Mittwoch, 6. Juli 2011

Plädoyer für die Amoral

Was ich am Human Design von Anfang an geliebt habe, war der Slogan "No choice". Gut, er ist ein bisschen übertrieben, natürlich haben wir die Wahl, wie wir uns verhalten, ob wir das, was wir sind, akzeptieren und ausleben oder nicht. Nur sind wir halt etwas, eine ganz bestimmte, einzigartige genetische Definition, und da hört unsere Wahlfreiheit auf. Und wir haben auch keine Wahl, was die Gestalt unseres Lebens angeht. Ob wir unsere Bedürfnisse befriedigen, unsere Wünsche erfüllen, unsere Ziele erreichen oder nicht, das hängt, allen anders lautenden Gerüchten zum Trotz, nun mal nicht von uns ab.
Mir gefiel im Human Design der Vergleich mit dem Fahrzeug, einen ähnlichen Vergleich habe ich vor Jahren schon bei dem Astrologen und Psychotherapeuten Peter Orban gelesen, da war es ein Zug: Unser Körper ist unser Fahrzeug, in dem wir durchs Leben fahren. Aber wir sind nicht der Fahrer, auch wenn es uns oft so vorkommt. Für den Fahrer hat das HD einen Magnetischen Monopol in uns ausgemacht, also unsere innere Führung, die nicht identisch ist mit unserem selbstreflektierenden Bewusstsein. DAS ist nur der Fahrgast. Und der sitzt nicht im Taxi. Der Fahrer fährt uns nach einer auf einer höheren (oder tieferen) Ebene geplanten Route, und somit ist das Klügste, was wir tun können, uns entspannt zurückzulehnen und alles, was uns auf dieser Reise begegnet, interessiert zu beobachten. Kamera und Tagebuch sind dabei praktisch.
Selbst wenn wir unser "Design leben" (übrigens ein furchtbares Wort, es hat im Deutschen nun mal eine viel engere Bedeutung als im Englischen – könnte man sich hier nicht auf ein anderes einigen, "Anlage" zum Beispiel?), was im HD allenthalben fast schon missionarisch repetiert wird, wenn wir der Strategie unseres Typs und unserer inneren Autorität folgen, wird nicht alles automatisch "gut" in dem Sinne, dass sich das Leben plötzlich unseren Vorstellungen von ihm anpasst. Die Route ändert sich deswegen nicht, da sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Es hilft uns nur, die Fahrt zu genießen, nicht mehr und nicht weniger. Und das ist doch eine ganze Menge.

Und das hat mir im HD von Anfang an richtig gut gefallen. Dass der Mensch nicht korrigiert werden muss, sondern lernen kann, sich und sein Leben anzunehmen, wie es ist. Eine große und schwere Aufgabe, aber wenigstens eine mit realen Erfolgsaussichten.
Anscheinend hatte ich diese Wahrheit wieder mal vergessen, als ich die letzten Sätze über das Kopfzentrum schrieb. Es gibt kein "soll" und "darf nicht", niemand muss irgendetwas tun. Man macht es sich nur etwas gemütlicher, wenn man sich mit einem offenen Kopfzentrum nicht dauernd mit fremden Themen beschäftigt, das ist alles. Aber man stirbt auch nicht, wenn man es tut. Und es gibt mit Sicherheit eine Menge Leute, die dazu bestimmt sind, sich mit fremden Fragen zu beschäftigen. Sie werden glücklicher sein, wenn sie sich nicht damit identifizieren, sicher, aber wenn sie es tun, geht die Welt auch nicht unter, vor allem, wenn sie sich dessen bewusst sind. Und wenn nicht – so what. Wir sind hier, um Erfahrungen zu sammeln.

Eigentlich wollte ich mir etwas anderes von der Seele schreiben, was aber gar nicht so weit weg vom amoralischen Imperativ liegt. Mir war gestern ein Artikel einer von mir ansonsten sehr geschätzten HD-Analytikerin aus den USA aufgestoßen, in dem sie ganz offensichtlich das Multidimensional Human Design, eine Weiterentwicklung von Eleanor Haspel-Portner, attackierte (der Artikel ist schon über acht Jahre alt, deshalb will ich nicht weiter darauf eingehen, vielleicht denkt die Frau heute ja schon ganz anders).
Da war es wieder: "Keep it simple!" Ich habe den Satz auch schon gelesen, aber da ging es nach meinem Verständnis darum, dass ein Analytiker seinen Kunden nicht mit einer Flut nutzloser Details überhäuft, die dem am Ende sowieso nichts bringen. Hier jedoch war eher die "reine Lehre" gemeint. Ich bin da ein bisschen empfindlich, denn ich habe diesen sinnlosen Kampf der Puristen gegen die Reformer schon in der Astrologie, der Homöopathie und was weiß ich wo verfolgen dürfen. Ich meine, ich habe eine Riesenachtung vor Ra Uru Hu, dem Begründer – oder soll ich besser sagen "Empfänger" – des Human Design, und bedaure es unendlich, dass ich mittlerweile keine Gelegenheit mehr haben werde, ihn persönlich kennen zu lernen, da er leider vor Kurzem verstorben ist. Doch ist es nicht so, dass solche Schismen immer dann entstehen, wenn eine Lehre entweder zu starr geworden ist oder den veränderten Ansprüchen nicht mehr genügt? Das Leben mutiert nun mal ständig, das ist doch erfreulicherweise sogar ein Grunddogma des Human Design.
Eleanor ist eine ungeheuer tiefgründige Denkerin. Sie hat das System um ein Vielfaches komplexer gemacht, damit sicher auch komplizierter, aber – es funktioniert! Es funktioniert sogar noch besser als das ursprüngliche System. Und das ist für mich das einzige Wahrheitskriterium.

Einige der ursprünglichen Protagonisten haben nach meiner Beobachtung leider eine ganze Serie von "Gebeten" entwickelt, die genau dem widersprechen, was sie immer so begeistert verkünden: der Vielfalt. "Es gibt immer ein Dies und ein Das", wie Ra zu sagen pflegte. Nicht jeder ist dazu "designt", es simpel zu halten. Das ist nur ein "Dies", und es gibt so viele "Das", die gerade die Komplexität und Tiefe brauchen, um glücklich zu sein.
Und da ich gerade so schön in Fahrt bin: Für ebensolchen Unfug halte ich es auch, ständig den Verstand zu verteufeln. Der Verstand ist niemals die innere Autorität, kein Zweifel. Die Autorität ist die innere Instanz, die die Entscheidungen trifft. Dass der Verstand keine guten Entscheidungen treffen kann, ist aber noch lange kein Grund, ihm gleich sein ganzes Spielzeug wegzunehmen. Wenn unser Ursprung gewollt hätte, dass wir nicht denken, hätte er uns vermutlich erst gar kein Großhirn verpasst. So viele Menschen arbeiten mit dem Verstand und sollen das auch tun, dazu sind sie hier, das hat rein gar nichts mit der Autoritätsfrage zu tun. Der Verstand kann ein wunderbares Werkzeug sein. Entscheidungen sind eine ganz andere Kategorie.

© Angela Nowicki, 6. Juli 2011

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