Freitag, 28. Juni 2013

A day in the life

He didn't notice that the lights had changed.

Tagebucheintrag vom 27. September 2011

Am Eingang des Sozialgerichts renne ich gegen zwei Justizbeamte, die Personenkontrollen durchführen, und werde zurückgeschubst zum Pförtner. Der kommuniziert mit mir über ein Mikrofon, ich wette, das ist Panzerglas zwischen ihm und mir.
„Haben Sie Ihren Widerspruchsbescheid mit?‟
„Ich habe alle Unterlagen mit.‟
„Legen Sie bitte den Widerspruchsbescheid in den Kasten.‟
„Das ist ein bisschen komplizierter...‟
„Ich brauche nur den Widerspruchsbescheid.‟
„Ja, aber hören Sie, so einfach ist das nicht, es...‟
„Nur den Widerspruchsbescheid, alles andere können Sie der Beamtin erzählen!‟
Der männliche Sicherheitsbeamte erklärt mir dasselbe von der Seite: „Geben Sie ihm nur den Widerspruchsbescheid, er braucht ihn nur zum Kopieren. Die Kopie bekommt dann die Rechtspflegerin, und der können Sie dann die ganze Geschichte erzählen.‟
Ich gebe mich geschlagen und lege nur den Abhilfebescheid in den Kasten.
Der Pförtner betrachtet ihn lange und gründlich von allen Seiten, einschließlich der angehängten Rechnungen. Schließlich meint er unsicher: „Das ist doch aber kein Widerspruchsbescheid...‟
„Doch, das ist der Abhilfebescheid für unseren Widerspruch.‟
„Hier steht aber nicht drin, dass Sie Klage erheben können...‟
„Dafür kann ich doch nichts.‟
„Dann müssen Sie erst mal Widerspruch gegen diesen Bescheid erheben.‟
„Ich will diesem Bescheid doch gar nicht widersprechen, der ist doch bestens! Ich will nur das Geld endlich haben, das mir daraus zusteht!‟
Resigniert schiebt er mir die Papiere zurück: „Erzählen Sie einfach alles der Kollegin...‟
„Ich habe Ihnen doch gesagt, es ist kompliziert!‟
Der weibliche Sicherheitsbeamte lässt mich mein Handgepäck auf den Tisch neben dem Detektorentor packen. Meine Handtasche hat sechs Reißverschlüsse, alle muss ich öffnen, überall stöbert sie herum, nur den sechsten, in dem die Zigaretten stecken, muss sie übersehen haben.
„Haben Sie Nagelfeilen, Scheren oder so was einstecken?‟
Der Foliebeutel, in dem ich meine Unterlagen mitgebracht habe, ist jetzt leer, die Dokumente liegen verstreut daneben auf dem Tisch.
„Haben Sie noch irgendwelche Metallgegenstände am Körper...‟
„Ja, meine Gürtelschnalle.‟
„... dann gehen Sie ohne Ihre Taschen durch dieses Tor. - Sauuuber!‟
(„Bist ein braves Mädchen‟, lobt Mutti.)
Ich werde ins Wartezimmer der Klagestelle, zwei Türen weiter, geschickt.

Es ist ein fast quadratischer, kleiner Raum mit vier kahlen weißen Wänden, einem kleinen Tisch und zwei Stühlen in der Mitte. Hier sitze ich und warte endlos aufs nächste Verhör, jeden Tag, immer wieder endlose Stunden in diesem kleinen kahlen Raum, in dem die Sekunden zu Gelee werden, immer fester, bis sich gar nichts mehr bewegt...
Die Erinnerung hat mit voller Wucht zugeschlagen, und ich frage mich plötzlich, ob all dies - die Personenkontrollen, die zellenähnlichen Warteräume - nicht absichtliche Taktik ist, um sensiblere Menschen vom Gang zum Sozialgericht abzuschrecken. Anders ergeben gerade die Kontrollen für mich keinen rechten Sinn. In den Jobcenters wären sie angebracht, da ja, dort wird Aggressionspotenzial geschürt, aber beim Sozialgericht? Hier wird den armen Schweinen doch geholfen. Oder sollte jedenfalls, aber manche SGs haben einen ganz guten Ruf, das hier inbegriffen. Warum sollte da jemand die kostenlose Rechtspflegerin mit einer Nagelfeile erstechen wollen?
Ich ertrage die viertelstündige Wartezeit, gefühlte drei Stunden, nur, indem ich versuche, Bilder im Überfluss an die weißen Wände zu imaginieren. Trotzdem muss ich alle zwei Minuten auf den Flur rennen. Sitzen kann ich gar nicht, keine Ahnung warum. Ich kreise wie der Tiger durch seinen Käfig und kenne nach zehn Minuten selbst die kleinsten Details auswendig: wo der Fußboden knistert, wenn man drüberläuft, aber nur einmal, wo jemand gegen die Wand getreten hat, die Nummer auf dem Rauchmelder an der Decke, die Anzahl, Ausrichtung und Form der Sonnenstrahlen, die durch die heruntergelassenen Jalousien fallen, Gitter light...
Dann klappt die Tür nebenan, und kurz danach holt mich eine kleine, ältere Frau in die Klagestelle.

