Samstag, 25. Juni 2011

Eindringlinge - eine Traumdeutung

Manche Träume sind ganz leicht zu deuten, wenn man sich beim Hineinschauen vorstellt, man blicke in die eigene Psyche. Auf einmal erschließt sich alles, als sähe man seinem Inneren beim Filmdreh zu.

Ich will versuchen, das an einem Beispieltraum zu verdeutlichen. Vorausschicken muss ich, dass meiner Erfahrung nach durchweg alle Träume auf der Subjektebene zu deuten sind. Auch wenn sie über äußere Tatsachen Aufschluss geben (Objektebene), sind die doch immer Ausdruck innerer Vorgänge.

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EINDRINGLINGE

Wir wohnen in der Stadt und der Wohnung, in der ich aufgewachsen bin. Es ist Abend oder Nacht, und mein Mann sitzt rittlings auf einem Stuhl, die Lehne vor sich, vor der Wohnungstür. Im Treppenhaus hören wir das Gestammel und Gekeife einer blödsinnigen alten Frau. Ich hoffe, dass sie bald wieder verschwindet, denn ihr aggressives Geschrei macht mir Angst. Jetzt steht sie direkt vor unserer Wohnungstür, die mit halbdurchsichtigen Gardinen verhängt ist, und hämmert Einlass. Auf einmal beugt sich mein Mann vor und beginnt, mit ihr zu reden. Ich denke: "Nein! Warum macht der das? Wir wollten doch ganz still sein, damit sie denkt, es sei keiner da. Er soll die Alte wegjagen!" Doch anstatt sie wegzujagen, öffnet mein Mann die Tür sogar ein Stück! Jetzt bekomme ich richtige Angst, ich sehe sie schon hereinkommen, ich will die nicht hier haben, sie soll verschwinden!

Ich erblicke zwei Menschen im düsteren Vorsaal. Die Atmosphäre wird immer unheimlicher. Ist das mein Mann oder die Alte? Herausfordernd rufe ich: "He, wer ist da?"
"Wir sind die zwei Kumpels, die dein Mann bei seinem Studium in London kennen gelernt hat", antwortet es mir. Da geht das Licht an, und vor mir stehen ein Weißer und ein Schwarzer. Ich erkenne die Männer, mit denen hatte ich früher schon zu tun. Besonders fällt mir der Schwarze auf, er trägt eine rote Jacke. Der Weiße hinterlässt nur einen verwaschenen Eindruck, aber beide sind freundlich und mir sympathisch, obwohl ich nicht mit Gästen gerechnet habe.

Mein Mann führt sie ins Wohnzimmer, wo ich gerade mit unserer Tochter am Tisch gesessen und geschrieben oder gelernt habe. Die Wohnung ist sehr unordentlich, überall liegen Sachen herum, nur auf dem Sofa an der Wand finden die beiden einen Sitzplatz. Ich entschuldige mich, schnappe mein Schreibzeug und bringe es ins Arbeitszimmer, um Platz für die Gäste am Tisch zu schaffen. Ich kann mein Schreibzeug jetzt nicht richtig wegräumen, sehe mich unentschlossen um und schmeiße es kurzerhand auf mein Bett. Dabei überlege ich, dass ich den Gästen ja wohl auch noch ein Bett frei machen und herrichten muss.

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DEUTUNG

Die "Stadt und Wohnung, in der aufgewachsen bin", verlegen den Ursprung des Traums in die Kindheit und Jugend, das heißt, die hier auftauchenden Erfahrungen und Ängste haben wahrscheinlich in jener Zeit ihre Wurzeln. Die Tageszeit wiederum sagt uns, dass es hier um unbewusste Inhalte geht, denn die Nacht steht für das Unbewusste, der Abend für den Übergang vom Wachbewusstsein zum Traum oder Unbewussten.

Wir blicken in ein belebtes Wohnzimmer und von dort nach draußen durch den halbdunklen Flur auf die Wohnungstür. Hinter der Tür wissen wir das finstere Treppenhaus. Das Traum-Ich, das das bewusste Ich repräsentiert, steht im Wohnzimmer. Hier ist es hell, hier ist also der Raum des Ich-Bewusstseins. Der Gegenort, das dunkle Treppenhaus, ist der Raum des Unbewussten, abgegrenzt vom Bewusstsein durch die Wohnungstür. Dazwischen liegt das Halbdunkel des Vorbewussten. Alles, was bewusst werden will, dringt aus dem Unbewussten durchs Vorbewusste ins Bewusstsein ein - Gäste und Eindringlinge dringen aus dem Treppenhaus durch die Wohnungstür und den Flur ins Wohnzimmer ein.

