Ich stehe auf der Schwelle und denke nach. Ich bin verzweifelt. Warum bin ich hierher gekommen? Was hat mich durch dieses Tor getrieben? Man betritt nicht ungestraft schwarze Orte. Ein lüsterner Blick des fetten Popanz streift mich. Ein irrwitziger Gedanke hakt sich in mir fest: Was, wenn es mir gelänge, den Fettwanst zu verführen, damit er mich zu seiner Lieblingsmätresse erhebt? Dann könnte ich ihn in einem Augenblick des Rausches bitten, mir für ein Stündchen das Tor zu öffnen... Als ich jedoch direkt in seine gierigen Schweinsäuglein starre, weiß ich, wie naiv und dumm diese Idee ist. Der da wird niemals jemanden auch nur eine Minute aus den Augen lassen. Schon gar nicht seine Lieblingsmätresse. Er hebt die Hand – der Saal verstummt. Er starrt mir mitten ins Gesicht und öffnet seinen Mund, und ich renne besinnungslos aus dem Saal.
Draußen irre ich wie gehetzt durch die dunklen, labyrinthartigen Flure. Plötzlich entdecke ich ein schwaches Leuchten, das durch die Ritzen einer der schweren Eichentüren dringt. Ich trete näher. Ich rieche etwas. Es sind seltsame, wehmütig vertraute Düfte – nach regennassem Gras, nach Kastanien im Herbst, nach dem Brackwasser der Tümpel am Fluss, nach reifem Weizenfeld... Sie durchweben und durchdringen sich, und ich spüre ihnen gebannt nach, folge der Duftspur - und stehe mit einem Mal in einem großen Gewölbe. Es ist fensterlos und ringsum vollgestellt mit den sonderbarsten Gerätschaften. Es sieht fast aus wie in der Werkstatt eines Alchimisten: In den hohen Regalen verstauben ungezählte Folianten, auf den großen Tischen stapeln sich Kästen mit Pflanzen, Steinen und Spinnen und Schlangen, überall flackern Kerzen und tauchen den ganzen Raum in ein gespenstisches, lebendes Licht. Vor einem der Tische, mit dem Rücken zu mir, steht eine hochgewachsene Frau. Sie scheint steinalt zu sein. Ihr schwarzgraues Haar hat sie zu einem festen Knoten gebunden, und ihr hagerer Körper steckt in einem langen, braunen, grobleinenen Gewand, einer Art Kittel oder Kutte. Sie wendet sich nicht zu mir um, scheint in ihre Arbeit vertieft.
"Was suchst du?" fragt sie, unverwandt weiter arbeitend.
Noch bevor ich meinen Mund öffnen kann, fügt sie hinzu: "Ich weiß, was du suchst."
Ihre Stimme klingt voller und kräftiger, als ich es von einer alten Frau erwartet hätte, aber auch leidenschaftslos und etwas streng. Oder eher unerbittlich. Sie fragt nicht, sie stellt fest.
Ich schnappe nach ihrer Stimme wie nach einem Rettungsanker: "Wo ist er?"
"Was?"
"Der Fluchtweg!"
"Wovor willst du fliehen?"
'Vor mir selbst', schießt es mir unverständlicherweise durch den Kopf.
Die Alte nickt kaum wahrnehmbar.
"Ich will hier raus, ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin, ich gehöre hier nicht hin, ich weiß nicht, was ich hier tue, ich muss hier weg!" Meine Worte überschlagen sich.
Die Alte schweigt. Nach einer langen, bleiernen Weile sagt sie: "Ich nehme an, niemand hat dich gezwungen, das Tor zu durchschreiten?" Auch dies ist keine Frage.
"Nein, aber... ich wusste doch nicht..."
Endlich hält sie inne und wendet sich um. Sie ist wirklich sehr alt. Älter als jede Frau, die ich je sah. Ihr Gesicht mit der großen Habichtsnase sieht aus wie von allen Wettern gegerbtes Leder, ihr stechender Blick durchbohrt mich, ich fühle mich an die Wand genagelt wie ihre aufgespießten Insekten. Sie mustert mich: meine zappelnden Beinchen, meine zitternden Fühler, meine zerrissenen Flügel.
