Donnerstag, 8. September 2011

Kapitel 3: Wrocław

oder
Es gibt Dinge, die man Eltern nicht erzählen darf


Am Abend kam Neila in Wrocław an. Irgendwo am Stadtrand. Sie hatte keine Ahnung, wo Michał wohnte. Er hatte ihr in Rothenburg zum Abschied seine Adresse gegeben: "Wenn du mal wieder nach Wrocław kommst, erwarte ich deinen Besuch!" Das war weniger eine Einladung gewesen als ein Befehl. Jetzt fragte sie eine Passantin, die mit zwei Einkaufstaschen an ihr vorbeihastete, nach der Rawska. Damals verständigte sich Neila noch in einer abenteuerlichen Mischung aus Polnisch und Russisch, mit der sie aber gut durchkam.
"Oje, das ist ja am anderen Ende der Stadt!" jammerte die Frau mitfühlend. "Da müssen Sie mit der Straßenbahn..."
Offensichtlich dachte die Frau, es sei mühseliger, Neila den komplizierten Weg zu erklären, als sie einfach ein Stück zu begleiten. Dieses Phänomen war ihr auch in Ungarn schon mehrmals untergekommen: Du fragst wildfremde Leute, die mit Sicherheit nicht ausgerechnet auf dich gewartet haben, nach dem Weg - und sie lassen alles stehen und liegen und begleiten dich persönlich durch die halbe oder sogar die ganze Stadt und warten manchmal sogar noch, bis man dir an deinem Zielort die Tür geöffnet hat. Die Polin jetzt, dem Eindruck nach eine gewöhnliche Hausfrau (Mantel und Strickkappe - diese unsäglichen polnischen Strickkappen!), entschied sich für die halbe Stadt, was weit genug war, und setzte Neila schließlich zufrieden in die letzte Straßenbahn auf ihrer Route, nicht, ohne ihr vorher noch eingeschärft zu haben, an der wievielten Haltestelle sie auszusteigen habe.
"Und dort fragen Sie noch mal jemanden, ja?"
Neila versprach es ihr und bedankte sich herzlich.

Zehn Uhr abends klingelte sie an der Gartentür des schicken Einfamilienhauses in einer stillen Siedlung. Eine Minute später lag sie sich mit Michał in den Armen. Er freute sich über ihren Besuch, als sei sie der kommende Papst, aber das war bei den polnischen Hippies so üblich. Sie steigerten noch einmal, was nicht mehr steigerungsfähig erschien: die berühmte polnische Gastfreundschaft.
Freudestrahlend stellte Michał sie seinen Eltern vor, zwei wohlhabenden Architekten. Es war Neila durchaus peinlich, von der versammelten Familie gleich zum Abendbrottisch gedrängt und begeistert ausgefragt zu werden ("Wo ist meine Tarnkappe?"). Immerhin war sie auf der Flucht, und Eltern mögen noch so lieb sein - es gibt Dinge, die darf man ihnen nicht erzählen. Und wenn sie dann noch so rührend um ihren unbekannten Gast besorgt sind, fühlt es sich schon mal ungut an, sie belügen zu müssen.

Erst in Michałs Zimmer, das ihr von der ganzen Familie wie selbstverständlich zur Verfügung gestellt wurde, während Michał selbst sich ebenso selbstverständlich ausquartierte, konnte Neila ihre kurze, aber bereits einigermaßen komplizierte Geschichte loswerden. Michał staunte Bauklötzer. So radikal waren nicht mal die meisten polnischen Hippies, dass sie einfach ins Ungewisse hinein abhauten. Aber die hatten auch kein Reiseverbot - eine Sache, die Neila in Polen noch häufiger genauer erklären musste, denn die Polen konnten zwar auch nicht einfach in der Welt herumreisen, aber nur, weil sie entweder nicht genug Geld hatten oder von der ausländischen Botschaft kein Visum bekamen (weil sie nicht genug Geld hatten). Dass der eigene Staat einen einsperren konnte, selbst wenn es um den "verfaulten Westen" ging, das wollte ihnen nicht in den Kopf. Kunststück.

Nachdem Michał begriffen hatte, was für Neila auf dem Spiel stand, beruhigte er sie jedoch.
"Keine Sorge, wir finden eine Lösung für dich. Morgen treffen wir uns erst mal mit den Freunden."
Die Anspannung eines Tages fiel von Neila ab, als sie, endlich allein, ans Fenster trat und ihren Blick über Mond und Dächer gleiten ließ.

Sie war angekommen.

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