Freitag, 19. August 2011

Kapitel 2: Radeberg - Częstochowa (4)


Mittwoch, 11. August 1976

Halb fünf bin ich an der F95. Trampend laufe ich zur Autobahn. Unten hält ein Bullenwagen. Ihren Ausweis, bitte! Sie fragen viel, das Übliche. Als ich weiterlaufe, warten unten ein Junge und ein Mädchen mit Rucksäcken und erzgebirgischem Dialekt auf mich. Was die Bullen wollten. Ich beruhige sie, das Normale. Sie wollen auch nach Polen, in die Tatra. Ich erzähle etwas über Częstochowa. Sie scheinen ganz interessiert - das könnte man ja auch mal mitnehmen.
Ich laufe zur Tankstelle, recht unschlüssig, wie ich anfange, da quatscht mich ein Dicker auf dem Motorrad an. Ich sage, zum Hermsdorfer Kreuz, er macht ein Zeichen, ich solle aufsteigen. Er wolle nach Jena. Das find ich ja bombig. Aber wohin mit dem vielen Gepäck? Er hat keinen ordentlichen Gepäckträger. Erst will er dauernd ein Stück die Autobahn vorfahren, weil da keine Bullen mehr seien, und mich dort aufladen. Als ich nicht begreife wozu, nimmt er mich gleich drauf. Den Beutel auf den Motor, und die Parka klemme ich mir unter den Arm.
An der Auffahrt Glauchau tankt er erst mal. Ich warte so lange auf der Landstraße. Ich weiß nicht recht, was ich von ihm halten soll, habe schon Angst, er lässt mich hier sitzen. Er kommt aber zurück. An einem Parkplatz hält er - der Motor muss erst abkühlen. Mir dauert das alles zu lange. Es ist schon halb acht, und dreiviertel neun fährt der letzte Zug nach Saalfeld, und wer weiß, wann der letzte Bus nach Braunsdorf geht, wo ich übernachten kann. Er meint, wir schaffen das schon noch. Wir sitzen auf einer Bank und unterhalten uns ein bisschen. Eine alte Frau schleicht über den Parkplatz und sammelt Flaschen aus den Papierkörben. Er kommt wohl viel rum, ist Landmaschinenschlosser oder so was. Da muss er auch am Wochenende arbeiten und kann sich so, genau wie wir, freie Tage sammeln. An denen setzt er sich dann auf sein Motorrad und fährt irgendwohin, was ihm gerade einfällt. Sein Hobby.
Gegen acht fahren wir weiter. Kurz hinter dem Hermsdorfer Kreuz lässt er den Motor noch mal abkühlen. Ich werde langsam kribblig. Und dann, 15 km vor Jena, noch mal. Es ist schon dunkel und meine Geduld bald am Ende. Zu allem Überfluss borgt er sich noch meine Decke aus und macht sich's im Feld bequem. Ich stehe am Motorrad und warte, warte... endlos... Ich habe das blöde Gefühl, er will was von mir. Tatsächlich ruft er mich auf einmal leise, ich solle runterkommen, er habe mir was zu sagen. Ich brülle, warum, er könne doch auch hochkommen. Darauf meint er nur, ich solle nicht so schreien. Endlich kommt er wieder hoch. Ich mache ihm den Vorschlag, doch gleich loszufahren, in Jena könne er dann den Motor abkühlen lassen, solange er will. Na ja, langsam kommt er aus der Hüfte. Er sagt, er fährt mich jetzt bis zur Abfahrt in Jena, und dann will er gleich wieder zurück nach Karl-Marx-Stadt.
"Ich denke, du wolltest nach Jena?"
Nee, wieso, er habe mir bloß einen Gefallen getan. Da fällt mir doch alles runter. Er macht auch noch mal einen Annäherungsversuch, als ich ihm aber deutlich zu verstehen gebe, dass ich darauf absolut nicht aus bin, lässt er's sein und ist eigentlich ganz okay.

An der Jenaer Abfahrt lässt er mich dann auch wirklich runter. Bis zur Stadt sind es nur ungefähr 100 Meter. Zwei Mädchen quatsche ich an, wie's zum Bahnhof geht. Dann frage ich sie nach der Zeit - es ist neun. Scheiße. Ich erzähle ihnen, dass mein Zug nun weg ist und damit die Penne und... Na, wie geht's dann zur Evangelischen Studentengemeinde? Das wissen sie nicht so genau, erklären mir aber den Weg in die Altstadt, zur Uni, während wir zum Bus vorlaufen. Auf einmal fragt die eine, wann morgen früh ein Zug nach Saalfeld gehe. Ich sage, weiß ich nicht, aber bestimmt nicht allzu zeitig. Na, meint sie, sonst könntest du auch bei mir schlafen, ich muss bloß halb fünf raus. Ich könnte sie fast umarmen, ich sage, das macht fast gar nichts, morgen früh brauche ich sowieso nicht mehr nach Saalfeld, das war bloß wegen der Penne. Schön, sagt sie, komm doch mit, ich weiß doch, wie das ist, ich trampe ja selber.
Sie heißt Regina Wolff und hat eine nett eingerichtete Neubauwohnung. Wir unterhalten uns noch ein bisschen, sie gibt mir eine Flasche Bier und raucht Karos von mir. Arbeitet bei Zeiss, Feinoptiker, ist eigentlich nicht ihre Welt. Ein duftes Mädel. Dann wasche ich mich gründlich und krieche - wer weiß, vielleicht vorläufig zum letzten Mal - in ein sauberes, frisch bezogenes Bett.
Gute Nacht. Morgen früh schmeißt du mich raus, Regina.

Keine Kommentare: