Samstag, 14. September 2013

Lost Paradise


In Borstendorf im Erzgebirge steht eine verfallende Papierfabrik. Sie wurde 1881 von Friedrich Otto Siegel, Prokurist einer Chemnitzer Maschinenbaufirma, und Carl Friedrich Haase, einem gelernten Zimmermann, gegründet. 1932 wurde sie vor dem drohenden Konkurs als Papierfabriken Grünhainichen GmbH von einer Auffanggesellschaft übernommen, die allerdings - als Teil einiger schlauer Winkelzüge des Unternehmensberaters Georg Jahn - vor allem von der Familie Haase selbst finanziert worden war, so dass beide Familien weiterhin einen Großteil der Anteile hielten und an der Geschäftsführung beteiligt waren. Am 30. Juni 1946 wurden die Besitzer durch Volksentscheid enteignet. Sie hatten sich auf dem Fabrikhof eine traumhafte Park- und Villenanlage erbaut, die nach der Enteignung an Familien der Fabrikarbeiter vermietet wurde.

Die Herren Kapitalisten im Garten vor der Veranda

Das große Wohnhaus, Fabrikweg 1, beherbergte fünf Familien, der kleinere Anbau daneben drei. Auf dem Fabrikhof gab es noch zwei weitere Wohnhäuser, alle in einer jugendstilartigen Architektur erbaut wie die Fabrik selber, in denen nochmals insgesamt fünf Familien wohnten. Zur rechten Wohnung im ersten Stockwerk des erstgenannten Wohnhauses gehörte auf der Rückseite des Hauses ein geräumiger ebenerdiger Garten. Das Haus liegt nämlich an einem Hang, so dass Räume im Erdgeschoss nur an der Vorderseite zum Fabrikhof hin gebaut werden konnten, während die drei Wohnungen im ersten Stock zur Rückseite hin parterre liegen.

Gleiche Ansicht wie oben - heute


Vom Garten aus führten nach links eine kleine Ziegeltreppe und ein abschüssiger Weg zu einer von Hainbuchenhecken eingefasste Wiese mit einer hohen Fichte hinunter - dem Wäscheplan. Zwischen Garten und Wäscheplan lag ein ovales Rosenbeet, das gehörte der Gärtnerei, die sich mit ihren Gewächshäusern links von der Wiese hinzog. Weiter führte der Weg zu einem Teich, hinter dem, versteckt im dichten Haselgebüsch, mehrere Keller in den Felsen gehauen waren.

Überreste der Ziegeltreppe


Was vom Rosenbeet blieb...




Derselbe Weg führte hinter Wäscheplan und Garten wieder zurück zur Rückseite des kleineren Hauses. Es war ein schmaler Weg, der auf einer Natursteinmauer zwischen Hainbuchenhecken verlief und in dessen Mitte ein Weg abzweigte, der einen steilen Berg zwischen weitläufigen Wiesen hinauf zur „Haase-Villa‟, dem schönsten der fünf Wohngebäude, führte, die wiederum direkt an der Hauptstraße von Borstendorf liegt. Diese Villa hatte zwei Eingänge und beherbergte drei Familien. Auf der riesigen Wiese zwischen Hauptstraße und Teich stand - und steht heute noch - direkt an der straßenseitigen Hecke ein verfallener hölzerner Pavillon.
Auf der anderen Seite der Villa hingegen zog sich am Steilhang zwischen Fabrikweg und Hauptstraße ein kleiner romantischer Naturpark dahin, ganz im Sinne von J.J. Rousseaus Neuer Heloise angelegt. Es gab einen kleinen Brunnen in einer Grotte, eine natürliche Terrasse, ein paar verschlungene Wege und bemooste Treppchen durchs ungezügelte Grün, alles eingefasst mit fantasievollen Geländern aus dünnen Baumstämmen - so schien es, doch der Schein trog: Diese Baumstämme wurden u.a. von meinem Großvater so kunstvoll aus Stahlbeton gefertigt!