"Wo du bist, gehörst du hin. Fluchtwege sind Kreiswege, wusstest du das auch nicht?"
"Nein!" schreie ich und erschrecke vor meiner eigenen Stimme. "Das ist ein Irrtum, ein Riesenirrtum sogar, hören Sie? Das ist nicht mein Leben! Wo ich herkomme, ist Licht, da sind Farben, die Luft ist sauber, und die Bäche sind klar! Dort gibt es weder Sklaven noch Herren, und niemand käme auf die Idee, einen Menschen besitzen zu wollen!"
"Was ist der Unterschied?"
"Der... der UNTERSCHIED?!!" Ich schnappe nach Luft, glaube, wahnsinnig werden zu müssen.
"Ja. Der Unterschied. Du bist dort, und du bist hier. Du suchst die Freiheit?"
"Ja!!!" entfährt es mir.
Ihr Blick ist mitleidlos wie der eines Menschen, der alles gesehen hat, aber nicht kalt. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln flackert durch die tausend Fältchen um ihren Mund. Sie zieht ihren Blick mit einem Ruck zurück, und ich plumpse unsanft zu Boden. Bereits wieder ihrer Arbeit zugewandt, wirft sie mir zu: "Finde sie."
Kein bisschen klüger oder auch nur beruhigter laufe ich durch die finsteren Gänge auf den Hof zurück und achte ängstlich darauf, nicht noch einmal in die Nähe des Thronsaals zu kommen. "Lieber tot als Sklave!" hallt es mir durch den Kopf, wieder und wieder, eine gesprungene Platte, und ich finde den Stecker nicht: "Lieber tot als Sklave!" Erschöpft lasse ich mich in einer abgelegenen Ecke des Hofes auf den Boden fallen, lehne mich an die Mauer. Milliarden Rußpartikel setzen sich auf meiner Haut fest, verstopfen meine Poren, Ohren und Nase. Ich weiß: Wenn ich lange genug hier sitzen bleibe, wird der Ruß bis in mein Herz vordringen. Dann ist alles zu spät.
Draußen irre ich wie gehetzt durch die dunklen, labyrinthartigen Flure. Plötzlich entdecke ich ein schwaches Leuchten, das durch die Ritzen einer der schweren Eichentüren dringt. Ich trete näher. Ich rieche etwas. Es sind seltsame, wehmütig vertraute Düfte – nach regennassem Gras, nach Kastanien im Herbst, nach dem Brackwasser der Tümpel am Fluss, nach reifem Weizenfeld... Sie durchweben und durchdringen sich, und ich spüre ihnen gebannt nach, folge der Duftspur - und stehe mit einem Mal in einem großen Gewölbe. Es ist fensterlos und ringsum vollgestellt mit den sonderbarsten Gerätschaften. Es sieht fast aus wie in der Werkstatt eines Alchimisten: In den hohen Regalen verstauben ungezählte Folianten, auf den großen Tischen stapeln sich Kästen mit Pflanzen, Steinen und Spinnen und Schlangen, überall flackern Kerzen und tauchen den ganzen Raum in ein gespenstisches, lebendes Licht. Vor einem der Tische, mit dem Rücken zu mir, steht eine hochgewachsene Frau. Sie scheint steinalt zu sein. Ihr schwarzgraues Haar hat sie zu einem festen Knoten gebunden, und ihr hagerer Körper steckt in einem langen, braunen, grobleinenen Gewand, einer Art Kittel oder Kutte. Sie wendet sich nicht zu mir um, scheint in ihre Arbeit vertieft.
"Was suchst du?" fragt sie, unverwandt weiter arbeitend.
Noch bevor ich meinen Mund öffnen kann, fügt sie hinzu: "Ich weiß, was du suchst."
Ihre Stimme klingt voller und kräftiger, als ich es von einer alten Frau erwartet hätte, aber auch leidenschaftslos und etwas streng. Oder eher unerbittlich. Sie fragt nicht, sie stellt fest.
