Freitag, 12. August 2011

Ein Stabschlüssel Nr. 1 mit Flügel

Neila war für mehrere Tage als Schlafgast bei einer jungen Familie mit drei Kindern einquartiert, damit sie an der örtlichen Lehranstalt ihr Abitur machen konnte. Die Frau ging den ganzen Tag arbeiten, der Mann normalerweise auch, aber an manchen Tagen blieb er zu Hause und verbrachte den halben Tag im Bett. Das Ehebett stand direkt neben Neilas, und wenn der Mann zu Hause blieb, rief er sie in sein Bett und kuschelte mit ihr. Neila fand das wunderbar prickelnd, gerade weil niemand etwas davon wissen durfte. Allerdings versteckten sie sich auch nicht, denn die Kinder waren die ganze Zeit anwesend, schienen aber nichts mitzubekommen von dem harmlosen kleinen Abenteuer zwischen ihrem Vater und dem Gast. Neila bekam mit der Zeit den Eindruck, dass in dieser Familie alles durch großzügiges Wegsehen toleriert wurde.

Eines Tages hatte sie den Wohnungsschlüssel, den man ihr geliehen hatte, verloren. Wenn sie nach Hause kam, musste sie ihn immer abgeben, denn die Frau brauchte ihn, wenn sie zur Arbeit fuhr. Dieses Mal aber war ihre Handtasche leer. Obwohl niemand großes Aufsehen um das Malheur machte, war Neila am Boden zerstört. Sie lief sofort in die Stadt, um den Schlüssel nacharbeiten zu lassen. Im Kaufhaus gab es einen Schlüsseldienst, allerdings hatte Neila keinen Schlüssel als Muster. Sie erinnerte sich jedoch, dass der Mann einmal gesagt hatte, sie hätten einen Schlüssel mit Flügel.
Ihrer Sache sicher, gab sie den Schlüssel bei einer älteren Verkäuferin in Auftrag: "Ein Stabschlüssel Nr. 1 mit Flügel."
"Quer?"
"Ja, quer."
Die Verkäuferin wusste sofort Bescheid und ließ den Schlüssel anfertigen.
Erleichtert machte Neila sich auf den Rückweg, wo sie trotzdem unterwegs überall nach dem Originalschlüssel suchte, den sie jedoch nicht fand. Sie hatte es sehr eilig, denn sie wusste, dass ihre Gasteltern an diesem Tag beide zur Arbeit mussten. Wenn sie zu spät ankäme, käme sie nicht mehr in die Wohnung hinein, und sie musste schließlich zur Schule.

Unterwegs besuchte sie ihren Ruderclub, wo am selben Tag noch ein Wettkampf stattfinden sollte. Ihre Sportkameraden begrüßten sie und trainierten weiter, jeder in seiner Kabine. Auch Neila begann zu trainieren, denn der Wettkampf sollte gleich beginnen. Sie war hin und her gerissen. Der Wettkampf war wichtig, ihr Club verließ sich auf sie, doch sie musste auch schnellstens nach Hause. Wahrscheinlich war sie schon längst zu spät dran, und sie waren schon weg. Dann hätten sie keinen Schlüssel, und sie käme nicht rein und könnte nicht in die Schule gehen - was sollte sie dann den ganzen Tag lang tun?
Als die Trainerin kam, um Neila zu begrüßen und ihr letzte Anweisungen zu geben, sagte sie, sie komme gleich wieder, sie müsse nur dringend noch einen Schlüssel nach Hause bringen. Die Trainerin war nicht sehr erfreut, nahm ihr aber das Versprechen ab, umgehend wiederzukommen, denn der Wettkampf fing gleich an.

Zu Hause stand die Wohnungstür offen. Die drei Kinder spielten, der Mann lag im Bett. Neila war sehr erleichtert, dass er heute offensichtlich doch nicht arbeiten ging oder wenigstens später. Sie fragte ihn, wie sie seiner Frau jetzt den Schlüssel zukommen lassen könne, aber er meinte, das sei alles nicht so wichtig: "Leg dich ruhig noch mal ins Bett, wir kuscheln ein bisschen." Nichts lieber als das. Neila vergaß den Ruderwettkampf. Sie dachte: ‚Ach was, du musst ja nicht alles mitmachen, die werden schon klarkommen.‘

Irgendwann klingelte das Telefon an der Wand. Neila ging ran. Es meldete sich ihre Rudertrainerin. Noch bevor die etwas sagen konnte, rief Neila eilfertig, sie sei schon auf dem Weg. Die Trainerin stutzte und entgegnete giftig, sie habe eigentlich gar nicht Neila anrufen wollen, sondern den Mann, aber offensichtlich habe der schon eine neue Kuschelpartnerin gefunden, viel Spaß!
Neila hängte ein und erzählte dem Mann davon. Auch ihm war die Situation etwas unangenehm, aber er stand zu ihr. Sie hatten nur beide jetzt das Problem, dass jemand von ihrem Verhältnis wusste und seine Frau offiziell davon erfahren konnte. Die Rudertrainerin schien ihm eher lästig zu sein.

Nun war der Tag vollends durcheinander. Neila war weder beim Wettkampf gewesen noch in der Schule, und ins Bett kam sie auch nicht mehr, weil ständig etwas anderes zu tun war: Die Kinder mussten versorgt werden, die Frau kam nach Hause. Neila kümmerte sich um die Tochter. Alle drei Kinder waren Tiere, die Tochter war ein Pferd. Sie sprach ganz vernünftig mit Neila und ließ sich gern von ihr versorgen.

Am Abend teilten ihr die Eltern plötzlich mit, sie müsse ausziehen. Im ersten Schreck glaubte sie, ihr Kuschelverhältnis sei aufgeflogen, doch dann hörte sie, ihre Zeit in der Gastfamilie sei offiziell abgelaufen. Neila war wie vor den Kopf geschlagen, da sie nun nicht wusste, wo sie die letzte Nacht vor dem Abitur verbringen sollte. Es war Donnerstag, und am Freitag fand die Abiturprüfung statt. Doch dann zeigte ihr der Mann ein leeres Zimmer im gleichen Flur des Hauses, und da fiel ihr auch wieder ein, dass das alles von Anfang an genauso vereinbart gewesen war. Die letzte Nacht sollte sie allein in einem Internatszimmer verbringen.

Als sie sich von der Familie verabschiedete, fiel ihr der Schlüssel wieder ein. Schnell holte sie ihn aus der Tasche und übergab ihn der Frau.
"Hier, bitte, alles wieder in Ordnung: ein Stabschlüssel Nr. 1 mit Flügel."
"Quer?"
"Ja, quer."

© Angela Nowicki, 19. August 2010

2 Kommentare:

Herbert hat gesagt…

Das sind ja seltsame Träume - "prickelnde" Abiturientin als Kuschelpartnerin eines die halben Tage im Bett verbringenden älteren Herren. Aber literarisch gut gemacht. Übrigens, ist das dieselbe Neila, die dann nach Polen trampte?

magaluisa hat gesagt…

Danke für das literarische Kompliment!
Na ja... irgendwie heißen sie bei mir noch alle Neila, anagrammierte Aliens, ich denke, das ist ein Prozess, der wohl schon was mit (Selbst)Erkenntnis zu tun hat nach dem Motto: erkannt - benannt. Das geht tiefer als ich dachte, mal sehen, wohin es führt.