Erst kommt sie ewig nicht in ihre Software rein. Ich schweige, sie fuchtelt wie eine Besessene mit der Maus über die Tischplatte. Nach fünf Minuten wird sie weich: „Ich komme einfach nicht rein...‟
„Passwortgeschützt?‟ frage ich.
„Nein. Ich komme nicht in das Aktenzeichen... Aaah, jetzt bin ich drin! Ich hatte vergessen, OK zu drücken.‟
„Ja, manchmal sind es die banalsten Sachen...‟ ‚Die dümmsten Fehler‘, hätte ich fast gesagt, konnte mir grad noch so auf die Zunge beißen.
Sie setzt erst mal die Klage auf, dabei weiß sie noch gar nicht, worum es geht, und ich habe ihr gesagt, dass ich mir gar nicht sicher bin, ob es eine Klage werden kann.
Endlich erzähle ich dir die wirre Geschichte. Sie versteht sie sogar, ist aber mit ihrem Latein am Ende, weil, wie sie sagt, „gar kein Schriftstück von diesem Jahr vorliegt‟. Der Bescheid und der Widerspruch dagegen sind schon drei Jahre alt, der Abhilfebescheid gegen den Widerspruch ein Jahr. Ich habe noch zwei Schreiben mit, mit denen wir die daraus hervorgehende Zahlung angemahnt haben, eines vom vorigen Jahr, eines vom Februar dieses Jahres.
Sie gibt auf und telefoniert nun das halbe Gericht ab, um jemanden zur Hilfe anzufordern. Endlich hat sie Glück. Eine junge Juristin kommt geeilt. Zum zweiten Mal erzähle ich die wirre Geschichte. Die Juristin hat dasselbe Problem wie die Rechtspflegerin: kein Schreiben vom Jobcenter von diesem Jahr. Wieder schiebe ich ihr unsere Mahnschreiben unter die Nase.
„Ja, Sie sind ja tätig geworden...‟, überlegt sie unsicher. „Sie hätten aber Widerspruch gegen diesen Bescheid...‟
„Wogegen sollte ich denn widersprechen? Dort steht doch, dass unserem Widerspruch in vollem Umfang stattgegeben wird! Da widerspreche ich doch nicht, ich will nur, dass sie dann auch endlich zahlen, was im Widerspruch eingefordert wurde. Ich kann doch nichts dafür, wenn das Jobcenter ein Jahr lang nicht reagiert!‟
„Ja, da haben Sie Recht‟, seufzt sie, immer noch unsicher, und dann hat sie die Erleuchtung:
„Das ist eine Untätigkeitsklage!‟ weist sie die Rechtspflegerin an. „Natürlich, Sie nehmen jetzt eine Untätigkeitsklage auf. Und Sie legen eine Kopie des Abhilfebescheids bei.‟
Nachdem sie sich verabschiedet hat und die Klage endlich aus dem Drucker raus und unterschrieben ist, frage ich die nette kleine Frau nach den Fristen, in denen das Jobcenter nun reagieren muss.
„Also, bei einer normalen Klage haben sie acht Wochen Zeit, um Stellung zu nehmen. Bei einer Untätigkeitsklage weiß ich nicht, wann das Jobcenter mal geruht...‟
„Aber es gibt doch gesetzlich vorgeschriebene Fristen, an die sich auch das Jobcenter halten muss!‟
Darauf bekomme ich keine Antwort mehr.

