Samstag, 20. August 2011

A day in the life

... saw the photograph:...

was bisher passierte...

Kaum habe ich mich im Wartezimmer gesetzt, lässt sich drei Stühle neben mir eine Frau nieder mit dem gleichen Gipsarm, nur rechts. Wir schauen uns an und fangen immer stärker an zu grinsen.
"Wollen wir mal tauschen?" frage ich.
"Nee, im Leben nicht!" wehrt sie lachend ab.
Wir tauschen dafür ein paar Erfahrungen über das einhändige Leben und Bruchschmerzen aus, bis sie sagt: "Und wie es passiert ist..."
"Wie ist es denn passiert?"
"Ich bin über’n Hund gestolpert."
Ich bekomme einen Lachanfall.
"Ist jetzt nicht wahr! Mich hat ein Hund angesprungen!"
"Ja, aber bei mir war’s der eigene!"
Wieso sind Patienten im Wartezimmer immer so humorlos? Keiner freut sich, als wir uns vor Lachen auf unseren Stühlen kringeln.

Sie rutscht zu mir. Wir quatschen, und sie gibt mir sogar einen Tipp, "fürs nächste Mal":
"Der Hund muss sofort bestraft werden. Können Sie sich fürs nächste Mal merken: Mit der Hand von oben auf die Schnauze drücken. Dann jaulen die sofort und wissen, dass sie das nicht machen dürfen. Oder in die Rippen treten. Aber nicht mit dem Fuß, sondern mit dem Knie."
Ich glaube, ich ziehe es vor, großen Hunden zukünftig aus dem Weg zu gehen.

Als sie aus dem Behandlungszimmer kommt, verabschiedet sie sich: "Drei Wochen noch, hat er gesagt!" Sie strahlt. Da kann ich ja noch Hoffnung haben, denn sie hat sich ihren Arm höchstens zwei Wochen vor mir gebrochen und hat auch jetzt immer noch Schmerzen drin.

Lange muss ich nicht mehr warten. Zum x-ten Mal muss ich der Äztin alles von vorn erzählen – haben die keine Patientendateien? Sie hätte mir gern den Termin am Dienstag erspart, kommt jedoch heute nicht an mein Röntgenbild von vorgestern ran, weil die Orthopädie unten zu hat – haben die keine Kopierer oder Scanner? Die Schwester wickelt mir eine zusätzliche Binde oben drauf, die ich im Bedarfsfall selbst regulieren kann. Und ich muss am Dienstag früh vor dem Arzttermin noch mal zum Röntgen...

***

Dienstag. Dreiviertel sieben raus und dreiviertel acht zum Bus. An der Haltestelle steht schon eine Frau im türkisblauen T-Shirt und mit adretter Fönfrisur. Nachdem ich ausgestiegen bin, sehe ich, dass zwei Frauen vor mir in dieselbe Richtung eilen, eine davon ist die Fönfrisur. Als ich vor der noch geschlossenen Orthopädie ankomme, warten auch die beiden dort schon. Die Fönfrisur lacht: "Da hätten wir auch gleich zusammen gehen können!"
Dann erzählen die beiden Horrorgeschichten über die Schulmedizin, weil’s grad so schön ins Puzzle passt. Die Fönfrisur hat seit drei Jahren starke Schmerzen im rechten Arm, vor allem in der Ellenbeuge, so dass er in seiner Funktionstüchtigkeit eingeschränkt ist, doch die Orthopädin gibt ihr immer nur Schmerztabletten. Die andere hatte vor einiger Zeit nach einem gut zusammengewachsenen Speichenbruch in der rechten Hand weiterhin Schmerzen im Unterarm, wurde jedoch von der Orthopädin immer wieder weggeschickt mit der lapidaren Auskunft, das sei normal. Als sie eine ganze Zeit später von selbst zur Neurologin ging, stellte die fest, dass ein Nerv aus dem Karpaltunnel herausgedrückt worden und eine OP fällig war. Ich sage resigniert: "Das liegt am ganzen System..."
Die Fönfrisur springt sofort an. "Das ist wahr!" ereifert sie sich. "Wir sind ja nur Patienten zweiter Klasse!"
Na, wenigstens denken sie politisch.

Röntgen tun sie heute nicht, da muss ich in die Radiologie, erfahre ich. Hier machen sie nur Bereitschaft.
"Können Sie mir dann wenigstens das letzte Röntgenbild vom Donnerstag mit hochgeben, damit die Ärztin was in der Hand hat?" frage ich. "Ich find’s nämlich auch nicht so prickelnd, zweimal die Woche geröntgt zu werden."
"Nein, das geht nicht", bekomme ich zur Antwort. "Die Ärztin braucht doch die Verlaufskontrolle, wenn Sie zur Gipskontrolle kommen. Sie müssen schon erst in die Radiologie."
Da ich nicht weiß, wo die Radiologie ist, gehe ich erst mal hoch in die Chirurgie, denn ich bin für 8:15 Uhr bestellt, und es ist schon 8:05 Uhr. Als ich die Eingangstür öffne, pralle ich fast auf den letzten Wartenden in einer Schlange von mindestens 15 Leuten vor der Anmeldung. Ich reiße entsetzt die Augen auf: Was ist denn hier los?! Es geht unendlich langsam voran, so schaffe ich es nie zu meinem Termin. Als sich ein blau bekittelter Mann vorn an der Anmeldung dazwischen drängt, bahne auch ich mir einen Weg zur Theke. Ich hoffe, ihn fragen zu können, weil ich ihn für einen Pfleger halte, bin mir dann aber dessen nicht sicher und wende mich nach seinem Abgang an die Schwester hinter der Theke: "Nur eine kurze Frage..."
Ich will wissen, was denn nun wichtiger sei, sie sagt Röntgen.

