Donnerstag, 20. Juni 2013

Leben über dem Abgrund

Seelenreise vom 10. September 2011

Klaus kam zuerst ganz frei heute, ohne irgendwelches Geschirr, er war ein ganz freies, wildes, stolzes Pferd. Und er kam nicht allein, ein anderes Pferd lief neben ihm auf mich zu, vielleicht eine Stute, doch als sie sich näherten, zog sie sich zurück und verschwand. Ich freute mich so, dass Klaus frei ist, ich freute mich so über die endlose Steppe mit ihrem weichen Gras, über das immer der Wind weht, und ich begrüßte Klaus und begann, laut nachzudenken, wie das war mit der Zähmung der Pferde und wie das war mit meiner Zähmung.

Die Menschen haben die Pferde also mit Gewalt eingefangen und ins Joch gespannt, weil sie so viel schneller waren als sie und ihnen als Fahrzeuge und später als Arbeitstiere nützen konnten, und dann haben sie sie über Jahrtausende hinweg so gezüchtet, dass sie weniger aggressiv und anhänglicher wurden und ganz stockbrav und treu und die Menschenstämme als ihre Herde ansahen.

Sie haben mich also mit Gewalt eingefangen und unters Joch gestellt, weil ich Eigenschaften hatte, die für sie sehr wertvoll waren, um sie auszunutzen, und dann haben sie mich im Laufe der Zeit so konditioniert oder gezüchtet, dass ich freiwillig bei ihnen blieb, in der Gruppe, die eigentlich mein Leben ist, aber in der falschen Gruppe, in der Gruppe der falschen Wesen, ja - aber wo sind meine Gefährten? Und dann stand eine ganze Herde Pferde vor mir, und sie schauten mich an.
Ich fragte ergriffen: „Seid ihr meine Seelengefährten?‟ und dabei lief mir ein Schauer über den Körper.
Da drehte sich eine Stute enttäuscht zu den anderen um und sagte: „Sie erkennt uns nicht.‟
„Ja, wie soll ich euch denn erkennen‟, rief ich verzweifelt, als ein Pferd nach dem anderen sich umdrehte und mich nicht mehr beachtete. „Ich bin doch kein Pferd. Ich habe zwar dieselbe Seele und dasselbe Schicksal, aber ich war doch kein Pferd? Ich bin doch ein Mensch!‟

Dann hatte Klaus wieder sein Zaumzeug am Kopf, und ich rief: „Warum hast du jetzt das wieder?‟
Doch er sagte: „Das brauche ich jetzt noch, um dich führen zu können, du musst dich doch an mir festhalten können.‟

Dann passierte lange Zeit nichts, ich saß nur da, und Klaus lief und tänzelte umher. Auf einmal kam er zu mir und sagte: „Komm mit‟, und dieses Mal lief ich an seiner rechten Seite, und er ging mit mir nach rechts.
Wir liefen lange. Unterwegs meinte ich einmal, links Menschen zu sehen, die schwer mit Stricken arbeiteten. Sie hielten jeder mindestens zwei Taue in beiden Händen und zogen damit an irgendetwas, doch ich konnte nicht erkennen woran. Es schienen große, senkrecht stehende Korbplatten zu sein, dann wieder ein wildes Pferd, das sich nicht einfangen ließ...

Endlich bemerkte ich, dass ich in einem Haus angekommen war, aber das war kein europäisches Haus, sondern so eines auf Stelzen, ganz aus Holz, ganz leer, ich glaube, solche Häuser gibt es in Afrika, ich sah den trockenen Bretterfußboden und eine große, breite Tür, die ins Freie führte.
„Ah, eine Terrasse‟, rief ich und ging hinaus. Es war eine große Terrasse, auch ganz aus Holzbrettern und hoch über dem Erdboden, mit einem Holzgeländer. Sie verlief ein ganzes Stück nach vorn und dann links um die Ecke, und dort reichte sie über die ganze Breitseite des Hauses. Ich lief über die ganze Terrasse bis zum Ende, immer die Holzbretter unter mir im Blick.
An ihrem Ende ging die Terrasse in einen schmaleren Weg über, der mitten durch einen hohen Bambuswald führte und mit Stroh- oder Korbmatten auslegt war - ja, wahrscheinlich war es eher Asien, die haben dort auch manchmal solche Häuser. Der Weg führte geradeaus bis zu einer Gabelung, und ich nahm spontan den Abzweig scharf nach links (und dachte im nächsten Moment, das war vielleicht der falsche, vielleicht hätte ich auf dem Hauptweg bleiben sollen, der leicht nach rechts abgebogen war), doch es war zu spät, ich war auf diesem Weg, der noch schmaler war und plötzlich in einer nicht enden wollenden Linkskurve anstieg und...
Na, ich weiß nicht, ob der Weg zu rennen anfing oder Klaus, der vor mir lief, und ich, jedenfalls rannten wir, und das lag an dem Weg, wir liefen weit, weit bis nach oben, und ich hörte, wie eine Frau links neben mir fragte: „Macht er Bodybuilding?‟ Und ein Mann antwortete: „Nein.‟
Im selben Moment stand vor mir ein großer, kräftiger Mann, der ein bisschen dumm, aber gutmütig wirkte. Er hatte beide Arme erhoben und grinste töricht, und eine schöne, klug aussehende Frau schmiegte sich an seine rechte Seite und schnüffelte an seiner Achsel. Dann ging sie um ihn herum, und dem Mann wuchsen immer mehr Haare am Körper, und er stand unverwandt mit erhobenen Armen da und grinste dümmlich.

