Sonntag, 14. August 2011

Kapitel 2: Radeberg - Częstochowa (3)


Dienstag, 10. August 76

Entgegen meinem Plan, schon am nächsten Tag nach Karl-Marx-Stadt zu meiner Mutter zu trampen, bin ich zwei Tage in Großhennersdorf hängen geblieben. Aber heute muss ich endlich weiter. Ich will noch nach Jena an die Uni, bevor ich nach Polen aufbreche.

Gegen neun werde ich in meinem Zelt in Michas Garten munter. Dieses Mal gammle ich sogar noch länger rum als gestern. Ein Flötenspiel, Zähneputzen an der Tonne - aus dem gegenüber stehenden Baum linst neugierig das Gesicht eines gar nicht mal so hässlichen Kerls. Zum Frühstück Erbsen, Äpfel, zwei Scheiben Knäckebrot und ein paar unreife Erdbeeren, eine Zigarette, später noch eine, meine Toilette befindet sich unter den Stachelbeersträuchern...
Mir ist ein bisschen schlecht. Das gibt sich aber, als ich gegen Mittag endlich - barfuß und aufgekrempelt - zur Bushaltestelle trabe. Ich habe Glück. In zehn Minuten fährt ein Bus nach Löbau. Der alte Bauer, der mir diese Auskunft gibt, ist nett. Da ziehen sie durch die Länder... Ihm gefällt das. Mir gefällt, dass es ihm gefällt. Aber die Stiefel ziehe ich dann doch lieber an für den Bus.
Er ist nicht sehr voll, und ich kriege einen Sitzplatz. Auf halber Strecke bekomme ich mit, dass er sogar nach Bautzen fährt. So löse ich in Löbau nach bis dort. Der Fahrer ist komisch; er guckt dauernd, als rede ich griechisch.

In Bautzen verrenken sich die Leute wieder mal die Köpfe nach mir. Kein Wunder: barfuß, in geflickten, hochgekrempelten Bluejeans, der orangen Hippiebluse, eine zusammengerollte Armeeplane unter dem Arm, in der anderen Hand einen nicht mehr ganz sauberen gelben Leinenbeutel und irgendwo die heruntergekommene Parka. Das junge Pärchen, das ich nach dem Weg zur Autobahn frage, reagiert nicht sehr zuvorkommend.
Das Gepäck ist ganz schön schwer und der Weg weit; ich überlege schon zum x-ten Mal, wie dieses Problem am besten zu lösen sei. Die Kneipe an der "Autobahnecke" macht erst um vier auf, jetzt ist es um drei, und ich habe Hunger. Also kauf ich mir im Konsum gegenüber ein bisschen Kuchen, eine Flasche Milch, eine kleine Flasche Apfelsaft, Zigaretten und dann ab auf die Piste. Erst mampfe ich in Ruhe, bis ich fast platze, dann geht das "Antrampen" los.

Es dauert nicht lange, da hält einer bis Dresden. Kurz vor der Auffahrt winken zwei Liesen. Ich bitte ihn innigst, doch anzuhalten, es sei ja noch Platz. Er tut es. Doch die beiden wollen nach Hoyerswerda. Schade. Er hat gedacht, ich kenne sie. Trampersolidarität scheint er noch nicht erlebt zu haben. Ein Stück weiter läuft ein Typ am Straßenrand, der ganz sicher nach Dresden will. Diesmal traue ich mich nicht mehr, ihn zum Anhalten zu bewegen. In Dresden fährt er extra wegen mir am Wilden Mann rein bis zur Ecke Döbelner Straße. Ich hab mir überlegt, erst zu Frieder zu gehen wegen der Unterlagen, die ich noch brauche, und dann mal zu Billy. Vielleicht kann ich bei ihr pennen. Unterwegs fällt mir ein, dass ja heute Dienstag und eventuell Junge Gemeinde im Weinberg ist. Frieder Burkhardt ist Jugendpfarrer dort, und ich habe bei ihm vorübergehend meine Habe eingelagert, bis ich eine neue Bleibe finde.

