Samstag, 7. Juli 2012

Die reine Seligkeit des Sterbens

Der Weg gleicht einer Achterbahn: Schmale Gleise schießen steil auf und ab, nach rechts und links, winden sich in wilden Spiralen und Schleifen über Abgründen und scharf am Rand entlang, dann wieder unterbrochen von sanften, ebenen Biegungen, über die man gedankenverloren gleiten kann, um sich von den vergangenen Strapazen zu erholen. Das letzte Stück des Weges vorm Übergang führt hart und schnurgerade am Ufer entlang, um endlich schroff nach links in die Höhe zu schnellen und mitten über dem Übergang zum anderen Ufer plötzlich in schwindelnder Höhe abzubrechen.
Ich bin den Weg schon mehrmals gegangen, deshalb weiß ich, dass ich nicht noch einmal dreißig Meter senkrecht aufwärts klettern und von dort auf ein weiter führendes Gleis springen werde, weil man da oben hilflos in der Luft hängt. Zu gut erinnere ich mich noch an meine entsetzlichen Ängste, als ich zum ersten Mal hier hinüber musste.
"Nein", sage ich entschlossen zu Leo. "Ich geh da nicht lang. Ich nehme den Umweg."
Zum Glück erinnere ich mich nämlich ebenso gut daran, dass es einen anderen Weg gibt, der zwar länger ist, aber bequem und vor allem ungefährlich.
Leo scheint die Kletterpartie gar nichts auszumachen, er nimmt die Vertikale. Wieso scheint alles, was mir unmöglich ist, für andere ganz normal zu sein? Wieso springen andere aus dem dritten Stock, wenn ich schon beim Zusehen Todesängste ausstehe?
 
Auf der zweiten Hälfte des Weges fährt ein Bus bis zur Ufergeraden. Ich schaue angespannt aus dem Fenster. Die Busfahrt tut so wohl nach der endlosen Kletterei und Balanciererei - endlich sitzen, zurücklehnen und sich fahren lassen! Der Bus gleitet glatt und weich dahin. Ich könnte die Ruhe genießen wie alle anderen, aber ich bin angespannt, und jede Minute werde ich unruhiger. Ich fahre ja nicht zum ersten Mal mit dem Bus. Und ich weiß, dass am Ufer Endstation ist. Das letzte Stück des Weges müssen wir wieder laufen, um schließlich ganz allein und ohne Hilfe über die halsbrecherische Konstruktion des Übergangs zu klettern.
Der Übergang... Allein das Wort schnürt mir die Luft ab. Ich versuche alles, um es zu verdrängen, aber mein Gehirn braucht sich gar nicht zu erinnern - all meine Körperzellen erinnern sich an das blanke Grauen, unendlich hoch oben über dem Nichts an komplizierten, tückischen Stahlkonstruktionen zu hängen, die irgendwo im Nichts plötzlich zu Ende sind, und da ist nichts mehr, kein Halt, keine Sicherheit, keine Hoffnung - nur noch der letzte, todesverachtende Sprung in die Leere, unter der sich das andere Ufer vermuten lässt oder auch nicht.
Ich habe es schon einmal geschafft, wie, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur eins: Ich will das nie wieder erleben, und ich habe doch keine Wahl.
Als ich die Augen wieder öffne, gleitet der Bus weich und schnurgerade am Ufer entlang. Ich bin verwirrt.
"Wieso fahren wir noch? Die Endstation liegt doch schon hinter uns?"
Die anderen wissen es auch nicht. Sie wissen sogar noch weniger als ich, sie scheinen den Weg zum ersten Mal zu gehen. Ich erkläre ihnen, wie es normalerweise weitergehen müsste. Aber der Bus bleibt nicht stehen.
"Das wundert mich jetzt aber. Fährt er uns dieses Mal etwa direkt bis zum Übergang?"
Die anderen bekommen nun auch Angst, ich habe ihnen erzählt, was uns alle erwartet. Ich weiß nicht, wieso ich mich freue, bis zum Übergang gefahren zu werden. Hätten wir laufen müssen, hätte ich noch ein paar Stunden länger leben können. Andererseits - was für ein Leben wäre das gewesen?
 
Der Bus hält direkt am Übergang. Über uns türmen sich die höllischen Stahlkonstruktionen, verschwinden im Nebel. Der Busfahrer drückt einen Knopf, und das Busdach öffnet sich.
Dann kommen die riesigen Bagger. Aus dem Nebel über dem Nichts tauchen gewaltige Baggerschaufeln auf, eine nach der anderen, wie Gondeln an einem Riesenrad, und sie schaufeln einen nach dem anderen aus unserem Bus und tragen diese Menschen hoch in der Luft über den Abgrund.
Mir zerreißt das Herz. Jetzt ist es zu Ende. Die Menschen in den Baggergondeln tun mir unendlich leid.
"Keine Sorge!" Der Busfahrer spricht über ein Mikrofon zu uns Verbliebenen. "Es ist nicht schlimm, Sie brauchen keine Angst zu haben! Diese Leute leiden nicht, sie durchleben keine Qualen - im Gegenteil: Sie sind jetzt so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Schauen Sie doch, schauen Sie sich ihre Gesichter an: Diese Leute sind selig!"
Erst ungläubig und dann fassungslos starre ich nach oben. Er hat Recht! Aus jedem Gesicht, das aus einer dieser Schaufeln hervorschaut, strahlt ein überirdisches Glück. Die reine Seligkeit.
 
© Angela Nowicki, 07. Juli 2012

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