Wir liefen weiter und mitten in eine riesige Herde Pferde hinein, die uns entgegengaloppierten, lauter kräftige, dunkle Pferde. Wir kamen da nicht mehr raus und wurden von den Pferden mitgezogen und um unsere eigenen Achsen gewirbelt und schwammen im Pferdestrom. Auf einmal war da ein Baby, ein ganz properes, nacktes, rosiges und süßes Baby von vielleicht zwei Monaten, das näherte sich einer Stute und dockte an ihre Zitzen an. Ein Baby wurde von einer Stute genährt. Doch plötzlich schüttelte die Stute das Baby richtig derb ab, so dass ihm die Zitze entwischte und sein Köpfchen nach hinten fiel.

Da richtete ich mich auf und sagte zu Klaus: „Ich will nicht mehr, es werden zu viele Bilder, die ich alle nicht verstehe. Aber ich wollte heute unbedingt noch mein Seelenhaus besuchen. Kannst du mich zu meinem Seelenhaus bringen?‟

Seelenhaus
Im selben Augenblick stand ich vor meinem Seelenhaus. Aber ich stand so dicht dran, dass ich es gar nicht anschauen konnte, und sofort ging die Haustür auf, und ich trat ein. Immer die Augen am Boden, immer am Boden, da sah ich ganz deutlich helle, trockene Holzdielen, sehr sauber und natürlich, angenehm - nein, es war eher eine Art Parkett, aber in Längsscheiten, wie kurze Dielenbretter. Es war ein schmaler, langer Hausflur, der in seiner Schlichtheit durchaus einladend wirkte, und heute war er auch endlich richtig hell.
Dann kam links eine offene Tür. Ich schaute in den Raum hinein und sah am Boden dieses Mal richtiges Fischgrätenparkett, helles, schönes Parkett. Ich wollte da gar nicht hinein, aber ich wurde irgendwie hineingezogen, ich musste da reinlaufen. Ich sah mich nun in dem Raum um, aber da sah ich wieder nichts, hier war - außer dem kleinen Bereich an der offenen Tür - wieder alles ziemlich dunkel.
Villa in Wernigerode. Foto und Bearbeitung: Angela Nowicki

„Klaus‟, sagte ich. „Nicht hier rein, ich muss auf den Dachboden. Bitte bring mich auf den Dachboden.‟

Wenn man von der Tür aus nach rechts ging, ging es in der rechten hinteren Ecke des Raumes wieder hinaus in den Flur, und dort führte eine steile, schmale Holztreppe nach oben. Die stieg ich hinauf, sie war ziemlich lang und machte oben eine Biegung nach rechts - und ich stand im Obergeschoss. Es war ein einziger riesiger Raum, sehr luftig, alles aus Holz, sehr viel freier Platz, kaum Möbel, mit vielen Fenstern. Ich lief nach rechts, also in die linke Haushälfte hinüber, da trat ich am Ende in einen kleinen quadratischen Raum auf der Rückseite des Hauses, der fast nur aus zwei Fenstern bestand und zwei schmucklosen Holzbänken über Eck und Holzdielen.
Ich wollte mich setzen. Plötzlich stand ein großer, schlanker Schwarzafrikaner auf und ging hinaus. Ich war völlig perplex. Ich fragte Klaus: „Was macht der denn hier?‟ Und als ich mich wieder umdrehte, ging es los: Das ganze Obergeschoss war voller Schwarzafrikaner, ein ganzer Stamm schien hier zu wohnen, Männer und noch mehr Frauen, alle halbnackt und in starkfarbigen Stoffen und Schmuck und massenhaft kleine Kinder. Das wuselte umher, dass ich gar nicht mehr durchblickte, ein richtiges Wuhling war hier im Gange, und ich lief völlig geplättet und auch entsetzt durch den ganzen großen Raum und fragte nur immer wieder, wo all die Leute herkommen und was sie hier machen, aber ich erhielt keine Antwort.
Auf einmal rannte ich gegen einen alten Schreibtisch mitten im Raum, daran saß ein weißer Mann und schrieb ein Buch. Als ich näher hinsah, sah ich, dass der Mann schon alt war und etwas verwahrlost, seine Haare waren schütter und fast schulterlang und ungekämmt, und er hatte einen schütteren, ungepflegten Bart, und auf einmal fing er an, ganz breit zu grinsen, immer mit den Augen auf seinem Buch, grinste so, dass es fast hämisch oder gehässig wirkte.
„Klaus, bitte, ich will auf den Dachboden!‟
Wir gingen noch ein Stück weiter durch den Raum zur rechten Haushälfte hinüber, und dort sah ich eine Stange, an der sich eine Wendeltreppe in mehrfachen Spiralen ins Dachgeschoss hoch wand.
„Natürlich‟, sagte ich und war schon völlig fertig. „Es musste ja eine Wendeltreppe sein, was sonst.‟

