Sonntag, 26. Juni 2011

Working Class Hero

DDR-Literatur ist vielleicht keine so gute Idee. Die Reimann hat mir zwar schon ein gutes Feeling gegeben, aber nur fürs Schreiben. Gar kein gutes jedoch in Bezug auf die DDR, das war ganz furchtbar! Diese "erleuchteten" Arbeiter, mein Gott, die hat es doch unter Garantie nie gegeben! Ein Brigadeleiter im "Kombinat", der Modigliani überm Bett hängen hat – ja, das waren ihre idealistischen Kopfgeburten! Die DDR-Künstler kannten "den Arbeiter" offenbar schlechter als die Kapitalisten, die wissen, was der will: Brot und Spiele.

Brigitte Reimann, Die GeschwisterAm nächsten Morgen, in der Kaffeestube, fragte mich Ohm Heiners, wie mir sein Bild gefalle, und er fragte in einem Ton, der mir verriet, was er zu hören wünschte.
Ich zögerte, ich fürchtete, ihn zu verletzen. Ich empfand für ihn die Achtung, mit der wir Jungen einem alten Genossen begegnen, ich dachte: Aber er ist dreißig Jahre älter als ich, er ist empfindlich. Ich brauchte jetzt nur zu nicken, er würde sich zufriedengeben, ich hätte meine Ruhe.
Endlich sagte ich, und ich verwünschte meine Feigheit, mit der ich mich hinter den anderen verkroch: "Meine Brigade war nicht begeistert."
Heiners lachte gutmütig, er sagte: "Nichts gegen deine Brigade. Sie mögen als Schlosser ganz tüchtig sein, aber auf ihre Kunstkritik sollte man sich denn doch nicht berufen. Leute, die im Schlafzimmer ihren Elfenreigen haben und in der guten Stube das Alpenglühen, Öl auf echt Leinen..."
Er legte den Kopf zurück, und sein Kinn wölbte sich vor, und das kühle, weiße Morgenlicht überströmte sein Gesicht, das noch einen Abglanz des gutmütigen Lachens festhielt, wie ein unaufgeräumtes Zimmer, in dem ein bunter Ball liegen geblieben ist.
Auf einmal merkte ich, dass gerade dieses Lachen mich befremdete und gegen ihn aufbrachte, ich dachte: Ihr Urteil hat nicht mehr Gewicht als ein Windstoß. Er hat sich so weit von ihnen entfernt, dass er sie nicht einmal verachtet. Ich sagte: "Lukas liebt Botticelli und Raffael, und bei meinem Meister hängen vier Modiglianis überm Bett."
...
Ich sagte: "Dein Bild ist schlecht, Heiners."
Sein Gesicht veränderte sich, als habe es sich mit einer trüben Eisschicht überzogen, und ich begriff, dass ich jetzt noch, in dieser Minute, über Frieden oder Unruhe in der nächsten Zeit entscheiden konnte, und mir war übel vor Aufregung, als ich, stotternd und voll wütender Beschämung über mein Stottern, sagte: "Du hast einen hirnlosen Produktioner gemalt... Ich kenne den Mann. Er hat nichts mit deinem finsteren Roboter zu tun..."
Heiners rührte in seiner Kaffeetasse, er schwieg, und durch sein Schweigen ermuntert, fuhr ich fort: "Ich kenne manche deiner Bilder von 1930. Ich kenne manche von 1960. Du hast den Leuten andere Kleider gegeben, aber du hast ihnen nicht ihr neues Gesicht gegeben. Weißt du, dass dein Modell studiert? Der Mann wird in zwei Jahren Bergbauingenieur sein. Weißt du, dass achtzig Prozent der Leute auf unserer Baustelle einen Lehrgang besuchen oder Fernstudium machen?"
...
"Du hast die letzten Jahrzehnte einfach nicht zur Kenntnis genommen. Zum Teufel mit der Romantik der schwieligen Faust! In zwanzig Jahren sind unsere Betriebe automatisiert, die Arbeiter bedienen komplizierte Maschinen, sie werden Ingenieure sein, ihre Kinder studieren, ihre Enkel besiedeln fremde Planeten... Deine Klasse ist dir über den Kopf gewachsen... Was weißt du schon von der Basis, wenn du sie vom Auto des Parteisekretärs aus besichtigst?"