Alle Wege und Plätze auf dem weiten Gelände waren mit feinem, weißen Kies ausgelegt, der regelmäßig geharkt und (per Hand!) von Unkraut frei gehalten wurde. Die Hainbuchenhecken wurden ebenso regelmäßig beschnitten, die Gärten genutzt und gepflegt, aber nie gestutzt. Neben der Rosenrabatte wuchsen mächtige Rhododendronsträucher und oben im Garten eine leuchtend orange blühende Azalee.
Aus der Wohnung, zu der dieser Garten gehörte, führte eine hölzerne, kunstvoll geschnitzte Veranda über ein paar Steinstufen in den Garten hinaus. Die beiden Hauswände, in die die Veranda hineingebaut war, schmückten verblichene Landschaftsfresken, und zwischen hüfthoher Holzwand und Dach zog meine Großmutter Bohnenranken, mitten zwischen den sich an Haus und Veranda entlang windenden blaublütigen Glyzinien. Das ist die Veranda, die auf dem Schwarz-Weiß-Foto oben zu sehen ist. Als meine Großeltern älter wurden, bauten sie und meine Tante sie zu einem gemauerten Anbau mit Badezimmer um.

Die anderen Bewohner der Anlage hatten anderswo ihre Gärten. Auch meinen Großeltern gehörte noch ein großer Pachtgarten mit Gartenlaube am Ende eines verwunschenen schmalen Wegs zwischen der Flöha und dem „Busch‟ genannten Waldstück kurz vor dem Wasserkraftwerk Floßmühle. In dieser Gemeinschaft gab es jedoch wenig bis keine privaten Grenzen; der Garten am Haus war für alle Nachbarn zugänglich, zumal der Zugang zum öffentlichen Wäscheplan hindurch verlief. Und den Kindern standen sowieso alle Türen und Räume offen.

Der Wäscheplan heute

Die Häuser selbst waren nicht minder edel eingerichtet: Kunstvolle Mosaikfliesen bedeckten die Böden der Hausflure, schmiedeeiserne, cremefarben lackierte Geländer rahmten die Treppenstufen ein, die ebenfalls aus filigranem Schmiedeeisen gefertig und mit hochwertigem Parkett bedeckt waren. Auch die Fußböden in Hausflur und Wohnungen waren mit Fischgrätenparkett ausgelegt, das wöchentlich gebohnert werden musste. Die Decken waren mit Stuck verziert. Die Hausfenster und Türverglasungen bestanden aus Buntglas und alle Türklinken aus weißem Porzellan mit eingearbeiteten bunten Streublümchen, eingefasst von kunstvoll getriebenem Messing.

Hausfenster vom Fabrikhof und Hausflur

Auf dem Dachboden roch es nach sonnengetrocknetem Holz, dort hatte mein Großvater seine Uhrenwerkstatt. Unter der Treppe zum Obergeschoss duckte sich ein Abstellraum, „Büdchen‟ genannt, und davon zweigte noch ein kurzer Flur zur Toilette ab, die Gemeinschaftstoilette für das ganze Stockwerk blieb, bis die Familien sich in den 1970ern eigene Toiletten und Bäder in die Wohnungen einbauen ließen. Bis dahin gab es auch nur einen gemeinsamen, aber herrschaftlichen Baderaum für das ganze Haus im Erdgeschoss, wo sich jeder zum wöchentlichen Badetag eintragen musste.

Alle Anlagen und Einrichtungen wurden fünfzig Jahre lang sorgsam geputzt und gepflegt. Es war eine reinliche, geordnete Wildnis. Es war ein Paradies für alle Kinder, die dort aufgewachsen sind, und auch noch für unsere Kinder. Für unsere Enkel ist dieses Paradies bereits verloren. Wir waren heute dort und haben das übrig gebliebene Elend fotografiert...