Als ich jedoch die Wendeltreppe hinaufsteigen wollte, wurde sie immer enger, bis sie nur noch wie ein Strick um den Pfahl gewunden war, und ich rief immer verzweifelter: „Soll ich jetzt den Pfahl hochklettern oder was?‟ Da entfaltete sich die Treppe zum Glück wieder, und ich stieg langsam hinauf und versuchte, die Stufen zu zählen. Ich kam bis vierzehn, aber es müssten eigentlich viel mehr gewesen sein, denn die Treppe wand sich doch mindestens vier oder fünf Mal um den Pfahl. Allerdings waren die Stufen auch sehr weit voneinander entfernt, und im Übrigen war die Treppe eher wie eine Leiter. Bei vierzehn stieg ich also oben raus und dachte, das kann jetzt nicht wahr sein! Als Erstes sah ich Schlamm, und in dem Matsch mittendrin saß ein Jugendlicher in Expeditionskleidung mit einem Käppi und schaute hinaus, und er saß mitten in einem riesigen Schlammbecken. Es sah aus, als fänden auf meinem Dachboden archäologische Ausgrabungen statt! Der Jugendliche war ein Freiwilliger, ein Helfer bei den Ausgrabungen. Und das ganze Dachgeschoss war ein einziges Chaos und völlig kaputt. Mindestens die Hälfte des Daches fehlte, die Sparren lagen in der freien Luft, und beide Längswände fehlten, deshalb konnte der Junge auch einfach im Schlamm sitzen und rausschauen - da war keine Wand! Er schaute zur Rückseite des Hauses hinaus, aber die Vorderseite war auch offen, und auf dem ganzen großen Dachboden ging alles drunter und drüber, es sah aus wie auf einer Baustelle, die seit Jahren Baustopp hat. Als hätte eine Bombe eingeschlagen: Bretter, Zementsäcke, Ziegel, Dämmmaterial und das ganze Baumaterial - alles lag wüst durcheinander, alles alt und verstaubt. Hier passierte nichts. Hier liefen zwar ein paar junge Männer sinnlos durch die Gegend, aber es konnte nicht gebaut werden, alles war kaputt, und entweder warteten sie auf die Freigabe oder auf Material, oder die ganze Baustelle war schon ein Investitionsgrab, keine Ahnung. Als ich nach vorn zum fehlenden Dach rausblickte, sah ich vom First oben einen Ziegel runterfliegen. Ich war völlig fertig.
Ich dachte, ok, du bist jetzt aber auf der rechten Seite, die Ischialgie war auf der linken, ich will zur linken Hausseite rüber, aber da ging es nicht durch. Sie war abgesperrt oder so was. Da waren die hölzernen Stützbalken und dazwischen so eine provisorische Absperrung, aus Dämmmatten oder Pappe, keine Ahnung.
„Ich will hier runter, Klaus, ich will hier raus, bitte komm!‟
Ich lief zur Wendeltreppe und eilte die vierzehn (ja, es waren vierzehn) Stufe wieder ins Obergeschoss, und das war jetzt noch voller.