***

Befreit und wie auf Flügeln schwebe ich rüber in die Hobby Welt. Natürlich haben sie immer noch keine leeren Aquarellkästen.
„Weil die so teuer sind. Da kostet einer 26 Euro, das sind die einzigen von Schmincke, und einen anderen Anbieter habe ich noch nicht gefunden.‟
„Das ist allerdings ein bisschen teuer“, gebe ich zu, denke jedoch an die Kästen für 6 und 16 Euro beim Farben-Merz, deren Anbieter ich allerdings nicht kenne.
Ich packe mir einen Radiergummi und drei Knetgummis ein. An der Kasse steht eine Schlange - ein ungewohntes Bild! Als endlich der Mann vor mir dran ist, ein kleiner, gebeugter, alter Mann, der etwas Winziges gekauft hat, was die Verkäuferin immer als „Sieben‟ betitelt, findet die Kassiererin diese „Sieben‟ nicht in irgendeiner Liste. „Na, wo ist denn die blöde Sieben?‟
„Die ist nicht blöd!‟ knurrt der Mann.
„Natürlich nicht‟, beeilt sie sich zuzugeben.
Sie ist aber schon sehr locker drauf. Als ich ihr meine Radiergummis von hinten in die geöffneten Hände schütte, singt sie fast: „Ra-diiieer-gummiiieees!‟

***

Der Weg zum Farben-Merz ist wieder anstrengend, wieder ist es viel zu warm, die Sonne blendet, und auf der Reitbahnstraße gibt es keinen Schatten. Mein Gesicht brennt.
Dieses Mal ist er im Laden, es ist offen. Als er mir den Kasten zu 16 Euro zeigt, fragt er mich, ob ich eine Ausbildung oder Kurse mache.
„Nein, gar nichts‟, sage ich. „Ich wurstele mich ganz alleine durch, nur ein Forum habe ich im Internet...‟
Und schon verwickeln wir uns in eine lange Diskussion über Internetforen im Allgemeinen und das Happypainting im Besonderen. Er ist ungeheuer misstrauisch gegenüber allen Foren. „Ja, woher weiß man denn, ob die Leute, die einem da Ratschläge geben, wirklich Ahnung haben? Und wenn sie die Bilder, die sie reinstellen, gar nicht selber gemalt haben?‟ Wieder und wieder kommt er auf das Thema zurück, und als ich schon bezahlt habe und gehen will, fragt er nach der Adresse dieses Forums.
„Wenn Sie aber die Bilder sehen wollen, müssen Sie sich anmelden.‟
„Schon klar. Und was wollen die bei einer Anmeldung alles von einem wissen? Die Kontodaten?‟
Er grinst.

***

Die Stadtbibliothek nehme ich im Sturzflug. Ich packe ein Buch über Acrylmalerei ein, das endlich mal wirklich die ganze Materie abzudecken scheint, und fliege rüber zur Belletristik. Da ereilt mich eine herbe Enttäuschung: Unsere Stadtbibliothek, dieser so gut bestückte Hort der Bildung, hat nicht ein einziges Buch von Jorge Luis Borges! Ich habe im Computer nachgesucht: Nur zwei Bücher auf Spanisch haben sie von ihm, in der internationalen Abteilung, und eines, das man bestellen kann. Kein Borges?! Das ist unerhört. Das ist doch Weltliteratur!
Dafür gibt es Cortázar, drei Bücher sind gerade ausleihbar, ich nehme alle drei mit, darunter das deutsche Rayuela. Ich freue mich wie wild, denn seit ich selbst schreibe, komme ich irgendwie nicht mehr an fremdsprachige Literatur heran. Die kongeniale polnische Übersetzung von Zofia Chądzyńska, die mich jahrzehntelang so begeistert hat, hat plötzlich eine Mauer gebildet und lässt mich nicht mehr zu den Bildern durch.
Natürlich ist mein Ausweis schon wieder abgelaufen, ich muss zahlen. 18 Euro kostet ein Jahresabonnement mittlerweile! Wenn das noch teurer wird, könnte man langsam überlegen, ob man dann nicht doch die Bücher gleich selber kauft. Dabei wollte ich meine persönliche Bibliothek demnächst ganz abschaffen!

