Dienstag, 20. September 2011

Unser Prominenter Junge (Teil 3)


Irene steht im Badezimmer und lässt Wasser in die Wanne. Das Wasser läuft langsam. Träge streift sie ihr blassgrünes Musselinkleid ab. Wieder gibt es einen kleinen Stich: ‚Er hat noch gar nichts dazu gesagt. Er hat es noch nicht einmal gesehen.‘ Er ist noch gar nicht zur Besinnung gekommen! protestiert Irene. Wie sollte Er es sehen, wenn Er in den zwei halben Tagen, die Er daheim ist, pausenlos von allen bestürmt wurde: der Hausstaat, ihr Geschenk, die Fernsehfritzen...
Während sie so, in trotzige Gedanken versunken, auf ihr Bad wartet, stürmt Marmara herein, ruft: "Wie schön! Genau das brauche ich jetzt", springt in die Wanne und taucht unter. Eine ungeheure Wut schießt in Irene hoch. Sie wartet hier seit einer halben Stunde auf ihr Bad, sie hat sich alles sorgfältig zurecht gemacht - und die kommt einfach rein und stiehlt ihr praktisch die Früchte ihrer Arbeit! Sie will Marmara zur Rede stellen. Zunächst mit ihrem Dolchblick, sie denkt, den wird die Kröte schon verstehen, aber die taucht immer wieder unter und öffnet ihre Augen überhaupt nicht. Kann ja sein, dass sie das Bad wirklich braucht, aber das hier ist MEINS!
Irene dreht sich um, um sich die Zähne zu putzen, da fällt ihr das Zahnputzzeug aus der Hand. Plötzlich brüllt sie aus Leibeskräften los, dass es wahrscheinlich noch in den Nachbarhäusern zu hören ist. Marmara springt erschrocken aus der Wanne und fragt, was los sei, da hört man im Nebenzimmer jemanden leise, aber scharf fluchen. Irene erschrickt: Ihr fällt ein, dass Unser Prominenter Junge sich schlafen legen wollte, und sie brüllt hier wie eine Kuh beim Kalben! Er hört gar nicht wieder auf zu fluchen, doch während sie beide noch nackt und starr und mit aufgerissenen Augen im Badezimmer stehen, bemerkt Marmara, dass sein Fluchen sich irgendwie seltsam anhört. Sie kichert, schleicht sich auf Zehenspitzen hinaus und öffnet leise die Tür zum Nebenzimmer - und da hört Irene es auch: Er flucht, aber nicht wegen ihres Gebrülls, sondern er erzählt sich selbst eine komische Geschichte. Nun kichern sie beide.
Aber was ist das für eine Geschichte? Irene ist es, als habe sie ihren und Marmaras Namen gehört. Jetzt läuft auch sie zur Tür, doch sofort schließt Marmara sie ebenso leise, wie sie sie geöffnet hat, und schiebt Irene ins Badezimmer zurück. "Willst du, dass Er uns nackt sieht?" zischt sie, während sie die Badezimmertür ins Schloss zieht. Sie weist auf die volle Wanne: "Ich bin fertig, kannst baden."
Mechanisch steigt Irene in die Wanne. Sie ist so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht auf die Idee kommt, von Marmara frisches Wasser zu verlangen.