Ein Stammesmeeting aller Schwarzafrikaner oder was. Ich muss aber sagen, unter den Schwarzen hier, das war zwar total chaotisch und wuselig, aber die Atmosphäre war eigentlich angenehm. Fröhlich und entspannt, nicht bedrohlich. Oben die Atmosphäre war schrecklich gewesen, allerdings auch nicht bedrohlich, eher trostlos und vor allem völlig verwirrend, als hätte ich eins über die Rübe gekriegt. Hier war ich auch verwirrt, und natürlich wollte ich keine fremden Leute im Haus haben, aber es war trotzdem irgendwie nett, wie wenn die Eltern von einer Reise vorzeitig nach Hause kommen und die Bude voller Teenies vorfinden, die Tochter feiert heimlich Party, und die Teenies sind aber alle ganz lieb und nett. So war das hier. So sah ich auch am Rand der Treppe, die ins Untergeschoss führte, jetzt eine lange Bank, auf der ganz viele saßen und fröhlich quatschten, und davor einen kleinen Pool mit türkisfarbenem Wasser, in dem ein Mann und ein paar Kinder schwammen und badeten. Das war auch alles sehr rein irgendwie, das sah sehr schön aus. Dann drängte sich eine große Gruppe Frauen mit ganz vielen kleinen Kindern die Treppe hinunter und ich hinterher.
Mir schien die Treppe dieses Mal länger als beim Aufstieg, doch endlich war ich wieder im Hausflur angelangt und lief Richtung Haustür. Das konnte aber nicht der Hausflur sein. Es war kein Stäbchenparkett mehr auf dem Fußboden, sondern große, alte Holzschindeln, ganz grau, die waren so alt und vergammelt, dass sie sich an beiden Seiten nach oben bogen, und sie waren so morsch, dass urplötzlich die Schindelreihe ganz rechts an der Wand, wo ich entlang lief, einbrach und einen Spalt im Fußboden frei gab, so dass ich regelrecht auf der Tapetenleiste balancieren musste, denn nach links wagte ich nun nicht mehr auszuweichen, weil dort garantiert die nächste Lage eingebrochen wäre.

Und da begann das finale Grauen: Durch den Spalt im Fußboden blickte ich ins Nichts hinein, ins schwarze Nichts. Da war gar kein Erdboden! Mein Haus steht offensichtlich über einem Abgrund! Es gähnte unter ihm eine bodenlose Grube, die Bodenlosigkeit und Schwärze selbst! Und ich klemmte auf der Tapetenleiste, klebte an der Wand und drohte, jeden Moment abzurutschen in diese verschimmelte Bodenlosigkeit hinein, die sich immer mehr ausweitete, bis nichts mehr zu sehen war als diese Bodenlosigkeit und meine mickrige Tapetenleiste unter meinen Füßen.
Da fing ich an zu schreien: „Klaus! Klaus!! Hol mich hier weg, bitte hilf mir Klaus, rette mich, bitte, bitte, hol mich hier weg!!!‟
Ich schlotterte am ganzen Körper und heulte vor Todesangst, aber da war kein Klaus, und da war keine Ausweichmöglichkeit. Ganz vorsichtig, aber schreiend vor Angst und Entsetzen, robbte ich an der Wand rückwärts, dort musste doch die Tür in den Raum mit dem Fischgrätenparkett sein, und sie hatte offen gestanden - aber da kam einfach keine Tür, nur diese verdammte, uralte, vergammelte, graue Natursteinwand! Ich schrie und heulte, ich war kurz vorm Überschnappen, ich dachte, das kann doch nicht sein, dass du auf einer Seelenreise... du brauchst doch nur die Augen aufzumachen, aber das hätte nichts geholfen, das wusste ich ganz klar, es hätte nichts geholfen, ich hätte nur diesen Albtraum in die Realität mit rübergenommen. Ich musste erst hier raus, irgendwie, es gab keinen Realitätsbonus.

Endlich, nach einer kleinen Unendlichkeit, fühlte ich, wie mich Klaus von hinten packte und irgendwo reinzog, ich glaubte, in den Raum, den ich gesucht hatte, er war es aber nicht. Nachdem Klaus mich längere Zeit gezogen und geschleppt hatte - und es war, als verfolge mich der Abgrund! -, stand ich endlich wieder im Hausflur direkt vor der Haustür und sah auch wieder die Parkettleisten, keine Schindeln. Ich stürzte hinaus, völlig außer mir, sah noch einmal am Haus hinauf aus nächster Nähe, nur an der linken Ecke: Ja, es war eine schmucke Natursteinvilla von außen, sogar ziemlich trutzig, wie ein kleines Schloss, ich sah einen Erker und ein Türmchen... und wimmerte, Klaus möge mich sofort von hier weg in die Steppe bringen, ich will in meine Steppe, meine geliebte Steppe!

Dort landete ich dann auch. Mit Klaus. Völlig aufgelöst und atemlos fragte ich ihn, was das gewesen war, was das bedeuten sollte, aber er sagte nur:
„Tja, so sieht das nun mal aus, aber es nützt ja nichts wegzulaufen. Du musst da wieder hin, da muss was gemacht werden. Ist nun mal so: Sie haben dich einfach ins Bodenlose geschmissen. Sie haben dein Haus überm Abgrund gebaut.‟
„Um Gottes Willen, Klaus, wer sind SIE?!‟
Doch das sagte er mir nicht mehr.

© Angela Nowicki, 20. Juni 2013

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