Verandatreppe                                                                                     Aus der Hecke sind Hainbuchen geworden

Eingang zum Garten = Durchgang zum Wäscheplan                                                                Die „Neue Heloise‟ im Taschenformat

In diesem Haus wohnte mein Kinderfreund,                                                                         Baumstämme aus Stahlbeton
den ich mit drei Jahren heiraten wollte
(ich hab ihn nicht geheiratet ;))

© Angela Nowicki, 14. August 2013

6 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Find ich schön, dass und wie du das dokumentiert hast :) Hätte fast geheult beim Anschauen der Bilder - wie verkommen das heute ist.. :( .. im wahrsten sinne ein "lost paradise".. wohnt denn heute jemand in der villa? ich weiß noch, dass ich in dem Garten das erste mal nen maulwurf live gesehen hab :)
Grüße, Marta

magaluisa hat gesagt…

Außer in "unserem" und im Nachbarhaus wohnen überall Leute. In unserem Haus und der Wohnung der Großeltern wurde, wie's aussieht, bereits Strom neu verlegt, das hat jemand gekauft und will es offensichtlich sanieren oder modernisieren.
Als in der Gartenwildnis gestern alle paar Schritte die Erde unter mir einsackte, musste ich auch an die Maulwürfe denken... ;D

magaluisa hat gesagt…

Die (die Maulwürfe) haben jetzt erst ihr Paradies. So unterschiedlich sind die Sichtweisen... ^^

Anonym hat gesagt…

Stimmt auch wieder :) fand die fallen immer grausam :(

Anonym hat gesagt…

Hallo! Danke für die schöne Erklärung und die Bilder! Wir wohnen im Nachbarhaus ( gegenüber wo sie wohnten )
Leider verfällt das Haus immer mehr! Zur Zeit wird hier die Strasse komplett gebaut. Der Mühlgraben ist schon nicht mehr da und wurde verfüllt! Wissen Sie noch was sich
hinter unserem Haus (Fabrikweg 2) im Garten für komische "Becken" befunden haben? Wenn man gräbt stösst man auf einzelne Becken massiv aus Klinker gemauert. Diese durchziehen den ganzen Garten oberhal der Mauer hinter unserem Haus. Gab es zu ihrer Kindheit noch die Bahndrehscheibe? Ich habe viele Bilder von jemand aus Berlin von ihrem Haus so um 1810 geschenkt bekommen. Darauf sind auch viele Bewohner zu sehen. Vielleicht ihr Geossvater? Die Gärtnerei der Teich das Geländer aus Stahlbeton... All das habe ich auf Bildern geschenkt bekommen, nur weiss ich nicht wer die Leute sind...

magaluisa hat gesagt…

Hallo, lieber Borstendorfer Gast!
Tut mir unendlich leid, dass ich so lange nicht in meinem Blog war, hoffentlich lesen Sie das noch.
Ihr Haus ist doch das, wo man früher drumrum gehen konnte, nicht? Das links neben dem Haus auf dem vorletzten Bild in meinem Artikel. Jetzt ist oben kein Durchgang mehr. Der Garten, den Sie meinen, liegt sicherlich oberhalb des Hauses, oder? Ich hab das jetzt gar nicht so richtig im (inneren) Blick.
Ich habe selbst ja nicht dort gewohnt, nur meine Großeltern und meine Tante, ich hab nur fast alle Schulferien dort verbracht. Wegen der Klinkerbecken werde ich mal meine Tante (89!) fragen, vielleicht weiß sie etwas.
Wenn ich Ihren Namen wüsste, würde ich einfach mal bei Ihnen klingeln, wenn wir den Fabrikhof wieder mal besuchen - ist ja nicht weit von Chemnitz.
Klar, die Bahndrehscheibe gab es - weiter hinten auf dem Fabrikgelände, nicht, wo es jetzt zu Bäringhaus und Hunger geht? In meiner Kindheit und Jugend konnte man dort überall langlaufen.
Die Bilder, die Sie haben, würden mich nämlich sehr interessieren!
Sie meinen aber bestimmt 1910, oder? 1810 gab es die Fabrik und die Villen ja noch gar nicht. Aber auch 1910 war mein Großvater noch ein kleiner Junge, und die Familie hatte mit der Fabrik noch nichts zu tun.
Vielleicht schreiben Sie mir ja einfach mal an siris@nowickipage.de. Ich würde mich freuen!