Ostreise, Teil 1
Ostreise, Teil 2
Wir sind in Polen. Aus Küstrin ist Kostrzyn geworden. Wir fahren unaufhaltsam ostwärts, achtzig Kilometer hinein ins neue Land. Da ist aber nichts neu. Im Gegenteil. In der langen Zeit, die ich nicht hier war, habe ich immer wieder gehört, das Land habe endlich begonnen, sich zu verändern, der über zehnjährige Marasmus, der an Selbstaufgabe gemahnende schleichende Verfall werde von den ersten Vorboten eines ehrgeizigen jugendlichen Elans durchgeschüttelt. Europa wecke fast begrabene Hoffnungen, der Aufbruch sei überall zu spüren, an renovierten Häusern, gepflegten, farbenfrohen Vorgärtchen, dynamisch-lockeren jungen Yuppies auf den Straßen, freundlicheren Verkäuferinnen in den Geschäften. Das muss ein anderes Polen sein. Auf der Strecke, die wir entlangfahren, finde ich trotz angestrengter, sehnsüchtiger Ausschau auch nicht das kleinste Zeichen eines Erwachens. Mehr als zehn Jahre lang, seit der für Ostdeutschland trotz allem so bereichernden "Wende", habe ich Polen verrotten sehen wie ein Haus, dessen Eigentümer heillos zerstritten sind. Die Halbwertzeit verringert sich rapide, sobald es seinem Schicksal überlassen wird. Es war erschreckend und deprimierend, das Land bei jedem Besuch sichtlich grauer, verstaubter, hoffnungsloser vorzufinden. Nichts anderes sehe ich auf unserer Fahrt von Kostrzyn nach Gorzów. Aussätzige Häuser, betrunkene Männer, abgearbeitete Frauen, leere Gesichter, rostbefallene Fahrzeuge, verbeulte Straßen und Staub, dieser verdammte feine, graue Staub, der alles und jeden zu durchdringen scheint.
Gut, es ist Winter, ein endlos währender, schmerzhaft kalter Winter. Ein unbarmherziger Winter, der uns nicht einmal Schnee über das Elend gönnt. So kahl, ausgefroren und farblos ist mir selbst Polen noch nicht erschienen. Mit etwas Grün sähe alles wohl erträglicher aus.
Gut, es ist nur eine Linie von achtzig Kilometern mal fünfzig Meter, was ist das schon. Noch nicht mal ein Achtundsiebzigtausendstel. Es bleiben achtundsiebzigtausend Hoffnungen.
Nachmittags um vier fahren wir in Gorzów ein. Gorzów Wielkopolski. Vor vielen Jahren Landsberg an der Warthe. Geburtsort der dunklen Mahnerin Christa Wolf. Hier blättern sich ihre Kindheitsmuster auf. Die Warta fließt wie eh und je träg dahin, sie trägt die schaumigen Eisschollen der Oder nach Osten, nur ist sie längst nicht so breit. In Gorzów kumuliert die unterwegs aufgesammelte Depression und wird zur Stadt. Es gibt nahezu kein Haus, das intakt aussieht. Es gibt keine Stelle, kein Plätzchen in der ganzen Stadt, das auch nur im Entferntesten anheimelnd oder gar einladend wirkte. Mit Verwunderung entdecke ich einen Park. Hineingehen möchte ich nicht. Wie die Glocke der Verwunschenheit Cottbus umschließt, umschließt Gorzów eine dichte Glocke der Resignation. Leere. Sinnlosigkeit. Hier leben heißt nichts wollen. Cottbus hat weder Vergangenheit noch Zukunft noch Gegenwart. Es hängt außerhalb der Zeit und wird damit zum Mythos. In Gorzów ist die Zeit bloß stehen geblieben. Es ist Gegenwart pur, hat die Vergangenheit vergessen und vor allem keine Zukunft, no way out. Das ist kein Mythos, nicht einmal eine Geschichte. Die Luft beißt sich in den Schleimhäuten fest, hier wird noch viel mit Kohle gefeuert, ich höre von jemandem, der Plastikabfälle verheizt.
Die Rußpartikel sind allgegenwärtig, lasieren die Luft, auch die Schneereste sind grauer als anderswo, kaum zu unterscheiden von den verworfenen Wegen, den unzähligen ausgehebelten Gehwegplatten. Viele Häuser sehen aus wie Leprakranke, der Putz blättert in großen Fetzen ab, die verrotteten Fensterrahmen krümmen sich trotzig und sind nur mit viel Kraft zu öffnen und zu schließen, aus dem blanken Ziegelwerk rieselt der versandete Mörtel, Feuchtigkeit steigt auf und sinkt herab. Und über und an und in allem jener feine, graue Staub wie eine Seuche. Jetzt erinnere ich mich: Buna. Chemiekombinat. Es ist der Karbidstaub, der auch Halle zersetzt. Gorzów ist mit Halle nicht zu vergleichen, doch den Staub haben sie gemeinsam. Ich glaube nicht, dass hier Karbid hergestellt wird, aber auf meine Frage erfahre ich: Ja, in Gorzów gibt es Chemiewerke. Die Niederung des Warthebruchs verbündet sich mit dem Chemiestaub: Die Seele sinkt zu Boden und ergraut.
