Mittwoch, 24. August 2011

Tod eines Vogels

Wenn Neila zwischen Lippenstift und Chipkartenfach an den blauen Vogel denkt, lässt sie die Handtasche auf den Wäscheberg fallen und geht ins Hinterzimmer. Sie schaut nach dem Futternapf in seinem Käfig, ob er auch gefüllt sei, aber er ist gefüllt, immer, es ist auch immer genügend Wasser im anderen Napf, und der blaue Vogel springt aufgeregt auf dem Käfig herum, dem großen, offenen Vogelkäfig auf dem Wäscheständer im schmalen Hinterzimmer, dem Käfig, auf dem der blaue Vogel zwitschert und singt, immer satt, nie durstig.
Eigentlich gehört der Vogel nicht Neila, sondern Olivia. Doch Olivia sitzt draußen auf dem Wäscheberg und ruft: "Neila! Komm mal her!" Dann geht Neila hin, aber sie ärgert sich. Es sind ganz unwichtige Dinge, wegen derer Olivia sie dauernd ruft, Banalitäten, aber man kann ja nie wissen. Deshalb geht Neila immer wieder zu Olivia, die auf dem Wäscheberg neben der Tür im Vorderzimmer sitzt und sie dauernd ruft. Aber sie ärgert sich.
Denn Neila möchte am liebsten nur noch mit dem blauen Vogel spielen. Er ist so wunderschön, und er ist so munter und gesund. Ganz anders als Rufus. Rufus ist auch Olivias Vogel, aber er sitzt nicht draußen beim blauen Vogel und springt nicht mit ihm herum, denn Rufus ist krank. Er liegt im Käfig und sieht aus wie ein großes, frisch geschlüpftes Vogeljunges, fast federlos, schmutzig grün. Rufus liegt die ganze Zeit kraft- und hilflos am Käfigboden, denn er ist schwer krank und will einfach nicht wieder gesund werden.
Wieso hat Olivia so eine große Abneigung gegen ihn? Es ist doch ihr Vogel. Aber sie kümmert sich ja auch nicht um den blauen Vogel, Olivia kümmert sich um gar keinen Vogel, obwohl es ihre sind, sie ruft immer nur: "Neila!" Wegen Banalitäten. Wenn Neila sie fragt, ob sie die Vögel schon versorgt habe, sagt Olivia ja, und es ist ja auch immer Futter und frisches Wasser im Käfig, da kann man nichts sagen. Aber Olivia spricht nicht mit den Vögeln, und sie lässt auch Neila nicht mit ihnen sprechen, weil sie sie immer wieder wegen Banalitäten zu sich auf den Wäscheberg ruft.
Olivia kann Rufus nicht leiden. Vielleicht weil er so krank ist. Keine Ahnung warum. Sie quält den armen, kranken Vogel. Sie setzt ihn sich auf den Finger und will ihn fliegen lassen. So, als werde er davon wieder gesund. So, als müsse man unbedingt wieder gesund werden, wenn man schwer krank ist. Als sei es eine Sünde zu sterben. "Lass ihn in Ruhe", schimpft Neila. "Er soll das Restchen seines Lebens noch in Frieden verbringen dürfen." Olivia sitzt ohnehin schon wieder auf dem Wäscheberg. "Neila! Komm mal her!" ruft sie.

Zwischen dem Wäscheständer mit dem Vogelkäfig und der Wand steht im Durchgang eine eingeschaltete Rotlichtlampe, und um den Wäscheberg davor strahlt ein hellblaues Licht. Es wird Abend und wieder Morgen und wieder Abend. Die Tage, die Wochen steigen auf und ab, in steter Gleichförmigkeit, gleich einem Hammerwerk, das nichts schmiedet, dessen einzige Aufgabe nur noch darin besteht, den Hammer im Gleichmaß ewiger Bewegung zu halten, ruhig und gleichgültig. Wir bewegen uns, also sind wir. Ein rotes Licht und ein blaues Licht. Ein schmutzig grüner und ein blauer Vogel.
Doch eines Abends schlägt der Hammer behender, stolpert, gerät aus dem Takt. Die Nachbarschaft veranstaltet einen Gemeinsamen Abend, und alle sind eingeladen. Olivia, Leander und Neila flattern aufgeregt in dem langen, schmalen Zimmer durcheinander, sie machen sich "fein". Der Wäscheberg ist abgetragen. Der blaue Vogel sitzt bereits bettfertig im Käfig, und Neila möchte den Wäscheständer mit dem Käfig ins vordere Zimmer ziehen, um die Zwischentür zu schließen, doch Leander und Olivia drängen: "Komm, wir müssen los!" Da lässt Neila den Käfig Käfig sein, schnappt ihre Handtasche und eilt den beiden nach nach draußen.

