Donnerstag, 1. September 2011

Reise an die Grenze des Unbewussten

In der Berglandschaft, in der ich am Ende meiner letzten Seelenreise gelandet war, muss ich mich nur umdrehen, um wieder den Kathedralengang in den Felsen hinein zu betreten. In der großen Halle ist heute eine kreisrunde Öffnung in den Himmel geöffnet, durch die ein heller Lichtstrahl einfällt. Er endet auf dem Boden in einer Art Welle, als sei es ein Wasserstrahl, und diese Welle breitet sich in Ringen über den ganzen Boden aus. Dort wartet schon Hulda, meine Schildkröte, und sagt:
"Du bist gekommen."
Sie weiß, was ich will. Ich suche frühkindliche Erinnerungen, um meinen Glaubenssatz besser auflösen zu können, der mich am Leben hindert.
Hulda kriecht in den Lichtstrahl, wird von ihm ein Stück emporgehoben und erstrahlt in einer Aureole. Sie bietet mir an, mich auf sie zu setzen. Als mir dies schließlich gelingt, werden wir durch den Lichtstrahl nach oben gezogen und aus der Halle hinaus.

Wir stehen in einem Gebirge. Am Himmel taucht ein großer schwarzer Vogel auf, der langsam nach links hinter den Horizont verschwindet. Vor mir öffnet sich ein unendlich tiefer, dunkler Abgrund. Ich bekomme Angst. Muss ich da rein? Ja, das musst du wohl, teilt mir Hulda telepathisch mit. Aber doch nicht etwa springen? Ich versuche es mit Klettern. Das geht eine Weile gut, doch natürlich stürze ich bald ab. Ich falle und falle in Schwindel erregende, bodenlose Tiefen... erst mit dem Gesicht nach unten, dann kehrt sich die Perspektive um, und ich sehe den Felsrand oben in der Unendlichkeit verschwinden, und dann sehe ich nur noch vorbeirasende Felswände vor mir.

Ich lande im Wasser. Tiefes Wasser. Sofort taucht ein Arm aus dem Wasser auf, der einem Ungeheuer zu gehören scheint: schuppig mit einer klauenartigen Hand und langen, spitzen Fingernägeln. Die Hand bewegt sich auf mich zu.
"Muss ich jetzt wirklich da runter?" frage ich Hulda ängstlich.
Natürlich, gibt mir Hulda zu verstehen. Wenn du Angst hast, lassen wir’s.
Nein, ich will es nicht lassen. Ich tauche.

Lange schwimme ich unter Wasser umher, durch Felsspalten hindurch und an Öffnungen vorbei. Auf einmal hänge ich mit dem Gesicht vor einer wolkenähnlichen Schicht fest. Darunter ist es dunkel, darüber heller Raum. Ich erinnere mich an die Wolken der letzten Reise:
"Das sind Träume, oder?"
Nein, hier gibt es keine Träume. Das ist die Grenzschicht deines Unbewussten, die es vom Vorbewussten trennt.
So dünn ist die? Ich staune ein bisschen.
Wollen wir mal sehen, was aufsteigen will?
Ganz langsam, in Zeitlupe, tauchen nacheinander verschiedene Gebilde aus dem Unbewussten auf. Das heißt, im Unbewussten sehe ich sie noch gar nicht; ich nehme sie erst wahr, wenn sie die Wolkenschicht nach oben ausbeulen, sich dann ablösen und im helleren Raum nach oben steigen.
Und dann fängt es an.

Zuerst sehe ich eine Glaskugel, in der ein Kleinkind auf dem Boden krabbelt. Ich erkenne mich selbst. Ich sehe es ganz deutlich: den Strampler, die blonden Haare, das neugierige Gesicht, die auf etwas ungeheuer Interessantes fixierten Augen. Es krabbelt irgendetwas hinterher.
Dann tauchen nacheinander mehrere Hände auf – Hände von Frauen, Männern, Kleinkindern.
Von einer Frauenhand gleitet der Bildausschnitt zur Hals- und Brustpartie einer Frau. An dem spitzen Ausschnitt und dem rechteckigen hellen Kragen erkenne ich meine Mutter als junge Frau. Sie entblößt ihr Dekolleté, und ich suche ihre Brüste, aber es sind keine da, höchstens ein paar degenerierte Ansätze.
Dann sehe ich eine Männerhand auf einer geöffneten Zeitung. Ich spüre die Atmosphäre unserer Wohnung, in der ich meine ersten vier Lebensjahre verbrachte.
Ich sehe auch Säuglinge auf Wickeltischen oder in Kinderbettchen, mal einzeln, mal in einer langen Reihe. Alle sind mit einer quadratischen, hellen Decke zugedeckt.
Als Nächstes taucht eine große dunkle Masse aus den Wolken auf. Es ist eine Menschenmenge, zig Gesichter im Halbkreis. Ich weiß, dass das meine Ahnen sind. Aus der Menge löst sich eine große, schlanke Männergestalt, sehr aufrecht und prinzipienfest. Ich erwarte, meinen Großvater zu sehen, doch ich erkenne den Mann nicht.

"Hulda? Bist du da?"
Ich bekomme Angst, ohne Krafttier hier stecken geblieben zu sein.
Gemächlich materialisiert sich die Gestalt einer Schildkröte im Raum des Vorbewussten.

Nachdem lange Zeit nichts Erkennbares mehr passiert ist, öffnet sich weiter oben im Vorbewussten ein rechteckiges Fensterchen. Ich stehe schräg davor, so dass ich nicht direkt hineinblicken kann. Am geöffneten Türchen vorbei sehe ich, dass im Inneren ein helles Feuer lodert.
"Geh dort nicht rein!" höre ich Huldas warnende Stimme.
Trotzdem wage ich einen Blick, darauf bedacht, dem Fenster nicht zu nahe zu kommen. Mitten im Feuer entsteht ein ganz scharfes Bild eines mit einer quadratischen, hellen Decke zugedeckten Säuglings auf dem Wickeltisch, der in dem Moment, in dem er ganz deutlich Gestalt angenommen hat, in einer Aureole nach unten gezogen wird.
Nein, er fällt nicht, und, nein, er schwebt auch nicht. Es ist, als würde er von etwas nach unten angesogen, und er verschwindet im Nichts.

Ich will zurück, das reicht für heute. Ich schwimme zurück und tauche auf. Wie soll ich denn jetzt wieder aus dem Abgrund nach oben kommen? Klettern?
Natürlich: Es öffnet sich der Himmel und schickt ein Lichtseil nach unten. Zusammen mit Hulda werde ich langsam nach oben gezogen. Langsam? Ich habe das Gefühl, regelrecht gerissen zu werden, doch ich lange ewig nicht oben an. Und als ich glaube, oben zu sein, sehe ich den Abgrund nicht mehr, jedenfalls nicht von oben, sondern mir ist, als werde ich immer noch drin hochgezogen.
Endlich jedoch werde ich auf Hulda durch den Lichtstrahl wieder in die große Felshalle hinab gelassen. Ich will mich gerade von der Reise etwas erholen und noch ein paar Worte mit Hulda sprechen, da fängt mein blöder Wecker an zu piepsen...

Ich muss mich in größter Eile von Hulda verabschieden, kopflos nach draußen stürmen, und dann öffne ich schon die Augen und klopfe mich hastig ab, ohne mich vergewissert zu haben, wo ich gelandet bin, nur um das Funkvieh endlich auszuschalten.

© Angela Nowicki, 4. Juli 2010

Keine Kommentare: