hälfte schon wieder vergessen habe und die Reihenfolge sowieso. Immer wieder tauchte mein acht Monate alter Enkel vor meinen Augen auf, wie er isst, wie er sich etwas in den Mund steckt, seinen Finger in den Mund steckt, immer sein Mund.
Irgendwann nach dieser Stadt, in der ich nur kurz war, blickte ich, ebenfalls von oben, über eine sehr detaillierte Landschaft, die mich an das Erzgebirge erinnerte: Hügel, Berge, Wiesen, Waldgruppen... Ich weiß es nicht mehr genau, aber sie war mir sehr vertraut.

Verzaubertes Kind
Und irgendwann trat oder fiel ein Baby heraus, und das, aus dem es herauskam, war eine riesige Hülle von der Gestalt eines Menschen, und diese Hülle war ich. Diese Hülle war dunkel, alt und morsch, und während das Baby - oder die Babys? ich glaube, es waren mehrere - herauskam, begann diese morsche, alte Hülle zu bröckeln und zerfiel ganz langsam. Und da sagte Klaus: „Du musst die Alten das Kind gebären lassen‟ - oder so ähnlich. Er sagte nicht, dass ich etwas gebären müsse, er sprach in der dritten Person: „die Alten‟ oder „die Eltern‟ oder „die Erzieher‟, aber er identifizierte mich damit. Es war klar, dass ich damit gemeint war, aber mit den Babys, den Kindern auch, auch ich, und er sagte, es sei meine Aufgabe. Es sei dringend, höchste Zeit, dass die alte Hülle die Kinder zur Welt bringe.

© Angela Nowicki. Verzaubertes Kind. Mandelbulb 3D & Grafiktablett. 2012

Flöha
Wir schwebten oder standen dann wieder auf einer Anhöhe über einem schmalen, flachen Fluss, und ich war mir sicher, dass das die Flöha sei. Der Fluss wurde immer schmaler und wurde schließlich zu einem fußbreiten Grat an einem fast senkrechten Bergabhang. Der Berg wurde zum nackten Fels, und dieser Fels war sehr, sehr hoch, und wir schwebten oben an dem Fels, etwas oberhalb des fußbreiten Grats, der vorher ein Fluss, die Flöha, gewesen war und sahen, wie links ein breiter Wasserfall über mehrere Stufen in die Tiefe stürzte. Der Grat war so schmal, dass ich mir sicher war, darauf nicht gehen zu können, und doch bewegten wir uns auf ihm entlang nach rechts, immer hart an der nackten Felswand über dem schwindelnden Abgrund. Es wuchsen aber auch Bäume und Sträucher, verkrüppelte Bäume an dem Felshang, es war alles grün und feucht und durchaus lebendig. Ich wunderte mich nur, dass wir nicht abstürzten, denn eigentlich war es menschenunmöglich, auf diesem fußbreiten Grat quer am Felsen entlang zu kriechen. Dann kamen wir auf der rechten Seite
an einen ähnlichen Wasserfall wie am Anfang, ungeheuer breit, sehr viel Wasser.
André Karvath. Flöha. 2008. Quelle: Wikipedia


Und dann kamen noch viele Szenen und Bilder, ich weiß das alles nicht mehr, und immer wieder mein Enkel mit seinem Mund dazwischen, in den er irgendetwas hineinsteckte. Die Szenen waren ja auch so verschieden, das weiß ich noch: Von der Stadt ohne Übergang in eine Landschaft, von dort wieder woandershin, alles fast ohne Übergang, ich reiste nicht, ich tauchte in einer Szene oder einem Bild auf und dann im nächsten; einen logischen Zusammenhang konnte ich nicht erkennen. Aber die Bilder waren ungewöhnlich deutlich.
Ich sah auch einmal ganz deutlich ein Pferdegebiss vor mir, und ich dachte, das sei Klaus, aber es war kein typisches Pferdemaul mit seinen Lefzen, sondern ein großes, weit aufgerissenes Maul mit einem Pferdegebiss, und drin war alles schwarz, und es war, als wolle es mich verschlingen oder in sich hineinschauen lassen.

Und einmal, und das war sehr beeindruckend und wirkte in mir noch lange nach, sah ich die „Blaupause eines Menschen‟, einen „negativen Menschen‟: Lichtstrahlen umgaben ein schwarzes Loch von der Form eines Menschen. Der Mensch wurde geschaffen als Abfall des Lichtes, als Nichtlicht.

