Freitag, 26. August 2011

Kapitel 2: Radeberg - Częstochowa (6)


Samstag, 14. August 76

Diesmal weckt mich meine Mutter. Es ist um acht, ich soll frühstücken kommen. Vertrieft räum ich das Bett weg und folge dem Ruf. Dann geht eine kleine Zeitjagd bei mir los: Die Tasche muss noch, soweit es geht, fertig werden. Mittags hab ich sie so weit, es fehlt zwar noch ein Verschluss, aber das macht nichts. Ein guter, praktischer Beutel ist mir gelungen. Mutter kocht Mittagessen, und ich packe. Die Hälfte schmeiß ich raus, trotz ihres Protests, sie habe keinen Platz. Mit jedem Gramm sparen!
Nach dem Mittagessen, gegen eins, reiße ich mich los. Länger durfte's nicht dauern, in mir kribbelte schon die Ungeduld wie ein Ameisennest. Częstochowa wartet nicht. Mutter kriegt die letzten Instruktionen, tschüss, alles Liebe und Gute bis September...

Als ich draußen bin, fühle ich mich endlich wieder frei, beruhigt - ich bin ja auf dem Weg, da kann nichts mehr schiefgehen. Auf dem Weg zur Autobahn verrenken sich wieder mal alle Karl-Marx-Städter die Köpfe. Eine ganz schön spießige Stadt! Als ich die F95 entlang laufe, steht unten schon ein Junge und trampt. Fast bin ich ran, da hält ein Auto kurz vor ihm. Ich renne los, von der anderen Seite kommt auch ein Mädchen gerannt. Der Junge wehrt mich ab:
"Wir waren aber zuerst da!"
Ich sage, ach, ihr seid wohl schon drei? Nein, zwei. Das Mädchen ist seine Frau. Na, mein ich, der kann doch drei mitnehmen, so viel Platz ist schon noch. Er nimmt auch drei mit. Bis Dresden.
Das Mädchen, Christiane, ist unheimlich aufgeschlossen und nett. Ich unterhalte mich die ganze Zeit angeregt mit ihr. Sie kommen aus Rostock. Christiane hat Ökonomie oder so was studiert, Peter, ihr Mann, studiert noch - Lateinamerikanistik.
In Dresden setzt uns der Mann an der Auffahrt Cossebaude ab, wo wir auch gleich stehen bleiben. Keiner hält, und wir schimpfen die ganze Zeit auf die ethisch verfettete Wohlstandsgesellschaft. Später kommen noch zwei Typen. Sie sind aus Döbeln und kennen natürlich Hansi; sie geben mir seine Adresse und reden auf mich ein, ich solle doch unbedingt mal nach Döbeln kommen. Aus lauter Begeisterung schenke ich ihnen die eine fast volle Schachtel Karo. Dann folgen Christiane, Peter und ich dem guten Rat der beiden Döbelner und fahren auf die Bautzener Piste am Neustädter Bahnhof.
Als Erstes male ich eine dreiviertel Stunde lang Schilder für uns beide (Gruppen). Es wird langsam dunkel, und wir erwägen schon, bald zum Bahnhof zu verschwinden und den Zug zu nehmen. Doch da hält ein Lkw - nach Bautzen, für mich. Lautstarke Verabschiedung, dann rollen wir los.

Unterwegs, kurz vor Bautzen, überholen die beiden uns doch noch - in einem feinen Pkw. Anfangs hatte ich vor, in Bautzen noch auf die Piste zu gehen, trotz der Dunkelheit. Aber als wir in Bautzen einfahren, beginnt es zu regnen. Pustekuchen! Ich disponiere um: mit dem Zug weiter. Diese Nacht wird durchgemacht, ich will keine Minute verlieren. Der gute Mann fährt mich bis vor den Bahnhof. Rennend versuche ich, nicht allzu viel abzukriegen. Der Abfahrtstafel ist nicht viel zu entnehmen. So frage ich am Schalter nach einem Zug nach Częstochowa. Die freundliche Frau hinter dem Schalterfenster weiß auch nicht besser Bescheid. Sie schiebt mir einen Auslandsfahrplan hin. Na ja, das Günstigste ist, in drei Stunden nach Wrocław zu fahren, dort werde ich weitersehen. Nach Częstochowa direkt fährt von hier gar kein Zug.

