Freitag, 15. Juli 2011

Ostreise, Teil 2

Ostreise, Teil 1

Kaum haben wir Cottbus in Richtung Frankfurt/Oder verlassen, zerstiebt der Zauber in ein paar glitzernde Staubkörnchen, es bleibt die Tristesse der Sandigen Kiefernwälder. Ein letztes Mal blinzelt Cottbus uns scherzhaft nach, als in einem jener namenlosen Städtchen ein Tiefkühlkostwagen unseren Weg kreuzt: die "Frostkutsche". "Der Frottbuser Frostkutscher", murmele ich (der den Frottbuser Frostkutschkasten blank putzt). Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht doch der Frotsdamer Frostkutscher war.

Als der Hunger unsere Hoffnung, doch noch der Kaufhalle mit dem leckeren Kaffee zu begegnen, an die sich die Hälfte von uns von einer der letzten Fahrten erinnert, überragt... Als der Hunger unsere Hoffnung überragt, lassen wir uns von einem Edeka-Laden verführen, denn dort gibt's immer einen Backwarenstand mit Kaffee. Wir bestellen Bulette mit Brötchen zum Kaffee. Die Bulette braucht mehr Zeit in der Mikrowelle als unser Kaffee zum Abkühlen. Vor uns die blau-gelbe Kaufhalle hinter drei besetzten Kassen. Träge beobachte ich die Menschen beim Gehen und Kommen und höre sie mürrisch miteinander sächseln, so vertraut die zerzausten Frisuren, die leicht eingesunkenen Gestalten, die allesamt irgendwie klein wirken, verhuscht, die verlebten Gesichter, die angegrauten Karohemden und Lederjacken, bin ich zu Hause? Nein, ich bin in Brandenburg, gar nicht weit von Berlin, und wenn ich genauer hinhöre, höre ich das auch: Sie sächseln ja gar nicht; hier ist wenigstens die Sprache fast sauber. Jetzt sehen die Menschen anders aus. Ja, sie sind noch klein und grau und knittrig, aber die hier wirken so gar nicht phlegmatisch, betulich und urprotestantisch durchtränkt. Sie bewegen sich doch rascher, sie sind frech und offen, sie machen einen sehr cleveren und viel jugendlicheren Eindruck. Die Kaufhalle hat sich nicht verändert. Die Menschen haben sich nicht verändert, kein bisschen, sie sehen noch genauso aus wie vor zwei Minuten. Ich habe sie nur sprechen hören. Von wie viel Vorurteilen lebt Sensitivität?
Unsere Bulette kommt. Mit Brötchen. Das, was da vor uns auf dem Teller liegt neben einer Alutube Spreewälder Senf, sieht... nun ja... interessant aus - aber eine Bulette ist das bestimmt nicht. Es hat die Form einer zusammengedrückten Walnuss und ist auch nicht viel größer. Weniger interessant die Farbe: "Es" ist grau, und wenn man es durchschneidet, ist es immer noch grau und erinnert in seiner Konsistenz an gemahlenes Klopapier. Der Geschmack gibt mir Recht. Aber das Brötchen ist eine Erleuchtung. Endlich weiß ich, was "Wessi-Brötchen" sind! Ich habe mich in den vergangenen dreizehn Jahren immer gewundert, wieso fast der komplette Osten einen derart hitzigen verbalen Kreuzzug gegen West-Brötchen, besser bekannt als "Wattebrötchen" oder "Luftsemmeln", führt. Ich hatte keine Ahnung, was die meinten, unterstellte ihnen insgeheim geopolitische Voreingenommenheit. Jetzt beiße ich gerade in mein erstes Wattebrötchen. Der Inhalt löst sich umgehend in Luft auf, und die Kruste krümelt fast vollständig auf den Teller zurück. Es ist sehr schnell gegangen, ich habe kaum etwas gemerkt - außer dass mein Mund trocken geworden ist. Der Kaffee wenigstens ist nass und heiß, das muss man ihm zugute halten. Ansonsten beleidigt er selbst den berühmten sächsischen "Bliemchenkaffee", der so heißt, weil er mühelos die Betrachtung des Blümchenmusters am Tassengrund ermöglicht. Beim Genuss, dem einzigen, der nächsten Zigarette auf dem Parkplatz, haben wir für einen Moment die Vision "Ein Brandenburger kommt nach Chemnitz und bestellt an einem beliebigen Imbissstand eine Bulette mit Brötchen". Eine dicke handtellergroße Bulette aus echtem Fleisch und ein knuspriges, weich gefülltes Brötchen, noch nicht mal das beste vom Bäcker. Der würde sich überfressen! Gut, solch gefärbtes Wasser haben wir auch schon zu Hause getrunken, das kommt vor. Beim nächsten Mal holen wir die Thermosflasche wieder aus dem Schrank.

Von Frankfurt nach Küstrin verläuft die Bundesstraße entlang der Oder. Einige Male sehen wir sie aufblitzen oder eher aufscheinen, denn die Oderarme sind teilweise gefroren und mit Schnee bedeckt. Unter der Küstriner Grenzbrücke treiben Schwärme kleiner Eisschollen; von Weitem sieht der Fluss wie aufgeschäumt aus. Am Grenzübergang vor uns ein polnischer Kleintransporter. Auf dem rechten Flügel der Hecktür zieht ein stühlchenkippelndes Strichmännchen unsere Aufmerksamkeit auf sich, daneben ein paar Krakel: "8 Personen". Kurz darauf muss der Chauffeur der Zöllnerin diese Tür öffnen. Hinter einem Stapel aus Taschen, Koffern und Päckchen reckt sich der Oberkörper einer verführerischen jungen Frau. Volle, rot lackierte Lippen lachen unter einem Wust kupferfarbenen Haars hervor, die kajalunterstrichenen Augen blitzen schelmisch. Nicht lange darauf taucht neben ihr der zweite Frauentorso auf, nicht weniger jung und attraktiv. Das ganze Bild - offene Hecktür, Gepäckstapel und Frauen - wirkt sonderbar zweidimensional, der Stauraum des Transporters scheint keine Tiefe zu haben, wie ein lebendes Gemälde eines sehr wörtlichen Bordells auf Rädern ("burdel na kółkach" - deftige polnische Umschreibung für ein fürchterliches Durcheinander oder "Tohuwabohu"). Die Zöllnerin schaut und redet, der Chauffeur gestikuliert, die beiden Frauen lachen. Nach etwa einer Minute ist der Spuk vorbei, der Transporter startet und fährt ein paar Meter weiter rechts ran. Nein, er wird nicht gefilzt, er hält nur an, wahrscheinlich, damit der Fahrer die Papiere wieder wegpacken kann. Wir werden durchgewinkt. Als wir am Transporter vorbeifahren, sehen wir eine andere Realität: Das Fahrzeug hat zwar tatsächlich einen sehr kleinen Stauraum im Heck, aber nur, weil es mit drei Sitzreihen ausgestattet ist und - ja - voll besetzt mit den rückseits deklarierten acht Personen, die durchaus nicht alle jung und verführerisch und weiblich sind. Augenscheinlich ein Werkstransport, es ist früher Donnerstag Nachmittag, die Arbeiterinnen und Arbeiter kehren von der Schicht westseits der Oder heim.

Ostreise, Teil 3

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