Sonntag, 25. September 2011

Kapitel 5: Deutsch-polnische Hochzeitspläne

oder
Die Gerade ist eine deutsche Erfindung


Die "Freunde" waren eine amorphe Truppe bunter Wrocławer Hippies, die, so kam es Neila vor, nur auf sie gewartet zu haben schienen, um auch ihr Leben so bunt wie möglich zu machen. Es waren Studenten, Schüler, Arbeiter, Arbeitslose, aber eine Stammbelegschaft war immer zur Stelle, um Neila die Stadt zu zeigen, mit ihr zu feiern, sie überallhin zu schleppen, wo es etwas Interessantes zu erfahren gab. Zunächst aber war ihr Problem das Interessanteste, und die Fantasie schlug mehrere Tage lang hohe Wellen, wie man eine flüchtige Deutsche am besten offiziell in Polen sesshaft mache.
"Du musst heiraten", konstatierte Zenek trocken.
Das aktuelle Gruppengebilde nickte tiefsinnig und atmete hörbar auf. Na klar, das ist die Lösung. Da wäre sie nicht die Erste und auch nicht die Letzte.
Heiraten. Na gut. Aber gehört dazu nicht irgendwie ein Mann?
"Wir finden schon einen, keine Sorge", beruhigte sie Zenek.
Neila glaubte ihm aufs Wort.

Zu Recht. Der Kandidat hieß Zbyszek und wurde bereits am nächsten Tag vorstellig. Er war klein, trug Bart und Brille und arbeitete in einer Bibliothek. Neila blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, wand sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. Sie saßen zu sechst in einem Café, und vier Gesichter starrten sie angespannt an. Nein, fünf, Zbyszek natürlich auch. Heiraten...
"Und du willst dich darauf einlassen?" fragte Neila, sich bei der leisen Hoffnung ertappend, dem Kandidaten werde plötzlich klar, worauf er sich da einlassen würde.
"Warum nicht? Ist kein Problem, mach dir mal keine Gedanken, alles bestens!" schmetterte der Kandidat mitleidlos mitten in ihre leise Hoffnung hinein. Die wurde umgehend begraben.
"Ja, dann... ja, warum nicht?"
Mindestens vier Gesichter entspannten sich zu einem breiten Lächeln.
"Ist ja egal, nicht?" Den winzigen Querschläger konnte Neila sich nicht verkneifen.
Der Kandidat parierte ihn ungerührt: "Klar. Kein Problem."
"Das muss gefeiert werden!" beschloss das aktuelle Gruppengebilde.

Und es wurde gefeiert, so was sagt ein Pole nicht zum Spaß. Am selben Abend noch trafen sich in der abgewohnten Uraltbauwohnung bei Zbyszek Apostoł, Poli, Zenek, Michał und zwei Jolkas. Eine davon war die Freundin von Zbyszeks Bruder Adaś und wohnte hier. Es wurde eine große Fete, immerhin war eine Verlobung zu feiern. Jolka Eins kochte, Zbyszek schnitt Wurst, Käse und Gurke auf, jeder hatte etwas mitgebracht, es gab Bier und billigen Wein, es gab Blues, Rock und Jazz, und es gab Geschichten, Witze, Erlebnisse, philosophische Dispute und künstlerische Diskussionen bis zum frühen Morgen.

So hätte es wohl endlos weitergehen können. Jeden Abend brachte irgendjemand etwas zu trinken mit, gute Musik, ein gutes Buch und vor allem eine unverwüstliche gute Laune. Jeden Tag schleppte jemand Neila in die Kneipe oder zu einer Schiffstour auf der Oder. Jeden Tag lud jemand anderes sie zu sich ein, machte sie mit immer neuen, immer gleich herzlichen Freunden bekannt. Zeitmangel schien hier ein Fremdwort zu sein; die Leute schienen nie arbeiten zu müssen, nie Termine zu haben, keine wichtigen Erledigungen, keine Pflichten.