Ostreise, Teil 2
Wir sind in Polen. Aus Küstrin ist Kostrzyn geworden. Wir fahren unaufhaltsam ostwärts, achtzig Kilometer hinein ins neue Land. Da ist aber nichts neu. Im Gegenteil. In der langen Zeit, die ich nicht hier war, habe ich immer wieder gehört, das Land habe endlich begonnen, sich zu verändern, der über zehnjährige Marasmus, der an Selbstaufgabe gemahnende schleichende Verfall werde von den ersten Vorboten eines ehrgeizigen jugendlichen Elans durchgeschüttelt. Europa wecke fast begrabene Hoffnungen, der Aufbruch sei überall zu spüren, an renovierten Häusern, gepflegten, farbenfrohen Vorgärtchen, dynamisch-lockeren jungen Yuppies auf den Straßen, freundlicheren Verkäuferinnen in den Geschäften. Das muss ein anderes Polen sein. Auf der Strecke, die wir entlangfahren, finde ich trotz angestrengter, sehnsüchtiger Ausschau auch nicht das kleinste Zeichen eines Erwachens. Mehr als zehn Jahre lang, seit der für Ostdeutschland trotz allem so bereichernden "Wende", habe ich Polen verrotten sehen wie ein Haus, dessen Eigentümer heillos zerstritten sind. Die Halbwertzeit verringert sich rapide, sobald es seinem Schicksal überlassen wird. Es war erschreckend und deprimierend, das Land bei jedem Besuch sichtlich grauer, verstaubter, hoffnungsloser vorzufinden. Nichts anderes sehe ich auf unserer Fahrt von Kostrzyn nach Gorzów. Aussätzige Häuser, betrunkene Männer, abgearbeitete Frauen, leere Gesichter, rostbefallene Fahrzeuge, verbeulte Straßen und Staub, dieser verdammte feine, graue Staub, der alles und jeden zu durchdringen scheint.
Gut, es ist Winter, ein endlos währender, schmerzhaft kalter Winter. Ein unbarmherziger Winter, der uns nicht einmal Schnee über das Elend gönnt. So kahl, ausgefroren und farblos ist mir selbst Polen noch nicht erschienen. Mit etwas Grün sähe alles wohl erträglicher aus.
Gut, es ist nur eine Linie von achtzig Kilometern mal fünfzig Meter, was ist das schon. Noch nicht mal ein Achtundsiebzigtausendstel. Es bleiben achtundsiebzigtausend Hoffnungen.
Nachmittags um vier fahren wir in Gorzów ein. Gorzów Wielkopolski. Vor vielen Jahren Landsberg an der Warthe. Geburtsort der dunklen Mahnerin Christa Wolf. Hier blättern sich ihre Kindheitsmuster auf. Die Warta fließt wie eh und je träg dahin, sie trägt die schaumigen Eisschollen der Oder nach Osten, nur ist sie längst nicht so breit. In Gorzów kumuliert die unterwegs aufgesammelte Depression und wird zur Stadt. Es gibt nahezu kein Haus, das intakt aussieht. Es gibt keine Stelle, kein Plätzchen in der ganzen Stadt, das auch nur im Entferntesten anheimelnd oder gar einladend wirkte. Mit Verwunderung entdecke ich einen Park. Hineingehen möchte ich nicht. Wie die Glocke der Verwunschenheit Cottbus umschließt, umschließt Gorzów eine dichte Glocke der Resignation. Leere. Sinnlosigkeit. Hier leben heißt nichts wollen. Cottbus hat weder Vergangenheit noch Zukunft noch Gegenwart. Es hängt außerhalb der Zeit und wird damit zum Mythos. In Gorzów ist die Zeit bloß stehen geblieben. Es ist Gegenwart pur, hat die Vergangenheit vergessen und vor allem keine Zukunft, no way out. Das ist kein Mythos, nicht einmal eine Geschichte. Die Luft beißt sich in den Schleimhäuten fest, hier wird noch viel mit Kohle gefeuert, ich höre von jemandem, der Plastikabfälle verheizt.
Die Rußpartikel sind allgegenwärtig, lasieren die Luft, auch die Schneereste sind grauer als anderswo, kaum zu unterscheiden von den verworfenen Wegen, den unzähligen ausgehebelten Gehwegplatten. Viele Häuser sehen aus wie Leprakranke, der Putz blättert in großen Fetzen ab, die verrotteten Fensterrahmen krümmen sich trotzig und sind nur mit viel Kraft zu öffnen und zu schließen, aus dem blanken Ziegelwerk rieselt der versandete Mörtel, Feuchtigkeit steigt auf und sinkt herab. Und über und an und in allem jener feine, graue Staub wie eine Seuche. Jetzt erinnere ich mich: Buna. Chemiekombinat. Es ist der Karbidstaub, der auch Halle zersetzt. Gorzów ist mit Halle nicht zu vergleichen, doch den Staub haben sie gemeinsam. Ich glaube nicht, dass hier Karbid hergestellt wird, aber auf meine Frage erfahre ich: Ja, in Gorzów gibt es Chemiewerke. Die Niederung des Warthebruchs verbündet sich mit dem Chemiestaub: Die Seele sinkt zu Boden und ergraut.
© Angela Nowicki, 2002
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