Und aus irgendeiner Szene rutschte ich, ohne es richtig zu merken, ins Finale hinein. Es war die Wiederholung der heutigen realen Abschiedsszene in Leipzig: Mein Partner und ich standen auf der Straße vor unserem Auto, und unsere Tochter lief mit dem Enkel im Kinderwagen nach vorn, zum Ende des Blocks hin... Ich schrak fast zusammen, als mir plötzlich einfiel, dass sie wirklich nach vorn gelaufen war - so, als hätte ich das in der Realität gar nicht bewusst wahrgenommen - wieso nach vorn? Ihr Hauseingang lag ein Haus hinter uns? Wollte sie noch weiter mit dem Kleinen spazieren gehen, weil ihr unser Spaziergang zu kurz gewesen war, während mein Partner und ich schon erschöpft schwitzten? Natürlich nicht! Da fiel es mir wieder ein: Sie kann mit dem Kinderwagen nicht zum Vordereingang rein, sie muss noch einmal ums ganze Karree laufen, damit sie durch das Tor an der Seite in den Hof rein kann. In der Realität musste sie gar nicht ums ganze Karree laufen, sondern nur um die Ecke, denn der Hof hat von beiden Seiten je ein Tor, und mir wurde das auch auf der Seelenreise gleich klar. Aber für die Botschaft der Seelenreise war es wichtig, dass sie ums ganze Karree herum musste. Diese Botschaft übermittelte mir Klaus, und sie lautete in etwas wie folgt:

„Du musst dich von deinen Eltern verabschieden und mit deinem Kind noch einmal den weiten Weg um alles herumlaufen, um nach Hause zu kommen.‟

Als wir dann endlich erschöpft wieder auf unsere Steppenwiese sanken, in unsere Savanne, in die Prärie, saß ich links neben Klaus, und Klaus legte sich hin, er schien sehr erschöpft zu sein, er lag, und sein schöner Kopf sank langsam auf die Vorderbeine, und ich schmiegte mich an seinen Hals und sagte: „Ich weiß nicht, ob ich es verstanden habe, aber es war sehr intensiv und ist tief in mich eingedrungen.‟ Und Klaus sagte: „Das ist schön, so soll es sein.‟ Ich sagte: „Das arbeitet jetzt in mir.‟ Und Klaus sagte wieder: „Das ist schön.‟

Noch einmal sah ich ein Baby vor mir in der Luft sitzen, aber dieses Mal war es nicht mein Enkel, sondern ein sehr alter, hässlicher, verschrumpelter Mann, ein Babygreis.

Später fragte ich ihn, ob ich denn wirklich so einseitig auf meinen Verstand, meine geistige Intelligenz fixiert sei. Er sagte: „Auf dieser Welt ist alles einseitig, aber so muss es sein. Du bist nicht nur auf deinen Intellekt fixiert, nein, du hast sehr viele Kräfte. Mach dir mal keine Gedanken, es ist schon alles richtig so.‟
Noch später fragte ich ihn, ob ich immer noch am Falschen arbeite, oder ob das Schreiben jetzt das Richtige sei, und er sagte: „Das, woran du arbeitest, ist immer das Richtige.‟

Es kamen dann immer wieder einzelne, intensive Bilder, die mir direkt schon ein bisschen lästig wurden, weil ich sie in keinen Zusammenhang mehr bringen konnte und die Reise ja eigentlich auch schon abgeschlossen und rund war.
Ich musste einmal kurz aufstehen, um das Fenster wieder zu öffnen, weil das Gewitter abgezogen war. Dabei fühlte ich, dass ich mich verändert haben muss. Ich fühlte mich wie ein anderer Mensch. Als sei ich in eine andere Seele hinein gewechselt, oder als sei ein neues Seelenstück in mir hinzugekommen, so dass man auf einmal ein anderes Selbstgefühl hat. Beschreiben kann ich es schwer: Ich fühlte mich in mir fest und ruhig - nicht mehr so flatterig und getrieben - so, als habe ich mich innerlich hingesetzt und an etwas gebunden, sehr konzentriert. Es war ein verdammt gutes Gefühl, auch wenn es keine Vielseitigkeit mehr zu beinhalten schien, aber ich weiß jetzt wirklich nicht mehr genau, wie sich das anfühlte.
Als ich wieder im Bett lag und die Augen schloss, senkte sich auf einmal ganz sanft und leicht ein Schleier vor die innere Welt, in der ich gerade gewesen war, wie ein heller Musselinschleier, über das ganze Bild, verdeckte alles, wie im Theater, wenn der Vorhang fällt.