Was macht ein müder Wanderer bei so viel Aufenthalt? Er setzt sich in die Mitropa.
So auch ich. Nun muss ich vorausschicken, dass ich meine Stiefel - die einzigen Schuhe, die ich mit hatte - bei Mutter gelassen habe. Einmal war's mir zu warm dazu, zum anderen waren sie auch ganz schön kaputt und ausgelatscht. Ziehe also die ganze Zeit barfuß durch die Lande. Das hatte schon bei Christiane und Peter ein etwas verständnisloses Erstaunen ausgelöst. So sitze ich nun auch ohne Schuhe in der Mitropa. Bei der dicken Kellnerin bestelle ich ein Bier. Sie registriert das zwar, macht aber keine Anstalten, dieses auch zu holen.
"Aber Schuhe zieh'n wir ma an!"
Ich entgegne ganz arglos: "Ich hab keine."
Ihr bleibt kurz die Spucke weg: "Aber das... das geht doch nich! Das geht doch überhaupt nich! Sie könn' sich doch nich so einfach ohne Schuhe hier reinsetzen!"
Ich setze mein unschuldigstes Lächeln auf: "Doch."
Das ist zu viel für sie. Sie rotiert ab und ereifert sich pausenlos über die Tatsache, dass ich es wage, barfuß in einer Kneipe zu erscheinen, das geht doch gar nicht, wo kämen wir denn da hin, wenn das alle... Reaktion aller Anwesenden, sogar der Theken-Lady: Lächeln. Ich erwidere es gern. Mein Bier bekomm ich trotzdem.

Ach, vorhin ist mir auf dem Klo noch eine Frau begegnet, die mir wegen einer ziemlichen Überschwemmung dort ihre Schuhe borgte. Es gibt doch noch ein paar nicht ganz verdorbene Leute.

Erst sitzt ein Fahnenkumpel*) mit bei mir am Tisch, zusammen mit seiner etwas unreif wirkenden Freundin, die aus dem Geziere und Getue gar nicht wieder rauskommt. Als die beiden gegangen sind, setzt sich ein alter Herr zu mir. Er macht einen seltsamen Eindruck: ein Gesicht wie ein steinerner Wolf, sehr hager und mit einem Röntgenblick, der es einem kalt den Rücken runterlaufen lässt. Ich mutmaße: Kriminalkommissar oder Schauspieler. Mit einer schwarzen Abendtasche in der Hand setzt er sich mir gegenüber. Plötzlich beginnt er, unaufhörlich sein Portemonnaie zu suchen und sieht mich dabei immer an, dass ich fast zu glauben beginne, ich habe es gestohlen. Gleich darauf setzt sich ein Mann mittleren Alters, Arbeiter-Bürger-Typ, an unseren Tisch. Es entspinnt sich langsam eine Unterhaltung zwischen uns dreien, bei der wieder mal hauptsächlich ich das Wort führe. Es geht - worum? - natürlich ums Christentum und die Kirche. Der Alte mit dem finsteren Blick, stellt sich heraus, scheint doch nicht ganz so genialisch zu sein, wie man ihn nach dem ersten Eindruck einschätzen würde. Er weiß nicht so recht, wozu er sich bekennen soll - er war mal katholisch. Das Übliche. Ich möchte mir trotzdem vorstellen, dass sein Leben etwas außergewöhnlich verlaufen ist.

Gegen elf spazieren zwei Bullen durch den Saal. Es hat den Anschein, als wollten sie nur ein Bier trinken - doch MICH kontrollieren sie. Niemand anderen, bloß wieder mal mich. Und warum? Wird sich gleich herausstellen:
Wo ich hin will. - Nach Polen. - Nach Polen noch? - Ja, warum nicht? - Ohne Schuhe? - Ogottogott, warum denn nicht? - In Polen schneit's. - Ach so, noch gar nicht gewusst. Aber was stört denn nur die ganze Welt dran, dass ich barfuß bin? Ist denn das so schlimm? - Immerhin, etwas ungewöhnlich, nicht? - Und wenn schon. Immerhin aber auch - noch - nicht verboten, oder? - N-neeeiiin, eigentlich nicht. - Also, bitte!
Sie müssen mich wohl oder übel in Ruhe lassen. Ich trinke mein Bier aus, zahle und verschwinde.

Auf dem Klo treff ich noch mal die Frau von vorhin. Ich erzähle ihr die Sache mit den Schuhen. Sie ist die Erste, die die anderen auch nicht ganz begreift.

*) Fahne - umgangssprachlich für den Wehrdienst in der DDR

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