Dienstag, 30. Juli 2013

Sichtachsen

Tagebucheintrag vom 12. und 15. Mai 2012

Und dann hatte ich im Bade noch eine Erleuchtung, eine emotionale wieder, wie sie sich in letzter Zeit auffällig häufen: Ich hatte mich bis dahin heute erst mal nur mit meiner Venussequenz beschäftigt. Daraus ging hervor, dass es schon immer meine Abwehrstrategie gewesen sein muss, keine Schwäche preiszugeben, nach dem Motto: „Mich verletzt hier keiner!‟ Äußerlich stimmt das ja, aber spätestens seit meiner Tramperzeit war diese Maske nicht mehr zu halten, da hatte ich regelmäßige Zusammenbrüche vor anderen, die mir natürlich unvorstellbar peinlich waren.
Und warum? Woher kam diese Persönlichkeitsänderung? Von der Scheidung! Wenn meine Eltern sich nicht hätten scheiden lassen (oder früher! oder später!), wäre ich womöglich für den Rest meines Lebens in diesen Vermeidungsmustern stecken geblieben und hätte es nicht mal gemerkt.
Und was heißt das? Die Scheidung meiner Eltern war ein Segen für mich!
Und was war mit meinem Alkoholismus? Der hatte noch einen anderen Zweck als das, was ich bisher - völlig zu Recht - als richtig erkannt hatte: Es waren auch Ausbrüche aus dieser Vermeidungshaltung. Dieser ständigen Stärkestellung - wie nennt Döbereiner Sonne-Saturn? „Ständig in Willenshaltung und unter Absicht‟ - jawoll! Mir die Rübe vollzuknallen, war meine einzige Möglichkeit, meine innere Schwäche auszuleben, die in mir wütete wie Ägyptens Plagen. Wenn ich nicht gesoffen hätte, wäre ich vielleicht versteinert.
Und was heißt das nun wieder? Mein Alkoholismus war ein Segen für mich!

Die größte Scheiße in meinem Leben war in Wirklichkeit der größte Segen für mich!

Und das war mal keine intellektuelle Erkenntnis, sondern ein emotionales Begreifen.

***

Heute taucht plötzlich wieder das Gefühl auf, dass mein Traum, den ich jetzt endlich (wieder)gefunden zu haben glaubte, doch nicht das Gelbe vom Ei ist. Dass ich eigentlich im Innersten immer von ganz materiellem Glück geträumt habe: ein schöner Wohnort, eine schöne Wohnung, gutes Aussehen, bunte Klamotten und vor allem - viele Freunde, viele Abenteuer, viele Reisen und emotionale Erlebnisse. Ich komme an diese Vision aber nicht ran. Ich weiß nicht, ob das nur ein Loch ist, das erst mal aufgefüllt werden muss, um dann den eigentlichen Traum hervorzubringen, oder ob es der Traum ist... Weil ich so vieles nicht wissen kann: wie die Freunde beschaffen sein müssten, unter denen ich mich wirklich glücklich fühle, ob ich denn dauernde Reisen überhaupt aushalten würde, wieso ich mich dann seit Jahren so konsequent zurückziehe, weil Kontakte mich schlauchen, und noch so vieles mehr...
Am Ende läuft doch wieder alles darauf hinaus, dass ich eh nichts anderes machen kann, als ich mache, dass sich also an meinem äußeren Leben durch solche Überlegungen kein Deut ändern wird, denn den Wohnort habe ich ja nun schon fest anvisiert.
Aber abends öffnete sich mir eine weitere Sichtachse: dass ich während meiner ganzen Kindheit verpuppt war und diese Verpuppung mit der Scheidung aufgebrochen ist. Was bedeutet, dass ich in meinen paar wilden Jugendjahren tatsächlich das erste und einzige Mal „ich‟ war, aber es war ein Ich im Larvenstadium, ein diffuses, unbekanntes, völlig chaotisches Ich. Dann fiel wieder der Vorhang, über zwanzig Jahre lang. Seit der Jahrtausendwende bin ich zum zweiten Mal auf dem Weg zu mir, dieses Mal aber ganz anders. Nicht so radikal von allen äußeren Fesseln befreit wie damals, wo ich denn ja auch sofort jeglichen Halt verlor. Dieses Mal mit Halt, in einem komplexen Krückengerüst, daher abgesichert, daher aber auch mühseliger...
Verrücktes Leben.

© Angela Nowicki, 30. Juli 2013

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