aus: Brigitte Reimann, Die Geschwister, Aufbau-Verlag Berlin, 1962

Stopp! Da fällt mir Makra ein, ein ungarischer Roman. Der allerdings ist ehrlich! Dort sind echte Arbeiter gezeichnet, ohne im Gegenzug die Künstler zu idealisieren. Ein Buch voller Sensibilität und Einfühlungsvermögen in beide Seiten und dabei brutal an der Realität.

Ákos Kertész, Das verschenkte Leben des Ferenc MakraSpäter allerdings ereignete sich etwas, was Makra Valis Wahrheit näher brachte, näher, als Valis heftige oder kluge Argumente es vermochten. Er fragte sich, wie es wohl wäre, wenn er einmal, sein fachliches Wissen nutzend, versuchen würde, einen menschlichen Kopf aus Blech zu formen. Warum auch nicht? Er hatte von Vali und Salgó bereits genug über moderne Kunst gehört, um zu wissen, welchen Plunder heutzutage die Künstler verwendeten: Schnürsenkel, Konservendosen, Bruchbänder und weiß der Teufel was noch; sie experimentierten mit allem möglichen und unmöglichen Material, doch das nächstliegende, das Blech, aus dem der Karosserieschlosser Stromlinienautos wölbte, aus dem der Kunstschlosser, angefangen von der Rose und dem Weinblatt über das Wappen bis zum stilisierten geometrischen Gebäudeschmuck, alles heraushämmerte - das Blech existierte für die Bildhauer nicht... Die Vorstellung versetzte ihn geradezu in Begeisterung, das war doch endlich einmal was, wozu auch er eine Beziehung hatte, eine bessere als zum Papier, zur Kohle, zur Farbe. Nach der Arbeit blieb er noch ein, zwei Stunden in der leeren Werkstatt; aus anderthalb Millimeter starkem Eisenblech bauchte er die Teile aus, dann passte er sie sorgfältig aneinander, damit er sie möglichst ohne Schweißstab, aus dem eigenen Material in feiner, dünner Naht ineinanderfließen lassen konnte. Doch wegen der knapp bemessenen Zeit (jemand könnte ihn dabei ertappen) arbeitete Makra überstürzt; zwischen den Blechen klafften stellenweise hässliche Lücken, und so musste er die Legierung ziemlich dick auftragen, um die Lücken zu füllen. Dabei stellte sich heraus, dass die dicke Naht auf recht originelle Weise den Charakter des Kopfes hervorhob. Makra fand Gefallen daran, und am nächsten Tag füllte er auch die anderen Nähte dick auf, doch die Hitze verzog das Blech, deformierte den Kopf, und als Makra mit der Arbeit fertig war, erkannte er ihn kaum wieder. Das verdross ihn zwar ein wenig, aber dann sagte er sich, auch kein Beinbruch, da biege ich ihn eben das nächste Mal wieder hin, und er warf den Kopf in den Werkzeugschrank hinter die Kloben und Ansatzstücke. Als ihm das Ding dann anderthalb Wochen später wieder unter die Finger kam, fiel er fast aufs Kreuz: Der Kopf war trotz seiner verzerrten Proportionen zum Leben erwacht, ja er hatte gerade durch sie einen markanten und bitteren, einen schmerzhaft verschwiegenen Ausdruck angenommen. Makra wickelte ihn in Zeitungspapier, und als eines Tages ein Pförtner Dienst tat, den er kannte (und der in ihm einen Kumpel sah, weil Makra, wenn er in irgendeiner Stampe in der Umgebung auf ihn stieß, ihm stets ein, zwei Gespritzte spendierte, und der deshalb beide Augen zudrückte, wenn Makras Tasche abends mal nicht leer war), schmuggelte er die Plastik hinaus und lief damit zu Salgó.
