Freitag, 22. Juli 2011

Glorias Tod

Ehemaligentreffen. Abend. Man hat zu trinken begonnen, unterhält sich und badet im Meer. Geradeaus erstreckt sich eine breite Bucht, links geht es ins offene Meer, das zunächst eine sehr große, hufeisenförmige Bucht bildet, bevor die Ufer verschwinden.

Neila liegt mit Gloria in der Bucht, sie unterhalten sich und trinken Tequila. Da hat Neila eine Erleuchtung: Sie läuft einen Weg entlang und will nichts anderes als heilen, und auf einmal strecken sich alle Arme nach ihr aus, und alles erstrahlt in einem weißen Licht.
Beseelt wendet sie sich an Gloria: "Weißt du, was das große Geheimnis ist? Wenn du heilen willst, wirst du heilen!"
Gloria sieht sie entgeistert an. Sie versteht natürlich nicht, denn ein mystisches Erlebnis, eine höchste Erkenntnis kann man nicht in Worten ausdrücken. Trotzdem fühlt sich Neila sehr wohl mit Gloria, sie ist angenehm, irgendwie menschlich und mitfühlend.

Sie unterhalten sich noch etwas, dann will Gloria schlafen gehen. Neila möchte noch bleiben, sie will endlich einmal wieder eine ganze Nacht genießen und trinken. Gloria ist schon betrunkener als sie, und sie schwimmt in die hufeisenförmige Bucht, ins Meer hinaus, hinüber zu dem Felsen, wo Sybille liegt. Sybille ist groß und walzenförmig, liegt unter Wasser und schläft. Dorthin schwimmt Gloria, um sich auf sie zu legen.

Neila steht auf und geht hinüber zum schwarzen Felsen zu Willy, die dort schon seit längerer Zeit allein sitzt.
Auf einmal sagt Willy: "Jetzt ist sie tot. Es hat ihr den Kopf abgeschnitten!"
Gloria. Gloria hat es bei Sybille den Kopf abgeschnitten. Sie ist tot. Neila findet das zwar schrecklich, aber es dringt nicht ganz zu ihr durch, sie ist ja auch ziemlich betrunken. Sie ruft Raul. Sie erzählt ihm, wie sie sich mit Gloria gerade noch über ihre Erleuchtung unterhalten hat, und er tröstet sie.

Neila geht zurück ins Haus, um sich schlafen zu legen. Sie muss die Stube durchqueren, um ins Arbeitszimmer zu gelangen, ein altmodisch eingerichtetes, chaotisches Zimmer, wie einer Hexenvilla entnommen. Dort steht unter anderen ihr Bett.
Doch sie kommt nicht dazu, sich hinzulegen, denn alle sind in Aufruhr. Gloria ist tot! Es hat ihr den Kopf abgeschnitten. Langsam dringt das Entsetzen auch zu Neila durch.

In der Stube packt Willy ihre Sachen. "Was machst du da?" fragt Neila. Willy würgt tränenerstickt hervor: "Was glaubst du denn?! Ich fahre nach Hause! Meinst du, ich kann noch eine Stunde länger hier bleiben? Gloria ist tot! Es hat ihr den Kopf abgeschnitten! Alles ist zu Ende!"
Neila denkt daran, dass Gloria eigentlich immer Willys engste Freundin war. Sie versteht sie. Nach und nach schließen sich auch die anderen Willy an. Alle sind fix und fertig und weinen und geben Willy Recht, so dass Neila sich langsam fragt, ob sie das volle Ausmaß des Grauens etwa bis jetzt noch gar nicht wahrgenommen habe. Allmählich wird sie nüchtern (und wundert sich, dass sie nach dem vielen Tequila kaum einen Kater hat), und ihr wird kalt. Was, bitte, ist hier passiert?
Abreisen will sie nicht. Sie fragt die anderen, ob sie nicht die Polizei benachrichtigen müssten. Die sehen sie konsterniert an und nicken. Daran hatten sie noch gar nicht gedacht. "Ja, natürlich müssen wir die Polizei holen", sagen sie und sehen Neila an.
"Was seht ihr mich an? Ist das euer Mitgefühl, dass ihr euch jetzt aus dem Staub macht und mich die Sache allein regeln lasst?"

Die Polizei ist benachrichtigt. Der Rettungstrupp macht sich auf die Suche. Jemand sagt, sie sollten mal die anderen fragen, die auch in der Gegend waren. Die meisten hätten den Kopf später an allen vier Ecken des Meeres auftauchen sehen.
Neila bekommt keine Luft. Mit einem Satz hat das Grauen sie unter sich begraben. Es hat ihr den Kopf abgeschnitten! WER oder WAS hat ihr den Kopf abgeschnitten? Wieder und wieder versucht sie, sich vorzustellen, was da passiert sein könnte, aber sie kann es sich einfach nicht vorstellen. Die Walze Sybille war doch nicht scharf oder spitz! Den anderen scheint die Frage gar nicht in den Sinn zu kommen. Und dann die Vorstellung, dass da ein abgeschnittener Kopf im Meer schwimmt und ein kopfloser Körper dazu! Einige wollen zum Meer runtergehen, aber Neila wehrt sich mit Händen und Füßen. Allein die Vorstellung, den Kopf zu sehen, wenn sie ihn finden und hochholen, treibt sie in den Wahnsinn. Sie fragt sich, wie Glorias Kinder davon erfahren sollen, es ist so unglaublich: Sie fährt auf ein Ehemaligentreffen und kommt nicht zurück! Ihr Kopf ist abgeschnitten!

Als schließlich doch alle am Meer anlangen, haben die Rettungstrupps es mit schwarzem Flor verhängt. Neila findet das sehr rücksichtsvoll. Da sitzt sie neben Irma, Willy und den anderen am Ufer der Bucht, das schwarz verhängte Meer zur Rechten, und hinter dem Vorhang suchen die Rettungstrupps nach Glorias Kopf und Körper.

Dann hören sie es. Sie haben ihn gefunden. Ein Fluchtreflex treibt Neila hoch, weil sie sich vorstellt, wie sie gleich mit Glorias abgeschnittenem Kopf vor ihnen vorbeilaufen werden. Doch nichts dergleichen.

Die Rettungstrupps treten durch den schwarzen Vorhang mit einem wunderschön aufgebahrten, verzierten Holzsarg, in dem Glorias Überreste liegen. Der Sarg ist verschlossen, und sie tragen ihn ganz langsam in einem Trauerzug vor allen Ehemaligen entlang. Sie singen. Es ist ein Trauerlied, das klagt, dass hier ein erfülltes Leben vorbei ist.

Neila weint.

© Angela Nowicki, 30. März 2010

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