Donnerstag, 15. September 2011

Kapitel 4: Keine Extrawurst für meine Tochter

oder
Warum Neila nie studiert hat


Als sie Michał im Brüder- und Pflegeheim Martinshof in Rothenburg an der Neiße kennen gelernt hatte, hatte sie dort schon längst nicht mehr gearbeitet. Neila war eine von nur zwei Schülern ihres Jahrgangs an ihrer Erweiterten Oberschule gewesen, die sich nicht für ein Studium beworben hatten. "Ich bin alt genug, um nicht mehr in den Kindergarten zu gehen", war ihre Antwort, wenn sie nach dem Grund gefragt wurde. In Wahrheit jedoch war sie nur zu eigensinnig, um Kompromisse zu machen.

Damals hatte sie davon geträumt, Musik zu machen, und deshalb sogar mit 16 noch angefangen, Klavierunterricht zu nehmen, denn Klavier war Pflichtfach bei jedem Musikstudium. Sie hatte nur fünf Jahre lang Violinunterricht gehabt und konnte ein bisschen Blockflöte und Gitarre spielen. Die jüngferliche Klavierlehrerin an der Musikschule war mit jedem Schüler oberhalb des Grundschulalters überfordert. Sie hatte sie bis zum Erbrechen stramme Pionierlieder üben lassen, doch das Üben war gleich das nächste Problem. Zu Hause hatten sie kein Klavier. Der Zufall wollte es, dass die Nachbarn unter ihnen, ein ältliches Geschwisterpaar, ihr Uraltinstrument verkauften. Niemand wusste, wann es zum letzten Mal gestimmt worden war. Das gute Stück plärrte wie eine Stummfilmbegleitung aus den Zwanziger Jahren und hatte auch schon ein paar stumme Tasten. Neila führte es jedem, der sie besuchte, mit höchstem Vergnügen wie eine Jahrmarktsattraktion vor, doch Üben machte auf dem Ding einfach keinen Spaß, ganz abgesehen davon, dass Neila zwei Jahre nach der Scheidung ihrer Eltern andere Leidenschaften hatte, als auf einem plärrenden und verstimmten Klavier Pionierlieder zu üben. Deep Purple und Omega hören, zum Beispiel. Oder bunte Flicken auf ihre allererste Schweizer Feincordjeans zu nähen, als die nach einem Jahr schon dünne Stellen bekam, weil sie in der ersten Nacht darin geschlafen (sie war etwas zu eng gewesen, größere Größen gab es nicht mehr, aber eine echte Cordjeans musste man einfach haben) und sie von da an jeden Tag getragen hatte, und so und ohne FDJ-Bluse zum Kleinen Abitur zu marschieren, wo die Diskussion über ihren "Gammler-Aufzug" dann fast länger dauerte als die Prüfung selbst. Oder Jack London lesen.
"Darf ich Ihnen einen guten Rat geben?" fragte ihre Klavierlehrerin nach einem verquälten halben Unterrichtsjahr säuerlich. "Sparen Sie das Geld für etwas Besseres. Sie kommen sowieso nicht durch die Jahresprüfung. Sie sind völlig unbegabt."

Da hatte ihr Violinlehrer aber vor vier Jahren noch eine ander Meinung von ihrer musikalischen Begabung gehabt, als er sie an die Spezialmusikschule in Leipzig schicken wollte, dachte Neila. Aber da war sie auch noch eine brave Pionierin gewesen, in einer Zeit, als niemand auch nur im Traum daran gedacht hätte, dass ihre Eltern sich scheiden lassen könnten. Und Neila allein bei ihrem strengen Vater bleiben würde, der die Spezialmusikschule damals abgelehnt hatte. Nicht nur die, er war weitere drei Jahre zuvor schon nicht einverstanden gewesen, Neila - auf Drängen ihrer Lehrer - ein Schuljahr überspringen zu lassen, und auch nicht damit, sie an die so genannte "Begabtenschule" zu schicken, die Schule mit erweitertem Russischunterricht.
"Keine Extrawurst für meine Tochter. Sie soll ganz normal aufwachsen, wie alle anderen Kinder", hatte der studierte Arbeitersohn entgegnet.

Nichts zeigte deutlicher, wie wenig ihr eigener Vater sie kannte, denn unter diesen "ganz normalen" Kindern und Erwachsenen hatte Neila von klein auf und bis weit in ihr erwachsenes Leben hinein gelitten. Sie war schon im Kindergarten zur Außenseiterin geworden, und nachdem sie sich zwölf Jahre lang vergeblich gemüht hatte, "dazu zu gehören", nahm sie die ihr aufgezwungene Rolle endlich bereitwillig und rebellisch an.

Deshalb hatte sie es abgelehnt zu studieren, denn wenn es Musik nicht sein konnte, dann eben gar nichts. Was sie statt dessen jedoch tun sollte, wusste sie nicht. Die "Szene", in der sie sich damals bewegte, und auch mehrere Jungs aus der Kommune, in der sie lebte, seit sie an ihrem 18. Geburtstag die Tür ihres Vaterhauses für immer hinter sich zu gemacht hatte, hatten gerade die Sozialarbeit für sich entdeckt. Immer mehr zog es in die diakonischen Einrichtungen der evangelischen Kirche.
"Ich gebe dir zwei Ratschläge", sagte Peter eines Abends in der "Kommune", einer Dreizimmerbaracke, in der, außer dem Hauptmieter Jürgen, drei Jungs und Neila mehr oder weniger illegal hausten. "Neinstedt ist voll, aber du könntest mit uns nach Rothenburg gehen. Du kannst dort in der Pflege anfangen und eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin machen. Das gibt dir Halt, und du bist dabei nicht allein, sondern wohnst mit uns allen im Brüderhaus."
Neila war immer so gewesen... Auch dieses Mal schlug die emotionale Welle spontan nach oben aus, und sie stürzte sich kopfüber hinein.
"Und der zweite Ratschlag?"
"Trinke nie mehr als ein Glas Wein am Abend."
Peter war ein moralischer Philosoph und offensichtlich auch ein exzellenter Beobachter. Neila spendierte den Zurückbleibenden eine Flasche Stierblut und ging nach Rothenburg. Aber zuerst trampte sie nach Ungarn und nach Polen.

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