...
"Ja, aber was gefällt dir denn daran", drang Salgó in ihn, "was ist es, wovor du dich fürchtest, was sagt dir der Kopf, so wie er ist, versuch das mal zu formulieren!" Makra ging mit hängenden Schultern im Atelier auf und ab und schwieg; er wusste nicht, was ihn ergriffen hatte, als der Kopf wieder zum Vorschein gekommen war, so hatte er ihn sich nicht vorgestellt, er hatte ihn angeschaut, als wäre es die Arbeit eines anderen, aber er gefiel ihm so. Salgó lächelte aufmunternd und wartete, aber Makra blieb stumm, verlegen versteckte er seine großen braunen Fäuste hinter dem Rücken. Salgó hatte inzwischen den eisernen Kopf auf einen leeren Modellierblock gestellt und drehte ihn auf der Scheibe langsam und aufmerksam um die eigene Achse, damit er Makras Werk besser betrachten konnte. Die Scheibe knarrte, und in der dummen Stille, die sich plötzlich ausbreitete, schnitt dieses Knarren Makra unerträglich ins Trommelfell. Die Nachmittagssonne fiel schräg durch das schmutzige Atelierfenster, und Salgó lächelte nur immerzu, geheimnisvoll wie ein Buddha, und malträtierte in einem fort die gesprungene Drehscheibe, und als schließlich auch der letzte klare Gedanke aus Makras Hirn gewichen war und er nur noch den Wunsch hatte, die Tür wieder von außen zuzumachen (wozu, zum Teufel, musste so ein Tölpel wie er auch den Künstler spielen, wo er nicht einmal in der Lage ist, die elementarsten Fragen zu beantworten), tat Salgó endlich den Mund auf.
"Wann gefällt dir etwas?"
"Wenn es gut ist", brummte Makra.
"Und denkst du nicht darüber nach, warum etwas gut ist?" Makra gab keine Antwort. "Das brauchst du auch nicht", fuhr Salgó fort. "Das ist nicht unsere Aufgabe. Entweder es gefällt, oder es gefällt nicht, das ist alles. Und weißt du, warum du meinen Ratschlag nicht befolgt hast? Weil es die Form weicher machen, sie verfeinern würde. Aber das Eckige, Rohe, diese unruhige Linie, wie sich hier auf der linken Seite alles ineinander verschiebt, die konzentrierte Starrheit der Augen, die schiefe Nase, der heruntergerutschte Backenknochen, siehst du, hier, der das Gesicht trotzig und zugleich traurig macht, darin artikulierst du dich, das ist deine Aussage." Was das betreffe, entgegnete Makra, so habe er alles ganz anders geplant; es sei zufällig so geworden, denn das da habe die Hitze beim Schweißen verzogen, und wenn man schon von einer Aussage sprechen wolle, dann war das nicht die seine, sondern die des Schweißbrenners.

aus: Ákos Kertész, Das verschenkte Leben des Ferenc Makra, Verlag Volk und Welt, Berlin, 2. Auflage, 1976

Ákos Kertész' Buch ist zugegebenermaßen acht Jahre jünger als Brigitte Reimanns Geschwister. Bei uns fing die literarische Öffnung noch ein paar Jahre später an, da wurden die Gestalten endlich realistischer, doch selbst dann noch erklang, wie selbstverständlich, hier das Hohelied auf das System. Bei Kertész ist nicht mal das zu hören, Makra ist ein Abgesang auf das miefige Kleinbürgertum und die pseudorevolutionäre Künstlerelite gleichzeitig.

© Angela Nowicki, 26. Juni 2011

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