© Angela Nowicki, 18. Juni 2013

Montag, 17. Juni 2013

Die Befreiung

Ich werde jetzt in straffer Folge von einer bemerkenswerten Entwicklung berichten, die ihren unmittelbaren Anfang mit einer Seelenreise vor fast zwei Jahren nahm. Ich habe nach und nach herausgefunden, welche Lasten ich von meinen Vorfahren übernommen habe, und ich bin gerade dabei, die letzten davon zurückzugeben und mich von meinen Ahnen abzulösen, um endlich mein eigenes, freies Leben führen zu können.

Entwicklung ist ein Grundgesetz des Lebens. Wenn unsere Seele ins Leben eintritt, ist sie kein unbeschriebenes Blatt. Wir bringen ungelöste Erfahrungen aus dem universellen Bewusstsein mit, die aus vielen anderen individuellen Leben dort gespeichert wurden, und fast jeder von uns schleppt Lasten seiner Vorfahren, die diese wiederum über Generationen weitergegeben haben. Wie in einer endlosen Fuge sind alle Seelen, die je gelebt haben, leben und je leben werden, miteinander verflochten. Ein ewiger Fackellauf.
Die Lasten der Ahnen gehören uns nicht. Es sind fremde Lasten, die wir auf einer zutiefst unbewussten Ebene bereits bei unserer Zeugung, im Mutterleib und in der frühen Kindheit auf uns nehmen, weil wir uns schuldig fühlen. Das ist ein ganz natürlicher Prozess, denn Leben heißt Schuldigwerden, dem kann sich niemand, wirklich niemand entziehen. Wer lebt, wirkt, und wer wirkt, lädt Schuld auf sich. Das ist die eigentliche Erbsünde des Alten Testaments: Wir erben das Leben und damit auch den Zwang, Ursachen zu setzen, deren Wirkung wir nicht einmal ansatzweise überblicken können.
Unser seelischer Entwicklungsprozess im physischen Körper verlangt nun aber von uns, dass wir uns dieser Zusammenhänge auf die eine oder andere Art bewusst werden. Es geht nicht ums Handeln. Bewusstsein ist alles - das Handeln folgt dann ganz von selbst, ohne gezielte Anstrengung. Wenn wir uns der familiären Lasten bewusst werden, können wir sie an den oder die Vorfahren, denen wir sie abgenommen haben, zurückgeben. Das kann auf Seelenreisen geschehen oder mithilfe der Methoden von Phyllis Krystal, die letztlich nichts anderes als methodisch ausgearbeitete Seelenreisen sind.

Eines muss klar sein: Wenn ich von Schuld spreche, so meine ich damit keine persönliche Verfehlung! Leider ist der Schuldbegriff von den Kirchen der Welt über Jahrhunderte hinweg personalisiert, kriminalisiert und damit moralisch absolut negativ besetzt worden. Es geht hier aber nicht um Moral. Schuld ist nichts Falsches oder Böses, es ist nichts, was wir absichtlich tun oder lassen können, sondern eine immanente Eigenschaft des Lebens. Diese objektive Bedeutung ist heute noch im Begriff des vertraglichen oder gesetzlichen Schuldverhältnisses begreifbar: Der Schuldner hat nichts Schlimmes getan, sondern einfach etwas erhalten, was ihm im Gegenzug eine Leistungspflicht auferlegt. Das ist in etwa inhaltsgleich mit dem hinduistischen Begriff Karma, der leider im populären Verständnis ähnlich moralisch missverstanden wird.

Skuld (Schuld) ist auch der Name einer der drei Nornen in der nordischen Mythologie. Es ist die Norne, die in die Zukunft blickt, denn die Zukunft ist „das der Vergangenheit Geschuldete‟. Das ist laut Wikipedia „das Geschehen, das noch zu geschehen hat, weil es auf Grund des Vergangenen nicht anders geschehen kann‟.

