Samstag, 9. Juli 2011

Ostreise, Teil 1

Wegfahren. Loslassen. Auf die Autobahn. Das ist auf Distanz gehen zur Welt. Das Leben rast vorbei, es gibt nichts mehr, was dich betrifft, was Entscheidungen fordert von dir. Du hast nicht einmal Gelegenheit zu überlegen, was es bedeuten könnte. Es gibt keine Bedeutung, nichts ist von Bedeutung. Gärten, Geschäfte, Baustellen, Menschen mit Tempo hundertachtzig. Da lebt wohl etwas, da lebt vielleicht sogar alles, beherbergt einen unüberblickbaren Wust von Geschichten und Zeiten. All dies bleibt unsichtbar und unfühlbar. Du lebst es nicht und kannst es nicht leben, du kannst nicht eingreifen. Du kannst es nicht einmal erkennen. So muss es im Himmel sein, wenn das Leben glücklich hinter dir liegt. Du siehst von fern Dinge sich bewegen, sich verbinden und lösen, noch nicht hier und schon vorbei. Kein Leben, keine Sorgen. Du bist frei. Angenehm ist das nicht.
Der Wechsel von der Autobahn auf die Landstraße verringert das Tempo, aber kaum die Distanz. Die Bilder verweilen jetzt ein paar Sekunden länger, du hast Zeit zu entscheiden, ob du dich wohl fühlst mit diesem Bild oder unwohl. Ale nic z tego nie wyniknie. Das ist sogar noch unangenehmer. Vielleicht löst jene sanfte Hügellandschaft in dir ein Gefühl aus, das ebenfalls etwas länger verweilt und so zum vagen Wunsch wird: hier ein Haus zu bauen und jeden Morgen übers Feld in das Birkenwäldchen auf der Anhöhe zu laufen. Du wirst es nie tun. Die Landschaft hat sich bereits verwandelt, gibt neue Impulse, weckt immer mehr vage Wünsche, die allesamt nie erfüllt werden. Nic z tego nie wyniknie.

Man kann natürlich anhalten. Nicht, um wenigstens einen Wunsch festzuhalten, sondern um eine Zigarette zu rauchen. Oder austreten zu gehen. Wir haben noch auf der Autobahn angehalten, auf dem letzten Parkplatz vor unserer Ausfahrt, denn erfahrungsgemäß bieten die Bundesstraßen über zig Kilometer keine Möglichkeit zum Stehenbleiben. Diese Straßen sind, hier wie daheim, schmal und ohne Seitenstreifen. Gleich neben der weißen Linie ein Graben, dahinter Feld, Wiese, Wald. Der Autobahnparkplatz liegt mitten im endlosen schneebedeckten Feld. Der Eiswind pfeift ungehindert über die Ebene, er drückt die gefühlte Temperatur um etliche Grad nach unten und meine Steppjacke ans Rückgrat. Wir haben die Zigarette nicht aufgeraucht, die Toilette war schmierig und stank. Weiter.

Wir sind durch Cottbus gefahren. Eine seltsame Stadt. Wie die gesamte Niederlausitz scheint sie der Zeit entnommen zu sein. Hier pulsiert nichts, sogar die Luft steht still, du entdeckst weder Vergangenheit noch Zukunft und noch nicht einmal Gegenwart. Das ist Zeitlosigkeit. Ich weiß nicht, wie die Menschen hier leben. Das Leben muss an ihnen vorbeigehen oder durch sie hindurch. Vielleicht leben sie nur, solange wir durch die Stadt fahren? Geschichten von versunkenen Orten tauchen aus der Erinnerung. Vineta. Germelshausen. Einmal in hundert Jahren öffnet sich die Erde und lässt das Dorf einen Tag lang leben. Einmal in hundert Jahren fahren wir durch Cottbus. Wanderer, achte darauf, den Ort vor Mitternacht zu verlassen!
Während jedoch andere Lausitzer Städte, wie Görlitz oder Guben, so grau und trostlos auf mich wirken, dass ich mich bemühe, an gar nichts zu denken - nur schnell wieder raus hier -, erfasst mich in Cottbus jedes Mal genau jene verwunschene Melancholie, wie die Märchen sie atmen. Cottbus ist weder schön noch hässlich, denn das sind bereits lebendige Empfindungen. Es besteht zum größten Teil aus langgezogenen Plattenbauten, breiten Straßen mit wenigen Autos und noch weniger Fußgängern und geschwungenen Hochstraßen. Ja, es hat auch viel Grün und ganz ansehnliche Altbauten - das ist es nicht. Es sind nicht einzelne Häuser oder Plätze. Es ist die spezifische Atmosphäre, die all das zusammen hervorbringt, eine Art Aura, die diese Stadt wie eine Glasglocke umschließt.
Es passiert jedes Mal. Sobald wir nach Cottbus hineinfahren, ist mir, als habe ich ein starkes Beruhigungsmittel injiziert bekommen. Ich vergesse, woher ich komme und wohin ich will. Wünsche, Sehnsüchte, Ideen lösen sich unmerklich im Nichts auf, und mich überfällt gewitterfarbene Melancholie. Ich sehe mich allein in einer der Großplattenwohnungen wohnen, sehe mich end- und ziellos durch diese breiten Straßen geistern, hinter denen die Welt zu Ende ist, ich begegne immer den gleichen Gesichtern und kenne keinen Menschen, ich lasse mich ziehen von seltsamen Zeichen, der Ziffer Vier auf einer roten Straßenbahn, dem Autokennzeichen EE.EE, einem rothaarigen, Roller fahrenden Jungen, einem zerknitterten alterslosen Weiblein, das lauthals singt. Und ich werde nie mehr sterben.

Ostreise, Teil 2

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