Freitag, 21. Juni 2013

Absturz und Aufstieg und alles nur im Kopf

Tagebucheintrag vom 14. September 2011

Liebe als Pflicht.
Ich fühle mich von Familie, Bekannten, Job und Alltag dauernd unter Druck gesetzt.
Ich bin im falschen Leben. Am falschen Ort. In der falschen Gruppe. Im Joch.
Mein Seelenhaus steht über einem Abgrund und hat ein völlig zerstörtes Dachgeschoss.
Wiederkehrende Träume: Babys (extrem oft). Verstorbene Eltern. Liebe zu einem Fremden.

Heute kam die totale Krise. Augenmigräne, Ischialgie. Abends in einer regelrechten Zwangsjacke aus Nervosität, Anspannung und Ablehnung. Das erreichte seinen Gipfel, als ich überlegte, was ich tun könnte, und nur Lust hatte, meine Träume und Seelenreisen auf Symbole hin zu analysieren. Da bin ich schon nach kurzer Zeit fast ausgeflippt vor Nervosität und Unerträglichkeit des Immergleichen. Ich hätte gern geschrieben, doch mir fiel einfach nichts ein! Ja, zum ersten Mal seit Beginn des Schreibens hatte ich das totale Gefühl, nicht wirklich schreiben zu können und nie etwas zu Stande zu bringen. Die totale Blockade. Ich klopfte mir drei Runden lang kräftig die Meridiane auf der Suche nach Inspiration. Anschließend wurde ich ganz allmählich immer ruhiger, und das war ein gutes Gefühl.

Und nachts wurde ich um 3 Uhr wach und explodierte vor Sinnlichkeit, Lebenslust und Spielfreude, der totale Künstler, der Mercurius, brach aus! Ich haute mir Alan Price auf dem mp3-Player rein und tanzte auf dem Küchenbalkon! Dabei stellte ich mir vor, wie ich Theater spiele, Theater schaffe - es war aber ein inhaltsloser Druck, nur die Form drückte wie wild, so dass es mich fast zerriss, ohne dass ich auch nur die leiseste Idee bekommen hätte, WAS ich eigentlich darstellen möchte. Die Form drückte derart, dass ich mich in einen anderen Menschen verwandelte, einen bunten, tanzenden, über alles lachenden, alles verspottenden, auf jedem Schritt Kunst zaubernden, selbst im tiefsten Alltag völlig aus dem Alltag ausgeflippten. Das bin ich! So will ich sein! Ja, das wurde dann aber schnell richtig schmerzhaft, richtig unerträglich, dieser Druck, ich dachte, ich explodiere, weil ich eben keine Ideen dazu hatte. Da suchte ich etwas, was mich wieder runterbringen könnte, und das war Borges. Ich las mehrere Erzählungen von ihm, bevor ich einschlief, und fand diesen Schriftsteller genial. So genial, dass ich wieder das Gefühl bekam, nichts zu können...

Das Ganze war vor einer Woche losgegangen, und zwar witzigerweise nicht auf der geistigen, sondern der körperlichen Ebene. Alles war wunderbar gewesen, bis mein Ischiasnerv sich aus unerfindlichen Gründen einklemmte und nicht wieder los kam. Ein glatter Beweis dafür, dass wir alle nur Spielfiguren sind, wir setzen niemals Ursachen, können wir gar nicht. Wie literarische Figuren denken, reden und handeln nach dem Willen ihres Autors. Und auf die körperliche Verkrampfung folgte am Abend und am nächsten Tag erst die geistige: Ich begann, seit langer Zeit wieder zu powern. Fünf Tage lang, bis gestern. Litt dabei furchtbar und brach gestern Abend völlig zusammen. Körperlich und geistig.
Darauf folgte rasch die wunderbare Heilung, die aber nur eine Verlagerung auf der körperlichen Ebene zu sein schien: Heute hatte ich dann Augenmigräne. Lag den ganzen Tag erschöpft unter einem Berg von Schutt und glaubte, erst morgen wieder zu leben anfangen zu können. Ein Tag Aufschub. Als die Migräne nachließ, rasselte erst der ganze Schutt, die ganzen Trümmer runter auf meine Nerven und meine Seele. Als hätte die Migräne noch eine Art Schutzschild gebildet. Der war dann weg, und ich lag mehrere Stunden lang verschüttet und brüllend vor Seelenschmerz. Oder Geistesschmerz. Und mit der Erinnerung daran, dass ich nur eine Geschichtenfigur bin, löste sich der ganze Schutt auf und ich stieg steil in den Himmel wie ein Heliumballon, dem in der Nacht plötzlich ein versiegelter Motor platzte, so dass er zu rasen begann und mich außerhalb jeder Kontrolle in einer derart wilden Jagd über die Himmel jagte, dass ich schließlich nur noch runter wollte. Da kam ich runter, sicher, sanft, aber doch schmerzhaft. Unten war auch nicht das Ziel, auch wieder nur eine Ruhepause.

Und jetzt hoppele und holpere ich mit stotterndem, erschöpftem Motor über den Acker und weiß nicht, wo ich bin und wie es weitergehen soll...

© Angela Nowicki, 21. Juni 2013

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