Der Weg führt ins Erdgeschoss, doch dort ist alles leer. Die Feier findet in einem der oberen Stockwerke statt, wohin von hier aus keine Treppe führt, sie müssen den Paternoster nehmen. Neila krampft sich der Magen zusammen. Sie hat furchtbare Angst vor Paternostern, die waren ihr schon immer unheimlich. Wenn man dummerweise in den falschen Augenblick rutscht, schafft man es nicht, rechtzeitig auszusteigen und dann? Niemand weiß, wie ein Paternoster am Umkehrpunkt wendet, und es ist gar nicht ausgeschlossen, dass er sich vom Kopf auf die Füße dreht! Deshalb muss man im Paternoster immer wachsam sein, immer auf dem Sprung, aber Neilas Gedanken wollen das nicht. Leander stößt sie hinaus.
Es ist das falsche Stockwerk. Das heißt, es ist eigentlich gar kein Stockwerk, sie sind ganz oben ausgestiegen, wo niemand mehr wohnt: im Turm. Neila freut sich. Sie liebt Türme, bestimmt gibt es hier verträumte, kleine Fenster, durch die man die ganze Welt sehen kann. Doch Leander drängelt. Die Welt kannst du ein andermal sehen, wir müssen hier wieder runter.
Zu früh gefreut: Nur eine lange, extrem steile Holztreppe führt nach ganz unten in den Begegnungsraum, fast schon eine Leiter. Neila stöhnt und schimpft. Erst der Paternoster, jetzt eine kilometerlange Leiter in den Abgrund! Da ihnen aber nichts anderes übrig bleibt, beginnt auch sie mit dem halsbrecherischen Abstieg.
Auf der unteren Hälfte der Leiter sitzen schon viele Leute. Kurz, bevor sie zu ihnen stoßen, kommt ihnen jemand von unten entgegen. Der Mensch hat auch auf der Leiter gesessen und ist jetzt aufgestanden, um nach oben zu krabbeln. Schon wieder schimpft Neila, denn erstens ist es unmöglich, aneinander vorbeizukommen, und zweitens ist die Leiter doch nur für den Abstieg gedacht, der Ausgang befindet sich unten. Was will der dort oben, sich Kaffee holen?

Es ist schon spät in der Nacht, als Neila und Leander das Treffen verlassen. Eigentlich wollten sie nach Hause gehen, doch sie entscheiden sich spontan für einen kurzen Nachtspaziergang. Neila ist nicht ganz wohl zumute. Sie hat Angst, die Vögel so lange allein zu lassen, sie hört den Rhythmus des Hammers. In den paar Minuten werde ihnen schon nichts passieren, wiegelt Leander ab. Was sollte auch passieren? Sie haben ja ihr Futter.
Sie gehen durch die lange, dunkle Hauseinfahrt aufs Haustor zu. Leander fällt plötzlich der Mann ein, der eins der weißen Häuser auf der Wiese hinter dem Anwesen der frommen Helene gekauft hat. Die Geschichte hat ihm Neila erzählt. Er regt sich furchtbar auf, aber Neila versteht seine Aufregung nicht: "Lass ihn doch! Warum soll er es nicht kaufen?" Natürlich hat Leander seine Gründe, sich so zu ereifern. Leander hat immer Gründe.
Vor dem Haus wenden sie sich nach rechts, laufen die Straße hinab bis zur Wiese in der großen Baulücke. Über diese Wiese gelangen sie zurück nach Hause, das genügt. Als sie über die Wiese laufen, flüstert Leander Neila ins Ohr, er werde ihr zu Hause im Bett etwas zeigen. Sie kichert und flüstert zurück, er solle es ihr doch jetzt schon zeigen, doch im selben Moment tauchen immer mehr Leute auf der Wiese auf. Rasch setzt Neila ihre Maske wieder auf und guckt tugendhaft geradeaus.

Zu Hause finden sie eine entsetzte, in Tränen aufgelöste Olivia vor. Die Tür zum hinteren Zimmer ist geschlossen, und in der vorderen linken Ecke des schmalen Zimmers sitzt die fromme Helene und beugt sich über etwas, was da liegt. Der Schemen eines kleinen Kindes geistert durch die hintere Hälfte des Raums. Hat niemand sonst das Kind gesehen? Der Hammer schlägt Stakkato. Panisch fragt Neila, was passiert sei, doch sie begreift, noch ehe Olivia es erklären kann: Rufus ist tot. Er ist es, über den sich die fromme Helene beugt. Vielleicht hat sie versucht, ihn noch zu retten, doch gleich steht sie auf und schlägt die Serviette zusammen, auf der er liegt, und Leander sagt: "Wir müssen ihn begraben."
Der Hammer steht still.
Als die fromme Helene die kleine Leiche auf der Serviette hochhebt, geht Olivia zu ihr und schmeißt ungehalten eine Handvoll Perlen darauf. Die Geste kommt keineswegs vom Herzen, sie verabschiedet sich von diesem Vogel genauso genervt, wie sie ihn in der letzten Zeit behandelt hat, als sei es seine Schuld, dass er nicht zum Leben taugte.
Neila begreift nun, dass es der blaue Vogel ist, worüber Olivia so verzweifelt. Die Tür zum hinteren Zimmer ist verschlossen, und Olivia weiß nicht, ob er nicht vielleicht auch tot oder verletzt ist. Sie will zu ihm, doch an der Tür versperrt ihr der Schemen einer Frau den Weg. Alle sehen die Frau, und auch sie reden Olivia zu, sie solle die Tür in Ruhe lassen und abwarten, dem blauen Vogel gehe es sicherlich gut.
Dann erst fragt Neila sie, wie Rufus gestorben sei, und sie sagt, der blaue Vogel habe ihn totgehackt. "Irgendwann musste das ja mal passieren!" - das hatte Olivia schon gerufen, als sie hereingekommen waren, und nun stellt sich heraus, dass der blaue Vogel Rufus nicht leiden konnte und immer nach ihm hackte, wenn er in der Nähe war. Neila erinnert sich, dass sie immer bemüht gewesen war, die beiden voneinander fern zu halten. Und nun ist sie nur kurze Zeit nicht da gewesen, und dieser eine Hacker ist tödlich ausgefallen.

Als sie Rufus im Kohlbeet hinter dem Haus begraben, geht das Hammerwerk in Flammen auf. Unhörbar schleicht sich der Schemen eines alten Mannes davon, den niemand sieht.

© Angela Nowicki, 10. September 2010

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