***

An der Bushaltestelle steht gerade eine 32, Fahrerwechsel. Ich springe dem einsteigenden Fahrer hinterher: „Fahren Sie jetzt gleich los?‟
„Ich denke schon...‟
„Sie denken schon?‟ lache ich. Wenn er noch fünf Minuten braucht, könnte ich nämlich auch auf die 31 warten, da hätte ich ein Stück weniger zu laufen bis nach Hause.
Zum ersten Mal seit Jahren passiert mir wieder eine Fahrscheinkontrolle. Ein gestandener Mann in den Vierzigern, und wieder einmal frage ich mich, was Menschen treibt, andere zu bespitzeln. Doch da hat sich wohl einiges geändert, wenigstens bei der CVAG.
Das jugendliche Pärchen hinter mir fährt schwarz. Als ich das mitbekomme, spitze ich die Ohren. Vor etlichen Jahren noch habe ich mehrmals miterlebt, wie fies Kontrolleure Schwarzfahrer in der Öffentlichkeit bloßstellten.
Hier höre ich jetzt: „... bekommen Sie eine Zahlungsaufforderung, und wenn Sie die haben, müssen Sie gleich reinkommen. Wir bieten ja verschiedene Vergünstigungen an, Sie müssen nicht alles auf einmal bezahlen, das geht auch in Raten. Und, ich sag mal, ein Nachlass von fünf Euro ist immer drin. Das müssen Sie aber aushandeln, dazu müssen Sie reinkommen.‟
„Wie ist das jetzt?‟ plappert der Junge unbekümmert drauf los. „Ich bin vor ein paar Monaten schon mal beim Schwarzfahren erwischt worden, da...‟
Ein paar Sätze verstehe ich nicht, dann kommt die Akustik wieder.
„Ja, das Problem ist‟, sagt der Kontrolleur gerade, „dass das dann gleich zur Anzeige kommt. Dann geht das die CVAG nichts mehr an, und dann geht es mich nichts mehr an.‟
Er spricht mit einer ruhigen, sachlichen, freundlichen Stimme. Kein Vorwurf, keine Bloßstellung. Er gibt kompetente und sogar mitfühlende Auskunft.
„Deshalb müssen Sie gleich reinkommen, wenn sie die Zahlungsaufforderung bekommen, nur so lässt sich noch etwas aushandeln.‟
Der Junge meint, er könne auch gleich bezahlen, morgen schon.
„Na ja, Sie könnten auch gleich bei mir 40 Euro bezahlen, das wäre noch eine andere Option. Wenn Sie das Geld jetzt aber nicht bei sich haben, müssen Sie reinkommen. Ich schreibe das alles auf, ich schreibe dazu, dass Sie gleich bezahlen wollen, dass sie also warten sollen mit der Anzeige...‟
„Ich komme morgen gleich rein!‟ ruft der Junge eifrig.
„Nicht so eilig‟, schmunzelt der Kontrolleur. „Morgen noch nicht gleich, das muss ja erst durchgereicht werden. Aber im Laufe der nächsten Woche...‟

Als ich beim Mittagessen P. diesen Vorfall berichte, erinnert er sich, dass sein Kollege erst vor einigen Tagen von einem ähnlichen Vorfall erzählt hat. Auch er war vor einiger Zeit beim Schwarzfahren erwischt worden und hatte dem Kontrolleur gesagt, das Jobcenter habe sein Geld noch nicht überwiesen: „Ich warte seit Wochen auf dieses Geld, ich hab's schon mehrmals angemahnt, ich kann mir zurzeit einfach keinen Fahrschein kaufen.‟
Der Kontrolleur hatte das alles aufgeschrieben, und nach ein paar Wochen hatte er von der Staatsanwaltschaft ein Schreiben erhalten, in dem man ihm mitteilte, dass die Sache zu den Akten gelegt wurde. Er brauchte gar nicht zu bezahlen.
Das nenne ich doch mal soziale Kulanz! Die Gerechtigkeit kann die CVAG nicht beeinflussen, aber wenigstens scheinen sie zu wissen, wie es vielen Menschen in dieser Region geht, und ihre praktischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

© Angela Nowicki, 28. Juni 2013

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