Auf der Wiese im Pfarrgarten hocken ein paar 14-, 15-jährige Bengels. Ich stelle mein Gepäck neben sie und bitte sie, mal 'ne Weile drauf aufzupassen. Ein sehr jungenhaft wirkendes, kleinwüchsiges Mädchen fragt nach einer Zigarette. Ich verteile Karo. Die Jungs sind begeistert. Das Mädchen fragt mich, woher ich jetzt komme, und wird nicht wieder, als sie Großhennersdorf hört. Katharinenhof? Kennst du Schwester Ruth? Doch, die ist sehr gut; mich hat sie immer gut behandelt. Ich war mal dort, vor acht Jahren. Jetzt kommt sie aus Kleinwachau und erzählt mir, wie schlecht ihre Eltern sie behandeln und im Betrieb der Meister und die Kameraden. Sie will unbedingt nach Großhennersdorf und bittet mich inständig, einen Brief von ihr, so schnell es geht, dorthin zu leiten. Ich verspreche es ihr.
Vorhin hab ich Frieder mit noch ein paar Leuten zur Kapelle hochgehen sehen. Ich denke, dass schon Gottesdienst ist, und gehe erst mal aufs Klo, dann hoch, aber alles ist verrammelt. Man hört zwar die Orgel, doch die Kapelle ist leer. Als ich wieder runterkomme, hat Erika den Brief geschrieben und gibt ihn mir zu lesen. Er ist kaum zu entziffern - ich werde für Ebs ein paar Zeilen dazu schreiben. Mit Erika gehe ich dann mal zu Barbara, Frieders Frau, hoch. Die führt mich auch gleich auf den Boden, und ich krame ein bisschen, bis ich gefunden hab, was ich suchte. Das Abizeugnis und den Lebenslauf brauche ich für die Studienbewerbung in Jena, die Beurteilungen meiner bisherigen Arbeitsstellen finde ich jetzt nicht. Ich gehe wieder runter und suche Erika. Sie hockt mit einem Jungen in Burkhardts' Kinderzimmer vor der Eisenbahn. Barbara bestätigt mir, dass heute JG ist, so gegen sieben wird's anfangen mit gemeinsamem Abendbrot.
Als wir wieder runterkommen, sind es ein paar Minderjährige mehr geworden. Ein Mädchen hat ein Kleinkind mitgebracht. Die Leute sind freundlich. Als ich grad dabei bin, meine Sachen wieder mal günstig zusammenzupacken, kommt Frieder.
"Na, du bist ja noch da."
Er ist in Schulterklopflaune und strahlt lyrisch in die Sonne. In solcher Verfassung nimmt er niemanden voll wahr und zeigt auch nicht die geringste Lust auf längere Gespräche. Ich lass ihn in Ruhe, nachdem er Erikas Klagen mit einem ironischen "So-du-hast-auch-Sorgen?" quittiert hat.
Gegen sechs schultere ich meine Bagage wieder und mache mich auf. Ein Mädchen meint, ich solle doch da bleiben, die JG fange bald an, wo ich noch hin wolle. Ich bin mir selbst nicht ganz schlüssig. Ich sage, erst mal zu meiner Freundin, mal sehen, vielleicht komm ich dann noch mal wieder. Aber kaum bin ich ein Stück vorgelaufen, packt mich der Entschluss, gleich noch auf die Piste zu fahren. Es ist noch hell, vielleicht komm ich heute noch nach Karl-Marx-Stadt.

In Cossebaude an der Piste steht schon einer, und ein anderer läuft vor mir. Der da schon steht, will nach Leipzig. Ich sage, dass ich heute aus Großhennersdorf komme...
"Ach! Aus Großhennersdorf? Zufällig warst du im Katharinenhof? Wieso haben wir uns da nicht gesehen?"
Er war ebenfalls ein paar Tage dort zu Gast bei Olaf gewesen. Da hält ein Trabi mit ungarischem Nummernschild. Ein junges Mädchen, sehr gut aussehend, Ungarin: "Karl-Marx-Stadt."
Der andere, der hinter mir stand, will ebenfalls dorthin. Also steigen wir beide ein. Gruß zurück an Olafs Kumpel, dann wende ich mich der Ungarin zu. Sie will wissen, wo in Karl-Marx-Stadt irgendeine Straße ist. Wir wissen es beide nicht, aber ich kann endlich wieder mal mein Ungarisch an den Mann bringen:
"De Karl-Marx-Stadtban lehet kérdezni rendőrt."*)
Sie zeigt sich erwartungsgemäß erfreut: "Honnan tudsz magyarul?"**)
So entwickelt sich eine kleine Unterhaltung bis Karl-Marx-Stadt, und ich stelle voller Erschrecken fest, dass von meinem Ungarisch nur knapp die Hälfte noch geblieben ist.

An der Tankstelle steigt der Typ aus und trampt weiter. Ich fahre mit nach Karl-Marx-Stadt rein. Erst mal zum Bahnhof und zur Trapo. Die gesuchte Straße ist bald gefunden, und ich bin sehr erfreut, denn sie liegt in Adelsberg, das ist auch meine Richtung.
Meine Mutter ist freudig überrascht über meinen Überfall. Sie fällt bald aus allen Wolken, als sie hört, Theologie will ich studieren. Aber irgendwie freut sie sich, hauptsächlich darüber, dass ich "nun doch endlich" studieren will. Nach Jena soll ich noch mal bei ihr vorbeikommen und berichten, unbedingt. Und bis ich wieder was habe, kann ich bei ihr bleiben. Jetzt freue auch ich mich.

*) Aber in Karl-Marx-Stadt kann man einen Polizisten fragen.
**) Woher kannst du Ungarisch?

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