Somit sind weder unsere Vorfahren die Täter noch wir die Opfer. Es ist, wie es ist: Kraft unserer Geburt stehen wir in ihrer Schuld, nämlich in der Pflicht, das erhaltene Leben weiterzugeben. Wenn wir heil und ganz wären, würden wir unsere Inkarnation nutzen, um hervorzubringen, was in uns einzigartig ist, und diesen Schatz an andere weiterzugeben, bevorzugt an unsere Kinder. Das ist der gesunde und natürliche Lauf der Dinge; Entwicklung geht immer vorwärts, nie rückwärts. Aber wenn wir heil und ganz wären, bräuchten wir erst gar nicht zu inkarnieren, jedenfalls nicht in der irdischen Welt. Jede im Zuge der Bewusstwerdung eintretende Umkehr unserer Schuld aus der Orientierung auf die Vergangenheit in die Orientierung auf die Zukunft jedoch ist ein Schritt hin zur Heilung und zur Ganzheit.

Diesen Weg bin ich gegangen und habe dabei Erstaunliches erfahren. Und ich werde von Tag zu Tag freier und komme der Person näher, als die ich gedacht bin.

© Angela Nowicki, 17. Juni 2013

Samstag, 15. Juni 2013

Chemnitz, Sonnenberg

Das Chemnitzer Stadtviertel Sonnenberg war seit der Industrialisierung eines der drei Arbeiterviertel der Stadt. Die aus dem umliegenden Erzgebirge und den ländlichen Gebieten im Norden zuströmenden Menschen, die hofften, hier ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wurden in schmucklose, vier- bis fünfgeschossige Mietskasernen mit Trockenklo auf halber Treppe gepfercht. Sie lebten in Armut und Elend, in düsteren, feuchten, viel zu engen Wohnungen. Der Sonnenberg war der Stadtteil mit der größten Einwohnerdichte und, damit einhergehend, einer hohen Säuglingssterblichkeit und grassierender Schwindsucht.
Die heute trotz allem besseren Lebensbedingungen sind nicht dem gesellschaftlichen System zu verdanken, sondern dem allgemeinen Fortschritt. Zu DDR-Zeiten war am „oberen‟ Ende des Sonnenbergs die Sowjetarmee in den alten Kasernengebäuden des 15. Königlich Sächsischen Regiments No. 181 einquartiert. In den Wohnhäusern auf der anderen Seite der damaligen Leninallee wohnten die Familien der Rotarmisten. Es gab mehrere „Russenläden‟, die wegen ihrer zum Teil exotischen Waren auch von den deutschen Einwohnern gern besucht wurden.
Von der Leninallee, die heute Heinrich-Schütz-Straße heißt, verläuft die Zietenstraße, damals Dimitroffstraße, quer über den Sonnenberg bis hinunter zur Augustusburger Straße. Dort unten begann sich Ende der 1980er Jahre etwas zu tun: Die verfallenden Mietskasernen wurden eingerüstet, und Tag für Tag machten sich mehr Bauarbeiter dort zu schaffen, als wir je an einem Fleck gesehen hatten. Der Grund war bald bekannt: Zum Pioniertreffen in Karl-Marx-Stadt 1989 mussten in aller Eile noch ein paar Potemkinsche Dörfer hochgezogen werden. An öffentlichen Toiletten, Papierkörben und Parkbänken fehlte es jedoch selbst bei Margots Besuch wie eh und je.
Heute ist der Sonnenberg immer noch das am meisten sanierungsbedürftige Stadtviertel. In den nicht erst seit der Wende leer stehenden Bruchbuden hat sich schnell die Chemnitzer Alternative angesiedelt: Künstler, Sozialarbeiter, Aussteiger. Eine Chemnitzer Variante der Bunten Republik Neustadt ist es trotzdem nicht geworden. Als Kontrastprogramm zu den Hochglanzbildchen im Sonnenberg-Artikel der Wikipedia hier ein paar ausgewählte Schnappschüsse, die ich heute am unteren Ende der Zietenstraße gemacht habe.
 




 
© Angela Nowicki, 15. Juni 2013

Mittwoch, 5. Juni 2013

Barockgarten Schloss Lichtenwalde

Ausgewählte Impressionen aus dem Barockgarten Lichtenwalde. Heute kostete der Eintritt nur 1,50 Euro, weil durch das Hochwasser nicht alle Wasserspiele in Betrieb waren.
 
 
© Angela Nowicki, 5. Juni 2013