Am dritten Tag nimmt Unser Prominenter Junge die Gelegenheit wahr, sich von Irene behandeln zu lassen. Wozu hat man eine Zahnärztin im Haus? Zahnarzthelferin Marmara assistiert. Noch immer war keine Rede von der gemeinsamen Wellnessgymnastik, doch Irene hat sich fest vorgenommen, die Gelegenheit zu nutzen, ihn gleich nach der Behandlung daraufhin anzusprechen. Vielleicht absichtlich, der Umstand, dass Marmara anwesend ist, kommt ihr entgegen. Dennoch hat sie jede Vorstellung von deren Reaktion, die sich ihr aufdrängen wollte, bis jetzt abgeblockt. Sie will sich gar nichts vorstellen, sie will nur noch ins Ziel. Das Schlimmste, was sie sich vorstellen kann, ist ein Marathonläufer, der kurz vor dem Ziel zusammenbricht.
Als Unser Prominenter Junge vom Behandlungsstuhl steigt, klopft es an der Tür. Irene hat sich gerade die Hände eingeseift, Marmara räumt die Instrumente weg. Die alte Missie steckt ihren runden Kopf herein und zwinkert: "Da steht ein Verehrer draußen, soll ich ihn reinlassen?"
Erstaunt hebt Irene den Kopf, spült schnell die Seife von ihren Händen. "Ja, soll reinkommen...", sagt sie unsicher. Marmara ist plötzlich verschwunden, Unser Prominenter Junge bleibt auf halbem Weg zur Tür stehen.
In der Tür steht Jürgen Drews. Irene traut ihren Augen nicht. Während sie sich reflexhaft die Hände abtrocknet, denkt es in ihr mindestens vier Gedanken parallel: dass Unser Prominenter Junge immer ein Fan von Jürgen war, er war sein Vorbild, er ist ihm nie begegnet, jetzt ist er hier, das ist er doch, ist das ein Traum?
"Marmara!" ruft Irene, etwas hysterisch lachend.
"Hallo!" sagt Jürgen Drews.
"Oh", murmelt Unser Prominenter Junge mit versteinertem Blick. "Hallo..."
Marmara steht in der Tür zum Labor, fix und fertig angezogen, kein rosa Kittel mehr, keine Gesundheitsschuhe. Sie strahlt. Sie strahlt Jürgen Drews an. Erwartungsvoll, schießt es Irene durch den Kopf. Was ist das hier?
"Hallo, Herr Drews... na, so was...", stammelt Unser Prominenter Junge, der langsam seine Fassung wiederfindet.
Irenes Blick wandert im Dreieck. Sie sieht den Prominenten Jungen vor ehrlicher Überraschung strahlen, wie ihn noch nie gesehen hat, noch nie so unverstellt und bloß. Sie sieht Marmara vor Erwartung strahlen, und beide strahlen in dieselbe Richtung. Sie sieht Jürgen Drews zurückstrahlen mit professioneller Natürlichkeit, wie es sich für ihn gehört und für einen Eingeweihten, der weiß, was das hier ist oder werden soll. Sie hört, wie Worte gewechselt werden, verblüffte, artige, überschwängliche, kichernde und gespielt begeisterte, und dann sieht sie, wie Jürgen Drews vor ihrem ebenfalls prominenten Gast niederkniet und zu singen beginnt. Er singt "Ein Bett im Kornfeld", und er singt es toll und tausendmal geübt, wie tausendmal zum ersten Mal, mit bühnenreifer Gestik, mit dem faltigen Gesicht des ewig Sechzehnjährigen. Just lovely!
Irene spürt nicht, dass ihr Herz bereits im Hals schlägt, sie spürt nicht das metallische Ziehen im Steißbein und nicht die Eiswürfel im Blut, sie denkt nur: ‚So prominent ist Unser Junge...?‘ und weiß im gleichen Augenblick, dass es nicht darum geht, so prominent ist dieser Junge nicht, war er nie, es geht um etwas ganz anderes. Es geht um Deckel, die nicht zu ihr gehören, nie gehört haben und nie gehören werden, es geht um Schmerzen, die nie aufhören werden, solange geräumige und billige Schränke fliegen zu können glauben wie Heliumballons, es geht um Schulden, die es gar nicht gibt, nicht geben kann, natürlich nicht, denkt Irene, unschuldige Schuld und heilige Unschuld, denn darum geht es: Es geht darum, dass ein durchgehaltener Marathon noch weniger wert ist als ein aufgegebener, wenn man nicht als Erster ins Ziel einläuft. Es geht darum, dass zwei schuldig Unschuldige gleich zur Tür hinausspazieren werden, Arm in Arm, zur Wellnessgymnastik zu zweit, mit der sie, sie, sie! sich unschuldig schuldig gemacht hat, schuldig eines logischen Verbrechens an ihrem Herzen, denn es geht am Anfang und am Ende und hinter und vor allem immer nur um den Rhythmus ihres Herzens, der ewig ist und groß.

© Angela Nowicki, 13. September 2010-2011

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