Dienstag, 28. Januar 2014

Clara


Da war ich. Irrte über die britische Steilküste. Spürte den kurzen Rasen unter meinen nackten Füßen. Bis das Kind erschien.
Vorher sah ich mehrere Bilder. Das erste war ein Glaskrug mit ganz klarem Wasser darin. Ich trank davon, wusch mir damit Hände und Arme, Gesicht und Augen, schüttete es mir über den Kopf. Am Körper fühlte sich das Wasser leicht ölig an.
Später sah ich eine Gestalt im schwarzen Umhang, die von einem Maibaum herunterrutschte. Der Maibaum blieb, die Gestalt verschwand.

Das Kind war heute ein kleines bisschen größer und dünner, sein Haar nicht mehr ganz so verfilzt, dafür länger, und es war deutlich sanfter.
„Natürlich, es geht weiter. Gut, dass du gekommen bist‟, begrüßte es mich. „Da machen wir doch zuerst mal ein Lagerfeuer.‟
Mit groben Holzscheiten entzündete es ein kleines Feuer auf der Klippe über der Irischen See, und dann fragte es mich, wo Lukas sei.
„Ich weiß nicht, er ist einfach nicht aufgetaucht. Ich habe ihn aber auch nicht gerufen, weil ich dachte, wir brauchen ihn nicht.‟
„Doch, dein Pferd sollten wir schon dabei haben‟, entgegnete das Männchen.
Ich wollte loslaufen, um Lukas zu suchen, doch der Kleine meinte, es sei sinnvoller, hier am Lagerfeuer zu bleiben und ihn zu rufen, so werde er uns am leichtesten finden.

Während wir auf Lukas warteten, fragte ich das Kind, ob es uns bei der Wiederholung meiner Kindheit und Jugend denn gelingen werde, es zu befreien.
„Ich bin doch frei‟, erklärte es nachdrücklich. „Ich bin nicht dein Kind. Ich bin dein befreites Kind!‟
Dann erschien Lukas.
„Es ist besser, wenn du erst zu unserem alten Treffpunkt in der Steppe kommst und mich dort rufst und suchst‟, sagte er sanft zu mir und nahm am Feuer Platz.
Ich umarmte ihn zärtlich, und Lukas sagte: „Du bist am Ende deiner Transformation angekommen. Bald wirst du mich nicht mehr brauchen.‟

Das Kind zog einen großen goldenen Kreis um mich und meinen Maibaum, an dem viele bunte Bänder flatterten. Im daran anstoßenden Kreis erwartete ich meinen Urgroßvater Alwin, doch dann stand dort eine ältere Frau, und das war meine Urgroßmutter Clara.
Zunächst einmal bat ich die geistige Welt um Beistand, dann begrüßte ich Clara und erklärte ihr, dass ich für die Erfahrungen dankbar sei, die ich mit ihren Lasten gemacht habe, dass es aber nicht meine Lasten seien und ich sie ihr jetzt zurückgebe. Ich wünschte ihr Segen auf ihrem weiteren Weg und sagte, ich gehe von nun an meinen.
Als Nächstes mussten die Lasten zurückgegeben werden. Längere Zeit fühlte ich genau, Stück für Stück in meinen Körper hinein. Ich spürte etwas in meinem gesamten Unterleib, in der linken Brust und in der Kehle. Vor mir erschien ein kleiner, vollgepackter Rucksack. Ich schob ihn bis zu Clara hinüber und sah dann zu, wie er ihr aufgeschultert wurde. Dann jedoch erschien hinter ihr eine große Gestalt, die ihr diesen Rucksack abnahm und damit fortging.
Nun ging es ans Hauptwerk: Verstrickungen suchen, lösen, auflösen und die Schnittstellen heilen. Ich suchte, und den Rest machte wieder das Kind mit seinem blauen Lichtschwert.
Mit Clara war ich wesentlich stärker verstrickt als mit August, meinem Ururgroßvater. Zuerst fand ich eine Nabelschnur, die von ihrer rechten Brust ausging. Die größte und stärkste aber ging von ihrer linken Brustwarze aus, und diese Brustwarze war völlig verunstaltet, eine große knotige Wucherung. Dort blieb nach der Abtrennung auch eine große offene Wunde zurück, für deren Heilung das blaue Licht sehr lange brauchte. Bei mir saßen die Verbindungen alle zwar in derselben Körperregion, aber nicht an genau derselben Stelle wie bei ihr.
Nachdem etliche einzelne Stricke zwischen uns erfolgreich entfernt worden waren, trat ich aus mir heraus und schaute uns beide von der Seite an. Da erst entdeckte ich ein regelrechtes Geflecht zwischen unseren Körpern, das sie eng aneinander band. Jetzt ging das Kind mit dem blauen Licht pauschal von der Seite an dieses Geflecht heran. Es durchtrennte sie einfach mit einem langsamen Schnitt durch die Mitte von oben nach unten und löste dann erst die Schnüre in ihrer Gesamtheit auf und heilte die Wunden.
Noch einmal sah ich mir das Ganze von außen an. Und wieder waren wir miteinander verflochten, jetzt allerdings schon mit viel feineren Fäden und nicht so vielen. Noch einmal wiederholte das Kind die Ablösungsprozedur, und erst dann waren wir endgültig getrennt, und ich konnte keine Verbindungen mehr finden.

„Wasser‟, sagte das Kind nach kurzer Überlegung. „Clara gehört ins Wasser.‟
Wir legten ihren leblosen Körper auf eine große Plane und trugen ihn zum Strand hinunter. Dort übergaben wir ihn dem Meer, wo er sich vor unseren Augen in recht kurzer Zeit rückstandslos auflöste.
„Geh in Frieden!‟ rief ich ihr hinterher.



Natürlich musste auch ich jetzt ins Wasser. Ich lief weit hinein ins Meer und tauchte und schwamm und spritzte und wurde immer übermütiger, bis das Kind mich ans Ufer rufen musste, sonst würde ich wohl jetzt noch schwimmen.
Als ich herauskam, trug das Kind auf einmal einen leuchtend roten Flanellschlafanzug mit lauter bunten Bildern drauf. Es führte mich zu dem knorrigen Baum, und auch ich bekam einen solchen Schlafanzug, in dem ich sofort wieder zum Kind wurde. Ich tanzte mit dem Kobold, wir tollten und lachten wie die Wilden und vergaßen die Zeit dabei, bis wir erschöpft und immer noch lachend neben dem Lagerfeuer niedersanken.
 

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