An der Grenze zum Unbewussten sitzt der Hüter der Schwelle. Er sitzt rittlings auf einem Stuhl gleich einem Wachposten, die Lehne vor sich wie ein Schutzschild. Tatsächlich will nun ein unbewusster Inhalt eindringen, der vom Ich als "blödsinnige Alte" identifiziert wird. Sie krakeelt und stammelt, sie wirkt äußerst primitiv, das genaue Gegenteil der kultivierten, "studierenden" Ratio. Was ist das? Das Verrückte ist immer ein Teil des Selbst, der nicht in die Persönlichkeit integriert, womöglich verdrängt und daher außer Kontrolle geraten ist. Das muss gar kein wirklich idiotischer Anteil sein, das kommt dem Ich nur so vor, weil es ihn nicht kontrollieren kann und weil dieser Anteil in seiner Ausgrenzung vernachlässigt und verwildert ist. Jetzt begehrt er aggressiv Einlass, er will bewusst werden, aber das Ich hat Angst vor ihm, es ekelt sich, es gruselt sich vor dem Unbekannten und verlangt von seinem Wächter, der solle ihn gefälligst "zurückverdrängen". Das Geschrei der Idiotin ist ein verzweifelter Versuch des Verdrängten, sich Gehör zu verschaffen.

Unerwartet verweigert der Wächter dem Ich den Gehorsam. Er wendet sich dem aufrückenden Verdrängten zu, nimmt zu ihm Beziehung auf und öffnet ihm schließlich sogar die Tür. Hier könnte man vermuten, dass im Hüter der Schwelle das integrierende Selbst am Werk ist, im Human Design System verkörpert durch den Magnetischen Monopol. Diese innere Führung erscheint im realen Leben in Gestalt von Begegnungen, Ereignissen und Zufällen.

Und jetzt geschieht etwas Unerwartetes, fast eine Art Twist: Was da aus dem Unbewussten eindringt, ist gar keine verblödete Alte, sondern sind zwei sympathische männliche Gestalten. Wo ist die Alte hin? Dazu schweigt sich der Traum aus. Es ist jedoch sicher nicht ganz abwegig anzunehmen, dass sie und die beiden Männer identisch sind, wie die meisten Nachtmahre im Tageslicht ihr Grauen verlieren. Durch ihre Aussage, sie seien Studienkollegen aus London, informieren sie das von Angst geschüttelte Ich sofort, dass sie ihm freundlich gesinnt sind. Es sind hier ganz offenbar hilfreiche Persönlichkeitsanteile bewusst geworden, die allerdings in einer Dualität auftreten.

Hinweis: Spätestens, wenn in einem Traum konkrete Orte, Namen oder Personen auftreten, greift die allgemein gültige Symbolik gar nicht mehr. Dann muss der Träumer selbst erforschen, was er mit damit assoziiert. Das trifft in diesem Traum vor allem auf "London" zu. In geringerem Maße kann das aber alle konkreten Symbole betreffen, hier z.B. die Dualität "Weißer" vs. "Schwarzer". Dieses Symbolpaar kann so viele verschiedene Inhalte und Einstellungen ausdrücken, dass man zu einer seriösen Deutung unbedingt die Information braucht, was es beim Träumer auslöst, was er dabei empfindet. Fakt ist jedenfalls: Ihm ist ein hilfreicher, aber dualer Persönlichkeitsanteil bewusst geworden, dessen "heller" Teil ihn nicht großartig zu berühren scheint, während der "dunkle" Teil ihn fasziniert. In Verbindung mit der roten Jacke könnte es sich dabei um einen abenteuerlustigen und leidenschaftlichen Teil handeln, dann wäre es eine duale emotionale Kraft, die hier aufgestiegen ist (z.B. emotionale Zurückhaltung vs. gelebte Leidenschaft), oder auch die Polarität Vernunft vs. Emotionen. Aber ich will nicht spekulieren; spätestens hier muss der Träumer selber ran.

Das Weitere ist klarer: Das Wohnzimmer ist ein individuell geprägter Innenraum, der der Geselligkeit und Kommunikation offen steht. Auch der Tisch ist in diesem Fall ein Symbol für Kommunikation, die jedoch vorläufig blockiert ist, weil der Träumer in seine eigenen geistigen Konzepte vertieft ist. Der seelische Innenraum präsentiert sich zwar behaglich, aber völlig chaotisch. Das weist auf eine innere "Arbeitssituation" hin, eine "geistige Belegung", die keinen Platz für die Auseinandersetzung mit Neuem lässt.

Der Traum legt dem Träumer nun ans Herz, er möge recht bald seine Gedanken ordnen, um sich mit notwendigen neuen Inhalten auseinandersetzen zu können. Er soll "reinen Tisch" machen. Ganz scheint das noch nicht möglich zu sein, denn zum gründlichen Aufräumen bleibt zunächst keine Zeit, das Chaos wird vorerst nur ausgelagert. Dem sei so.

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Der Twist lässt mich allerdings nicht los. Wer Ideen dazu hat, was mit der blödsinnigen Alten passiert sein könnte, kann sie mir gern schreiben!

© Angela Nowicki, 24. Juni 2011

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