Ich schnappe nach ihrer Stimme wie nach einem Rettungsanker: "Wo ist er?"
"Was?"
"Der Fluchtweg!"
"Wovor willst du fliehen?"
'Vor mir selbst', schießt es mir unverständlicherweise durch den Kopf.
Die Alte nickt kaum wahrnehmbar.
"Ich will hier raus, ich weiß nicht, wie ich hierher gekommen bin, ich gehöre hier nicht hin, ich weiß nicht, was ich hier tue, ich muss hier weg!" Meine Worte überschlagen sich.
Die Alte schweigt. Nach einer langen, bleiernen Weile sagt sie: "Ich nehme an, niemand hat dich gezwungen, das Tor zu durchschreiten?" Auch dies ist keine Frage.
"Nein, aber... ich wusste doch nicht..."
Endlich hält sie inne und wendet sich um. Sie ist wirklich sehr alt. Älter als jede Frau, die ich je sah. Ihr Gesicht mit der großen Habichtsnase sieht aus wie von allen Wettern gegerbtes Leder, ihr stechender Blick durchbohrt mich, ich fühle mich an die Wand genagelt wie ihre aufgespießten Insekten. Sie mustert mich: meine zappelnden Beinchen, meine zitternden Fühler, meine zerrissenen Flügel.
"Wo du bist, gehörst du hin. Fluchtwege sind Kreiswege, wusstest du das auch nicht?"
"Nein!" schreie ich und erschrecke vor meiner eigenen Stimme. "Das ist ein Irrtum, ein Riesenirrtum sogar, hören Sie? Das ist nicht mein Leben! Wo ich herkomme, ist Licht, da sind Farben, die Luft ist sauber, und die Bäche sind klar! Dort gibt es weder Sklaven noch Herren, und niemand käme auf die Idee, einen Menschen besitzen zu wollen!"
"Was ist der Unterschied?"
"Der... der UNTERSCHIED?!!" Ich schnappe nach Luft, glaube, wahnsinnig werden zu müssen.
"Ja. Der Unterschied. Du bist dort, und du bist hier. Du suchst die Freiheit?"
"Ja!!!" entfährt es mir.
Ihr Blick ist mitleidlos wie der eines Menschen, der alles gesehen hat, aber nicht kalt. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln flackert durch die tausend Fältchen um ihren Mund. Sie zieht ihren Blick mit einem Ruck zurück, und ich plumpse unsanft zu Boden. Bereits wieder ihrer Arbeit zugewandt, wirft sie mir zu: "Finde sie."
Kein bisschen klüger oder auch nur beruhigter laufe ich durch die finsteren Gänge auf den Hof zurück und achte ängstlich darauf, nicht noch einmal in die Nähe des Thronsaals zu kommen. "Lieber tot als Sklave!" hallt es mir durch den Kopf, wieder und wieder, eine gesprungene Platte, und ich finde den Stecker nicht: "Lieber tot als Sklave!" Erschöpft lasse ich mich in einer abgelegenen Ecke des Hofes auf den Boden fallen, lehne mich an die Mauer. Milliarden Rußpartikel setzen sich auf meiner Haut fest, verstopfen meine Poren, Ohren und Nase. Ich weiß: Wenn ich lange genug hier sitzen bleibe, wird der Ruß bis in mein Herz vordringen. Dann ist alles zu spät.
© Angela Nowicki, September 2007
2 Kommentare:
Hallo Angela,
ich bin über Umwege auf Dein Blog aufmerksam geworden. Deine Bilder sind großartig! Ich werde gerne öfter hierher kommen, um zu schauen und zu lesen.
Liebe Grüße, Silke
Hallo Silke,
auch wenn es lange gedauert hat mit der Antwort - ich habe mich ungeheuer über deinen Kommentar gefreut! Der ging runter wie Öl, und ich freue mich natürlich ganz besonders, dass du jetzt öfter herkommen magst.
Und wenn ich manchmal längere Pausen mache - irgendwann schreibe ich wieder, irgendwann läuft es wieder.
Liebe Grüße, Angela
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