Die Radiologie ist im Nachbarhaus um die Ecke, ein ganzes Stück Weg. An der Anmeldung nimmt eine Schwester mit einer Hypoplasie der Arme meine Überweisung entgegen. Ihre Handgriffe sind sehr geübt. Mir fällt spontan Contergan ein, doch das war ja im Westen. Der Wartebereich ist leer, nur ein Opa geistert herum auf der Suche nach seiner Chipkarte. Wobei ihm eine andere Schwester sehr freundlich behilflich ist.
Trotzdem warte ich längere Zeit. Als ich mir gerade meinen Terry Pratchett vornehmen will, werde ich gerufen. Ohne Foto, denn das verschicken sie hier digital, marschiere ich wieder nach unten und entdecke zu meiner Freude, dass es eine direkte unterirdische Verbindung zwischen beiden Häusern gibt, die sogar über den Fahrstuhl zu erreichen ist.

Déjà-vu beim Türöffnen: Während meiner viertelstündigen Abwesenheit ist die Schlange um keinen Zentimeter geschrumpft! Andere Leute, aber gleiche Länge. Na, das kann ja heiter werden! Die Frau, die mit mir zusammen gekommen ist, fragt, was, zum Teufel, hier los sei.
"Ich bin schon so oft hier gewesen, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt! Bestellen die denn alle Patienten zum gleichen Termin?"
Sie ereifert sich mehr und mehr, dass das doch alles nur eine Frage der Organisation sei. Geschlagene 20 Minuten warte ich vor der Anmeldung. Es ist mittlerweile 8:40 Uhr.
Im Wartezimmer mag ich einfach nicht mehr lesen. Direkt neben mich pflanzen sich schon bald zwei Frauen hin, eine ältere und eine junge, beide vulgär aufgemotzt und laut. Vor allem die Junge macht einen fast hyperaktiven Eindruck. Sie ist ununterbrochen in Bewegung, redet pausenlos, streift dabei mit ihren rot lackierten Fingernägeln, von denen überall schon Lack abgeplatzt ist, durch ihre blonde Filzmähne und schüttelt die Haare auf den Boden. Die beiden gehen mir zunehmend auf die Nerven, ich kann ihr Gequassel kaum noch ertragen. Ich rücke einen Stuhl weiter und platziere meine Tasche zwischen sie und mich. Gegenüber nimmt ein ganz anderer Typ Frau Platz: feine Gesichtszüge, Brille, sehr diskret und nicht sonderlich modisch gekleidet, etwas blass. Ich mag zwar diese sinnlichkeitsbefreiten Bildungsbürger-Ortruds auch nicht sonderlich, aber die hier erscheint mir fast wie ein menschlicher Erholungsurlaub gegen den Proll neben mir.

Zum Glück muss ich nun nicht mehr allzu lange warten. Es sind vier Chirurgen da, da verläuft sich der Ansturm zum Glück wieder. Mich empfängt dieselbe Ärztin, bei der ich schon am Sonnabend zur Gipskontrolle war – deshalb also wollte sie mir den heutigen Besuch ersparen. Neben mir bekommt ein älterer Mann einen Verbandwechsel. Die Ärztin studiert mein Röntgenbild. Da ich weit entfernt von ihr sitze, stehe ich auf und gehe zu ihr: "Darf ich auch mal sehen?"
"Ja, kommen Sie her!"
Die Speiche sieht gut aus, besser als bisher, der Bruch scheint schon ein Stückchen zusammengewachsen zu sein. Sie zeigt aber auf zwei der Handwurzelknochen: "Hier sieht man nur einen ziemlich großen Spalt zwischen Mondbein und..."
‚Kahnbein‘, denke ich spontan, bin mir aber nicht sicher.
"... Kahnbein", endet sie. "Die beiden sind durch ein Band verbunden, das kann bei einem Speichenbruch schon mal reißen. Muss aber nicht sein; manche Menschen haben dort einen größeren Spalt. Sollte es gerissen sein, müssen wir operieren. Das kann ich aber jetzt nicht feststellen, dazu müssen wir später noch mal röntgen, wenn Sie einen Ball mit dieser Hand zusammendrücken."
Sie bestellt mich in zehn Tagen wieder. Vor lauter Warterei und Überraschung habe ich vergessen, ihr das erste Röntgenbild zu zeigen, nach der Heilungsdauer zu fragen und ihr die beginnende Hautreizung an Zeigefinger und Handfläche zu zeigen. Außerdem hatte ich noch eine frische blaue Binde mitnehmen wollen.

© Angela Nowicki, 8. Juni 2010

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