Nur Jolka Eins war anders. Sie war kein Hippiemädchen, gegen eine solche Unterstellung hätte sie sich wohl lachend verwahrt. Sie war eine ganz normale junge Frau, die ihre Zukunft vermutlich in einer ruhigen Ehe mit zwei, drei Kindern, an Herd und Kochtopf sah. Aber das waren keine Sehnsüchte, dazu schien Jolka viel zu pragmatisch zu sein. Sie war Adams Freundin, also wohnte sie bei ihm, und wenn diese Wohnung täglich von fünfzig Chaoten heimgesucht wurde, dann kochte sie eben für alle, räumte ihnen kommentarlos den Dreck hinterher und feierte mit ihnen, wenn es sich so ergab. Sie schimpfte nie, sie weigerte sich nie, aber es war auch nichts Unterwürfiges an ihrem Tun. Sie war einfach da und tat, was getan werden musste, immer gut gelaunt, immer beschäftigt.
Aus irgendeinem Grund begann Neila, sich Jolka gegenüber schuldig zu fühlen, jeden Tag ein bisschen mehr. Sie konnte ihr nicht helfen, sie konnte weder kochen, noch war sie der Typ, der sich in jedem Haushalt zurechtfindet, und sie wollte es im Grunde auch gar nicht. Neila hätte selbst nicht sagen können, was es war, was ihr dieses Unbehagen verschaffte, doch es war der erste Vorbote einer inneren Seenot, die erste Welle, die das Seelendeck überspülte, die schnell weggewischt wurde und für heiteren Gesprächsstoff am Abend sorgte, nach der jedoch nie wieder Ruhe einkehrte, der weitere Wellen folgten, die nicht mehr lustig waren, bis hin zum endgültigen seelischen Schiffbruch.

Doch noch war alles bunt und laut und unbeschwert. Vor allem laut. Neila war es nicht gewöhnt, täglich von früh bis spät in Gesellschaft zu sein. Sie war eigentlich kein Gruppenmensch, sie brauchte viel Ruhe und viel Zeit für sich allein. Spätestens, als sie nach einem weiteren Tag zu fiebern begann, wurde sie abends zunehmend still, zog sich die Tarnkappe über die Ohren und verkroch sich in sich selbst. Sie hatte nicht mit der röntgenbegabten Mütterlichkeit ihrer Gastgeber gerechnet. Henas und Ewa waren zu Besuch gekommen. Henas ein Wikinger wie aus dem Geschichtsbuch, mit zusammengekniffenen, blitzenden Augen und einer großen Liebe zum Bier, Ewa eine Schönheit in Indianerkleidern und Perlenketten. Die beiden waren die Seele der Wrocławer Hippies, jeder kannte und mochte sie, es war, als ob ein beständiges Strahlen von ihnen ausgehe – wo sie auftauchten, wurde es hell und warm. Ewa hatte Medizin für Neila mitgebracht, Henas brachte ein Thermometer, Zbyszek schleppte ihren Rucksack aus Michałs Haus an, dessen Eltern nun endlich die Wahrheit über Neilas Besuch erfahren hatten und verständlicherweise sauer waren. Neila war den Leuten so dankbar, doch die Gespräche und das Lachen zerrten mittlerweile derart an ihren Nerven, dass sie Henas‘ und Ewas Strahlen gern gegen eine dunkle Höhle vertauscht hätte. Wenigstens für heute Abend. Doch nichts da. Die Tarnkappe schien defekt zu sein, alle paar Minuten wandte Ewa sich ihr in ehrlicher Fürsorge zu: "Was ist los mit dir? Geht’s dir nicht gut? Warum bist du so still?"
Neila stammelte etwas zusammen, was kein Mensch verstand und was alle nur umso besorgter machte. Sie konnte doch nicht sagen: "Lasst mich in Ruhe, wenigstens einen Abend" – oder? Es musste etwas geschehen. War nicht eine Hochzeit geplant? Sie begriff, dass die Gerade als kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten eine deutsche Erfindung ist. Sie wurde sehr deutsch. Sie drängte darauf, sofort Nägel mit Köpfen zu machen.

Vorbei die blauen Wolken, versperrt die fantasievollen Mäander. Kein sanftes Gleiten mehr durch zeitlose Räume, kein "Jakoś to będzie – irgendwie wird’s schon werden". Es wird werden, aber nicht irgendwie, sondern so: Neila schleppte Zbyszek zum Konsulat der DDR. Stellte ihn als ihren künftigen Ehemann vor, für den sie ihre Heimat schweren Herzens verlassen müsse, und verlangte eine sofortige ständige Aufenthaltsgenehmigung für die Volksrepublik Polen.
Die Bürokratie aber ist die Schwester der Geraden. Natürlich werden Sie heiraten. Umsiedeln? Aber natürlich, selbstverständlich. Dazu brauchen Sie nur... Und es folgte der Laufzettel für mindestens einen Monat Behördengänge – in der DDR.

Die Hochzeit wurde abgeblasen. Neila geht nicht zurück. Der Kandidat trug’s mit Fassung.

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